88. Modern und gut

Es scheint, als hätte die begeisterte Jury das Urteil der Vorjury zurückgenommen, Kurt Drawert:

„Moderner und besser kann man keine Lyrik schreiben.“

Das Darmstädter Echo berichtet:

Sascha Kokot klang ein wenig verzagt, als er aufs Podium der Centralstation stieg und seine Kollegen ansprach. „Liebe Katharina, lieber Lewin“, fragte er, „wie kann man nach Euch noch lesen?“ Lewin Westermann hatte am Samstagmorgen den Lesewettbewerb des Literarischen März mit sehr konzentrierten Gedichten eröffnet, die den Deutungseifer der ausgeschlafenen Jury ausgiebig beschäftigten. Und direkt vor Kokot hatte sich bei der Lesung von Katharina Schultens ein kleines Wunder ereignet. Ihr Vortrag glitt hell über die langen Texte, setzte zarte Widerhaken in den Rhythmus, verfiel ins Singen und vollzog die emotionalen Bewegungen nach, wenn etwa in dem Gedicht „Gewinnwarnung“ die Herde der Angestellten die Energie aus dem Herdendynamo gewinnt.

Denn Schultens Zyklus „Hysteresis“, für den die Autorin am Abend den Leonce-und-Lena-Preis erhielt, ist eine irritierende Zustandsbeschreibung aus der dunklen Welt globaler Geldgeschäfte. Die Autorin ist gar keine Expertin für derlei Fragen. „Ich interessiere mich für Begriffe aus unvertrauten Bereichen“, sagt sie, „für Begriffe, die banale Tätigkeiten mythologisieren.“ So ist es beispielsweise mit den „dark pools“ im letzten der Gedichte. Es sind anonyme Handelsplätze für Finanzprodukte, die keiner Kontrolle unterliegen. Für Schultens ist das eine unheimliche Vorstellung. In ihrem Zyklus findet sie überraschende Wege, die Entfremdung dieser Arbeitswelt zu zeigen. Sie lässt fremdgesteuerte Wesen um einen Rest an Menschlichkeit ringen, vergeblich: „wie er behauptete manchmal da müsse man / zwischen-d-durch ja auch noch mensch sein // antworte ich verspätet: sind wir aber nicht“.

Mit diesen Texten machte Katharina Schultens die Jury ganz ehrfürchtig. Sibylle Cramer schwärmte von der Vielfalt der Redeformen, in denen sich die Typisierung des „global player“ entwickele, und entdeckte Bilder des Satanischen in dieser Gegenwartsbeschreibung. Joachim Sartorius beschrieb, wie die Sprache von New Economy und Arbeitswelt in die Poesie hineingeholt wird, Kurt Drawert fasste die Begeisterung im Lob zusammen: „Moderner und besser kann man keine Lyrik schreiben.“

(…) Und es war, als habe die Auswahl ein Schaufenster lyrischer Möglichkeiten öffnen wollen. Unter den neun Kandidaten waren etliche, denen man einen Preis hätte geben können. Die Wolfgang-Weyrauch-Förderpreise von je 4000 Euro gingen dann an Uljana Wolf und Tobias Roth. Roth, der sich am Samstagnachmittag als letzter vorgestellt hatte, bezieht seine Texte auf Malerei. Das lyrische Ich erscheint als Kulturmensch, staunte Juror Jan Koneffke, während Ulrike Draesner insbesondere von der großartigen Beschreibung von Albrecht Altdorfers mittelalterlicher Darstellung der Alexanderschlacht angetan war, die dem Gemälde noch etwas hinzufüge.

Mit Uljana Wolf zeichnete die Jury eine experimentelle Lyrikerin aus, deren Arbeit sich erst in der Verbindung von Lesung und Schriftbild erschließt – die Texte sind gesetzt in lückenhafte Blöcke, enthalten Abkürzungen und Zeichnungen.

Über die Jury:

Insgesamt freilich war das intellektuelle Schaulaufen der Juroren häufiger als die tatsächliche Auseinandersetzung. Aber es ereignete sich auf so ansprechendem Niveau, dass die Unterhaltung gewährleistet war.

/ Johannes Breckner, Darmstädter Echo

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