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Seit Jahren gehört zu jedem Pausengeplauder beim open-mike-Wettbewerb die etwas abgewetzte Behauptung, dass die vorgetragene Lyrik der Prosa meilenweit vorauslaufe. Für die wie verlangsamt tastenden Metamorphosen in den Gedichten des Lyrik-Preisträgers Sebastian Unger, Jahrgang 1978, mochte das stimmen.
Vielleicht hat die immerzu allgemein erhobene Behauptung aber eher damit zu tun, dass die Dichter wirkungsvoller das Sprachmaterial der Gegenwart zu filetieren vermögen. Auf dem Wettbewerb war vielmals eine Art Dichterjargon zu hören, der seine Effekte zuvörderst daraus zieht, ein Vokabular freizulegen, das aktuell anmutet. Bisweilen konnte das naiv wirken. Wenn immer wieder in einzelnen Gedichten ‚Latte Machiavelli‘ geschlürft oder ‚mit dem arsch in richtung marktsegment‘ gebetet wurde, dann suggerierten diese Kalauer ihre Gegenwärtigkeit lediglich.
Haben also die Handwerksstücke der Shortstory-Schreiberinnen ihre Leichen im Keller, so ringt der Fachsprechwahn der jungen Lyriker manchmal recht mechanistisch um Leben. Das sahen Jury und Publikum ähnlich. ‚Machen Sie doch einfach mal, worauf Sie Lust haben!‘, rief Felicitas Hoppe, und alle applaudierten. / FLORIAN KESSLER, Süddeutsche Zeitung 8.11.
Hingegen erwies sich die Jury beim Lyrik-Preis als mutlos: Der am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studierende Sebastian Unger, Jahrgang 1978, schrieb über erdrückende Gefühle und Alltagsbeschreibungen – so häufig gehört, so langweilig.
Doch die Jurorin und Lyrikerin Kathrin Schmitt [!] überzeugte die beschriebene Melancholie Ungers als „vielfarbig schwarz“.
Lobend erwähnte die Jury immerhin sowohl die Lyrik-Beiträge von Charlotte Warsen und Tristan Marquardt als auch den Romanbeginn von Stefan Köglberger. …
Alles in allem war es ein starker Jahrgang. Die 250 Zuschauer haben unterschiedlich gute Texte gehört: Von epischen Landschaftsbeschreibungen (wie von Anja Kootz) über Operetten-Groteske des Selbstdarstellers Meter Mütze bis hin zu experimenteller Lyrik eines Tristan Marquardt reichte das Spektrum. / Angelo Algieri, Saarbrücker Zeitung 10.11.
Die Lyrik ging in diesem Jahr auffallend in die Breite. Statt Vers-Verdichtung wurden kreuz und quer schießende Assoziationsströme einer hyperreflexiven Empfindsamkeit geboten. Ein hoher Ernst ist am Werk, der Verständlichkeit als banausische Zumutung empfindet. Intermedial angeschlossen und auf der Höhe vielfältiger Diskurse, aber mit dem Rücken zum Publikum geschrieben wird diese neue Lyrik zum Dorfplatz für urbane Eremiten. „Dunkelfarbige Melancholie“ rühmte die Jury an den Gedichten des 1978 geborenen Sebastian Unger, der den Lyrikpreis erhielt. Seine Texte orientieren sich an der Bildlichkeit von Borges‘ „Phantastischer Zoologie“ und stellen das Leben still in Epiphanien von erhabener Müdigkeit. / Wolfgang Schneider, FAZ 8.11.
Mehr verdient hätte den Preis Tristan Marquardt, dessen fragmentarisch-holprige Wortkaskaden für begeisterten Applaus sorgten und der Jury immerhin ein Lob entlockten. Seine Gedichte zeichnen eine Stimmung des gedankenlosen Dahinlebens, das vom Zufall bestimmt scheint, und den Personen nichts weiter lässt, als verwunderte Blicke in die Welt zu werfen – in „das blaue whatever / dürfte der himmel sein“, wie es in seinem Gedicht „fehl am platz am fenster“ heißt. / Julia Kohl, Berliner Zeitung 7.11.
Besonders im Bereich der Lyrik gibt es vielversprechenden Nachwuchs, zum Beispiel Charlotte Warsen und Tristan Marquardt. / blogabsatz.de
Die Publikumsjury durfte sich ja nur einen Sieger aussuchen, und dabei hatten die Lyriker naturgemäß weniger Chancen, doch Tristan Marquardt hätte es fast geschafft, der erste Sieger zu werden, der von der taz-Jury ausgesucht worden wäre. Er riss mit seinem lebendigen Vortrag das Publikum und uns fünf mit, selbst die Autoren-Jury erwähnte ihn deswegen lobend. Tristan Marquardt ist der Dichter der Zehner-Jahre, er lebt seine Lyrik, er lebt seine Texte – ich hoffe und glaube auch, dass er bald viele Preise gewinnen wird. Und natürlich auch gelesen wird! / schmerzwach.blogspot.com
abgewetzte behauptung
dies ißt eine neue lyric
dies ißt die »alte laier«
wann immer in diesem
werk der verstandigkeit
kaputtschino geschlurft
oder mit dem arsch in richtung markt gewedelt
ringen diese wuppertaler mechanisch um atem
im fernsprechwahn 1 hohler ernst
erdruckende gefuhle &
mit dem rucken zum publikum
geschrieben am anger
in epiphanien vol von
erhabender mydigkeit
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was mir hier einmal mehr übel aufstößt, ist die ‚generationen- die
generatorfrage‘ !
wer entscheidet wann/das er/sie das podium den ‚jüngeren‘ räumt?
ist das vom alter abhänig (vom biolog., sozialen, kalendarischen?)
muss das den überhaupt sein? wozu müsste das sein?
(solln die doch alle poetryslamer werden!!!)
mir leuchtet ein, dass der markt und die verlage immer mal wieder
was neues brauchen und eben diesese neuerungen scheint demselben dichter
nicht mehr zugesprochen zu werden oder zugesprochen werden zu können
oder aber er/sie erfüllt diese anforderung nicht
(ihren style / ihre sprache zu ‚revolutionieren‘)
vielleicht braucht man aber auch nur immer mal wieder ein neues gesicht!?
an inhaltlichen anforderungen kann das wohl kaum liegen,
die nämlich – auch wenn sie „so häufig gehört, so langweilig.“ wandeln ihren
fokus oder auch nur die art ihrer beobachtung (dank erfahrung) nämlich mit
den jahren / und wenn sie auch ‚zeitreise‘ spielen!
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d’accord!
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Aber welches Profil pflegen die da, in der „hochmögenden Zeitung“ ? Wie erlaubt sich ausgerechnet eine Provinzzeitung solche Urteile? Ich kann mich an ein Totschreiben- es ging nicht um Lyrik- in diesem Presseorgan erinnern. Da wurde mit Dreck geschmissen, der Rezensent war der Lebensgefährte einer „Konkurrentin“ der besprochenen Künstlerin. Das zensierte Opfer hat sich damals zurückgezogen aus der Öffentlichkeit, wortlos, ein Talent ging verloren, eine anerkannte Person. Sie lebt noch, immerhin. Gut und auf einem anderen Feld kreativ. Kein Nachruf nötig. Hat denn der Rezensent die Texte des Open Mike – Lyrik – 2009 von Konstantin Ames überhaupt gelesen? Ist Ames nicht sogar aus dem Saarland? Sind das Dorfposssen? Den Zyklus von Levin Westermann – nicht aus dem Saarland- von 2010.scheint der Rezensent auch nicht zu kennen. Auch nicht die Wirksamkeit der beiden DIchter. Es gibt genug Veröffentlichungen, an denen er sich orientieren könnte. .Am Ende das Wichtigste: Die Texte von Sebastian Unger, Preisträger 2011 beim Open Mike, sind hochinteressant, weder häufig gehört noch langweilig, sie sind wunderschön, verquer, laden zum Denken ein, sind absolut nicht einschläfernd, sondern schräg verträumt und hochintelligent, und wer keine Lyrik mag, ja, der sollte die einfach nicht lesen.
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Es ist doch einfach niveaulos, jemandem den Preis beim open mike nicht zu gönnen und die Preiswürdigkeit abzusprechen – und auch gleich per Zeitung mit Dreck zu schmeißen! Das ist kein Journalismus, das ist so missgünstig und unsportlich wie verantwortungslos; handelt es sich doch um literarischen Nachwuchs und nicht um etablierte Autoren.
Mit Bezug auf die Jahrgänge 2009 und 2010 pauschal von „schwachen Jahrgängen“ zu sprechen bzw. zu schreiben, wie es der Mitarbeiter der hochmögenden „Saarbrücker Zeitung“ tut, zeugt auch nicht von Kompetenz – hingegen sehr vom unbedingten Willen zur Profilpflege.
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Es ist seltsam Jahrgänge nach Stärke zu sortieren und so zu tun, als wäre dies eine Aussage über Autoren. Denn soweit ich die Autoren kenne, reichen die gewohnheitsmäßig Jahr für Jahr ein. (Rechnerisch scheiden nur recht wenige aus, weil sie die Altersgrenze erreichen, andere haben den Preis bereits gewonnen oder anderweitig publiziert, was so argumentiert ja immer den Folgejahrgang schwächen müsste und nicht stärken.) Solange da nicht plötzlich ein Haufen begabter 19-Jähriger sitzt, drückt eine solche Wertung nichts weiter aus, als die Zufriedenheit des Rezensenten mit der Jury. Das ist Meinungsjournalismus im Kleide der Berichterstattung.
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spracharbeit und arbeit mit sprache: verschaltungen und fachsprachliche ansätze
ellipsen / von paragraphensprache bis paragrammatikalischer sprache / reime
metrisch einwandfreie verse / barocksprache / alltagssprache / soziolekt / strophen
programmiersprache und sprachprogrammierung,
sind alles methoden und in diesem sinne mechanismen, die erlernbar sind. mimikry!
„erdrückende Gefühle und Alltagsbeschreibungen – so häufig gehört, so langweilig.“
(siehe oben)
stehen dem -in jedweder individuellen und/oder situationsabhänigen variationen-
in nichts nach (werden sie dann noch verzwischenmenschlicht oder kommuniziert)!
innovationen wird es immer auf beiden feldern geben, weil beide lebendig sind.
beide machen schließlich nur miteinander sinn.
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