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Veröffentlicht am 27. November 2010 von lyrikzeitung
Mein Lieblingsgedicht als Jugendlicher war The Rime of the Ancient Mariner. Der Dichter Samuel Coleridge hatte nie einen Albatros erblickt, als er dieses Langgedicht über die Ermordung eines Albatros und deren tragische Folgen verfasste, und ich damals auch nicht, aber ihm diente der Vogel mit der größten aller Spannweiten als Metapher, und mir leuchtete diese unmittelbar ein. Unvergesslich, wie der Seemann, der das heilige Tier getötet hat, gezwungen wird, dessen Kadaver um den Hals zu tragen. Als wäre dies das wahre Kreuz des Menschen. Umgeben von majestätisch über uns schwebenden Albatrossen kam mir dieses Gedicht in den Sinn, und es erschien mir als Folie für eine gegenwärtige Geschichte geeignet: „The spirit who bideth by himself / In the land of mist and snow, / He loved the bird that loved the man / Who shot him with his bow.“ Meine Geschichte war aufgehoben in einem Gedicht, das mich seit der Pubertät beschäftigt hat. Vielleicht hat Literatur keinen wichtigeren Antrieb, als die Leidenschaften der Kindheit nachzuholen. / Ilija Trojanow, DER STANDARD/ALBUM – Printausgabe, 27./28.11.
Kategorie: Österreich, Deutsch, Englisch, Französisch, GroßbritannienSchlagworte: Charles Baudelaire, Friedrich Nietzsche, Ilija Trojanow, Samuel Taylor Coleridge, Stefan George
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Baudelaire verwendet wie meist (französische) Alexandriner. Da die im Deutschen steif und altmodisch wirken, bringt George sie in fünfhebige Jamben. Kennt jemand eine Baudelaireübersetzung, die sein Metrum nachbaut?
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Baudelaires Gedicht in Georges Deutsch:
DER ALBATROS
Oft kommt es dass das schiffsvolk zum vergnügen
Die albatros · die grossen vögel · fängt
Die sorglos folgen wenn auf seinen zügen
Das schiff sich durch die schlimmen klippen zwängt.
Kaum sind sie unten auf des deckes gängen
Als sie · die herrn im azur · ungeschickt
Die grossen weissen flügel traurig hängen
Und an der seite schleifen wie geknickt.
Er sonst so flink ist nun der matte steife.
Der lüfte könig duldet spott und schmach:
Der eine neckt ihn mit der tabakspfeife ·
Ein andrer ahmt den flug des armen nach.
Der dichter ist wie jener fürst der wolke ·
Er haust im sturm · er lacht dem bogenstrang.
Doch hindern drunten zwischen frechem volke
Die riesenhaften flügel ihn am gang.
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Nietzsche:
Liebeserklärung
(bei der aber der Dichter in eine Grube fiel)
Oh Wunder! Fliegt er noch?
Er steigt empor, und seine Flügel ruhn?
Was hebt und trägt ihn doch?
Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun?
Gleich Stern und Ewigkeit
Lebt er in Höhn jetzt, die das
Leben flieht, Mitleidig selbst dem Neid -:
Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht!
Oh Vogel Albatross!
Zur Höhe treibt’s mit ew’gem Triebe mich.
Ich dachte dein: da floss
Mir Thrän‘ um Thräne, – ja, ich liebe dich!
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Pingback: 118. Kommentare « Lyrikzeitung & Poetry News
wie anders dann baudelaire die albatros-allegorie gestaltet …
L’albatros
Souvent, pour s’amuser, les hommes d’équipage
Prennent des albatros, vastes oiseaux des mers,
Qui suivent, indolents compagnons de voyage,
Le navire glissant sur les gouffres amers.
A peine les ont-ils déposés sur les planches,
Que ces rois de l’azur, maladroits et honteux,
Laissent piteusement leurs grandes ailes blanches
Comme des avirons traîner à côté d’eux.
Ce voyageur ailé, comme il est gauche et veule !
Lui, naguère si beau, qu’il est comique et laid !
L’un agace son bec avec un brûle-gueule,
L’autre mime, en boitant, l’infirme qui volait !
Le Poète est semblable au prince des nuées
Qui hante la tempête et se rit de l’archer
Exilé sur le sol au milieu des huées,
Ses ailes de géant l’empêchent de marcher.
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