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Fortsetzungsessay von Theo Breuer
Was soll ein Vers, der keine Zumutung ist? fragt Christoph Meckel noch einmal, während ich mich in Katrin Marie Mertens Salinenland aufhalte. Beseelt von Friederike Mayröcker (dieses lichtblaue Paradies im offenen Fenster) und Gerard Manley Hopkins (Sweet fire the sire of muse), deren neue Gedichtbücher mich in diesen Tagen dermaßen berauschen, daß ich phasenweise wie von Sinnen bin und die Gedichte lese, bis die Wörter wie die vielfarbigen Blätter draußen zu wirbeln beginnen, denke ich: Was wäre Odysseus ohne die Begegnung mit Scylla und Charybdis, die ihn trotz eigentlich ungleichen Kampfes vergeblich aufzureiben versuchen? Er wäre nicht der Odysseus, der, so lange Menschen die Erde beleben, unsterblich bleiben wird.
Nun kann weder Katrin Marie Merten Odysseus sein, noch halten Mayröcker und Hopkins einen Vergleich mit den beiden ungeheuren Ungeheuern stand. Und doch setzt sich der Vergleich hartnäckig fest, und ich riskiere, weiterschreibend, grandios mit den folgenden Worten zu scheitern. Katrin Merten gerät zum falschen Zeitpunkt ins Hinterland. Der ungereimte Härtetest, zwischen Mayröcker und Hopkins zu bestehen, kann nicht zu ihren Gunsten ausgehen, dafür ist sie noch nicht listen- und fintenreich genug – was auch niemand erwarten wird, oder doch? Es kann keinen Bonus für junge oder alte Autoren oder solche in der midlife crisis geben. Wer ein Buch mit Gedichten veröffentlicht, muß sich fragen lassen, ob das Ergebnis die eingesetzten ideellen und materiellen Energien rechtfertigt.
Jedenfalls: Gleich der erste Vers mit dem einfach formulierten Bild Meine Hände sind der Anfang von mir, / dahinter lebe ich […] springt mich an, überrascht mich. Wörter wie lichtarm, kriechen, Körperhöhle, Häute, Grenzland, streunen, Sperrgebiet, ungefragt, pendeln, Aufbruch klammern mich bis zum pointierten Ende an die lakonisch verfaßten Verse. So segle ich unbekümmert hinein ins Salinenland und lese die weiteren zehn Gedichte des ersten Kapitels mit dem Schwung, den ich mit dem ersten Gedicht aufnehme, stoße laufend auf treffende Wörter, geschickt gesetzte Alliterationen, Antithesen, Binnen- und Klammerreime (sehr schön, beispielsweise, wie in Wenn einer geht das Verb geht im ersten Vers mit dem Verb steht ganz am Ende korrespondiert: ein schlichter, wegen der echten, nicht künstlich herbeigeführten Zusammengehörigkeit der Wörter gelungener Reim, der das Gedicht formal gleichsam befestigt, sichert, stützt), erkenne die sehr bewußt gewählte Kargheit dieser an der Oberfläche schlichten, in der Tiefenstruktur als schicksalhaft wahrnehmbaren Miniaturen.
Weil Städte nie schlafen (auch die nicht,
in der ich lebe), geben die Straßen
nicht Ruhe: Immer das Rollen von Reifen,
das Holpern von Bahnen in Schienen,
das Stürzen, das Schreien, das Lachen
von Menschen, ein Flugzeug
dicht über dem Dach. Und immer
der Einschlag von Licht auf den Lidern,
der Eintritt in tiefere Räume verhindert,
hier ist es niemals finster, nicht still.
Meine Leseempfindungen kühlen mit Beginn des zweiten Kapitels ab, ich sehe die formal und tonal sehr ähnlich arrangierten Gedichte nicht mehr ganz auf der Höhe der schwingenden Verse des ersten Kapitels, Wörter und Ideen beginnen sich zu wiederholen. Es regt sich nichts mehr beim Lesen, und was ich zuvor als schlicht-schön empfand, beginnt mich zu ermüden, ich denke plötzlich Wörter wie ‚belanglos’, ‚beliebig’ und ‚simpel’, hoffe auf das nächste Gedicht – Der Wind wischt dir gleich einem Tuch / das Gesicht setzt es ein, eine Zumutung denke ich, aber nicht ganz im Meckelschen Sinne, und spätestens jetzt beginne ich mich nach Friederike Mayröckers auf und ab der brausende rauschende orgelnde flügelschlagende wind und Gerard M. Hopkins’ wiry and white-fiery and whirlwind-swivellèd snow zu sehnen.
ganz schön viel Sand(ig) im Getriebe, vor allem auf S.9 (die komplette Struktur ähnelt hier m. E. dem Umgraben-Gedicht); siehe http://www.amazon.de/gp/reader/3869060794/ref=sib_dp_pt#reader-page;
werde es mir trotzdem holen; schließlich ist es Epigonentum auf hohem Niveau.
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