92. Lyrikstationen 2009 (3)

Fortsetzungsessay von Theo Breuer

Scylla und Charybdis –

Im Salinenland

Was soll ein Vers, der keine Zumu­tung ist? fragt Christoph Meckel noch einmal, wäh­rend ich mich in Katrin Marie Mertens Salinenland aufhalte. Beseelt von Friederike Mayrö­cker (dieses lichtblaue Paradies im offenen Fenster) und Gerard Manley Hop­kins (Sweet fire the sire of muse), deren neue Gedichtbücher mich in diesen Tagen der­maßen berauschen, daß ich phasenweise wie von Sinnen bin und die Gedichte lese, bis die Wörter wie die vielfarbigen Blätter draußen zu wirbeln be­ginnen, denke ich: Was wäre Odysseus ohne die Begegnung mit Scylla und Cha­rybdis, die ihn trotz eigentlich ungleichen Kampfes vergeblich aufzureiben versuch­en? Er wäre nicht der Odysseus, der, so lange Menschen die Erde beleben, un­sterblich bleiben wird.

Nun kann weder Katrin Marie Merten Odysseus sein, noch halten Mayröcker und Hopkins einen Vergleich mit den beiden ungeheuren Ungeheuern stand. Und doch setzt sich der Vergleich hartnäckig fest, und ich riskiere, weiterschreibend, grandios mit den folgenden Wor­ten zu scheitern. Katrin Merten gerät zum falschen Zeitpunkt ins Hinterland. Der ungereimte Härtetest, zwischen Mayröcker und Hopkins zu beste­hen, kann nicht zu ihren Gunsten ausgehen, dafür ist sie noch nicht listen- und fin­tenreich genug – was auch niemand erwarten wird, oder doch? Es kann keinen Bo­nus für junge oder alte Autoren oder solche in der midlife crisis geben. Wer ein Buch mit Gedichten veröffentlicht, muß sich fragen lassen, ob das Ergebnis die einge­setzten ideellen und materiellen Energien rechtfertigt.

Jedenfalls: Gleich der erste Vers mit dem einfach formulierten Bild Meine Hände sind der Anfang von mir, / dahinter lebe ich […] springt mich an, überrascht mich. Wörter wie lichtarm, kriechen, Körperhöhle, Häute, Grenzland, streunen, Sperrgebiet, unge­fragt, pendeln, Aufbruch klammern mich bis zum poin­tierten Ende an die lakonisch verfaßten Verse. So segle ich unbekümmert hinein ins Salinenland und lese die weiteren zehn Ge­dichte des ersten Kapitels mit dem Schwung, den ich mit dem ers­ten Gedicht auf­nehme, stoße laufend auf treffende Wörter, geschickt ge­setzte Allite­rationen, Anti­thesen, Binnen- und Klammerreime (sehr schön, bei­spielsweise, wie in Wenn einer geht das Verb geht im ersten Vers mit dem Verb steht ganz am Ende korres­pondiert: ein schlichter, wegen der echten, nicht künstlich her­beigeführten Zu­sam­mengehörig­keit der Wörter gelungener Reim, der das Gedicht formal gleichsam be­festigt, sichert, stützt), erkenne die sehr bewußt ge­wählte Karg­heit dieser an der Oberfläche schlichten, in der Tiefenstruktur als schick­salhaft wahr­nehmbaren Minia­turen.

Weil Städte nie schlafen (auch die nicht,
in der ich lebe), geben die Straßen
nicht Ruhe: Immer das Rollen von Reifen,
das Holpern von Bahnen in Schienen,
das Stürzen, das Schreien, das Lachen
von Menschen, ein Flugzeug
dicht über dem Dach. Und immer
der Einschlag von Licht auf den Lidern,
der Eintritt in tiefere Räume verhindert,
hier ist es niemals finster, nicht still.

Meine Leseempfindungen kühlen mit Beginn des zweiten Kapitels ab, ich sehe die formal und to­nal sehr ähnlich arrangierten Ge­dichte nicht mehr ganz auf der Höhe der schwin­genden Verse des ersten Kapi­tels, Wörter und Ideen beginnen sich zu wie­derholen. Es regt sich nichts mehr beim Le­sen, und was ich zuvor als schlicht-schön empfand, beginnt mich zu ermüden, ich denke plötzlich Wörter wie ‚belang­los’, ‚be­liebig’ und ‚simpel’, hoffe auf das nächste Gedicht – Der Wind wischt dir gleich einem Tuch / das Gesicht setzt es ein, eine Zumutung denke ich, aber nicht ganz im Meckel­schen Sinne, und spätestens jetzt beginne ich mich nach Friederike Mayrö­ckers auf und ab der brausende rauschende or­gelnde flügelschlagende wind und Gerard M. Hopkins’ wiry and white-fiery and whirlwind-swivellèd snow zu sehnen.

  • Gerard Manley Hopkins, Geliebtes Kind der Sprache, zweisprachige Ausgabe
  • Katrin Marie Merten, Salinenland
  • Friederike Mayröcker, dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif

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