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Veröffentlicht am 20. September 2023 von lyrikzeitung
Ferdinand Avenarius
(* 20. Dezember 1856 in Berlin; † 22. September 1923, heute vor 100 Jahren, in Kampen auf Sylt, begraben in Keitum auf Sylt)
NATUR Hab' heut' vor mir des Weges gehn Eine Gnädige mit ihrem Knäblein gesehn – Hochelegant, das Bürschlein zumal Geschnitten aus dem Modejournal, Nun hielten Madame just Lektion, Dozierten vom feinen Anstandston : Da müsse nicht Schritt und Tritt allein, Auch Wort und Blick gemessen sein – Drum solle sich's endlich mal menagieren, Zum Beispiel nicht so mit den Armen vagieren – Man müsse ja sonst glauben, daß er So ein hergelaufener Junge wär, Man müsse sich sonst ja ordentlich schämen, Ihn wieder mit spazieren zu nehmen! Das Bürschlein – fünf Jahr mocht's, denk' ich, zählen – Schien auch die Sache ziemlich zu quälen: Es trippelte sittsam und still fürbaß Und dachte betrübt an dies und das, Zerknickt, schien's, von dem Herzeleid Ob seiner schlimmen Verworfenheit. Und als des Wegs ein Pfütze kam, Die endlich sein Auge in Anspruch nahm, Wandt's, eingedenk der Lehren, sich Zur Mutter und fragte bescheidentlich: „Darf ich mich mal in die Pfütze legen?" Da dacht ich: o lust'ge – Mama Natur, Laß du sie ängsteln und pfuschen nur Mit ihrer Lackier- und Verkleisterung: Du wirst ein Mensch – Glückauf, mein Jung'!
Aus: Der ewige Brunnen. Ein Volksbuch deutscher Dichtung. Gesammelt und herausgegeben von Ludwig Reiners. München: C.H. Beck, 1955, S. 9f
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Ferdinand Avenarius
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