Der Turm

Alexandra Dust-Wiese

(* 15. April 1923 in Rostock, † 25.5.1981 in Schneverdingen)

Der Turm

Zwei schmale Bäume winden sich zum Licht.
Mit Gitteraugen starrt das Zellenhaus 
auf harten Kies, der durch den Asphalt bricht.
Die Mauern löschen jeden Seufzer aus.

Der Hof kennt keine Weite. Wolkenfetzen 
zerreißen in den Pfützen wie in Tränen.
Sie gleichen armen Seelen, die sich hetzen, 
um zu verwehen. Matt, mit blassem Gähnen,

hat sich die Sonne hinters Dach gelegt.
Die Hoffnung stirbt wie ein zertretener Wurm.
Da ragt aus Stein und Gittern, unbewegt 
von Sturm und Stille, strebend auf der Turm!

Er hat Geheiß, hinauf ins Licht zu steigen 
und einen weiten Blick ins Land zu tun.
Er macht sich alle Schwere ganz zu eigen, 
um dann erlöst in Klarheit auszuruhn.

Auf Wolkenwacht weiht er dem Blitz sein Haupt, 
steil überragend Enge, Angst und Stein.
Er ragt, wenn man ihn auch zerschmettert glaubt, 
denn er ward hingestellt, um Turm zu sein!

Zuchthaus Hoheneck, Oktober 1950

Aus: Alexandra Dust-Wiese: … und schreie in den wind … Gedichte aus Hoheneck. Böblingen: Tykve, 1987, S. 7

Am 18. Oktober 1949 wurde Alexandra Wiese mit ihren zwei Brüdern im Zuge von Massenverhaftungen unter politischen Opponenten von den sowjetischen Besatzungsbehörden verhaftet. Am 1. April 1950 wurden sie und ihr Bruder Ottfried zu dreimal 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, ihr anderer Bruder Friedrich Franz zum Tode. Sie kam in das berüchtigte Frauenzuchthaus Hoheneck im Erzgebirge. 1951 wurde ihre Mutter wegen »Spionagetätigkeit« verhaftet (sie hatte sich hartnäckig nach dem Verbleib ihrer drei Kinder erkundigt), sie wurde wie auch ihr von der Todesstrafe »begnadigter« Sohn Friedrich Franz für 25 Jahre nach Sibirien deportiert. Alexandras weitere Stationen waren die Zuchthäuser Brandenburg und Halle/Saale. Am 15. November 1956 wurde sie plötzlich auf Grundlage eines Präsidiumserlasses des Obersten Sowjets der UdSSR freigelassen. Auch die Mutter und die anderen Kinder kamen in der »Tauwetterperiode« zwischen Stalins Tod und der ungarischen Revolution vom Herbst 1956 frei. Im Januar 1957 durfte sie in die Bundesrepublik ausreisen. Am 25. Mai 1981 verstarb Alexandra Dust-Wiese in Schneverdingen. Erst am 29. Juni 1996, mehr als 15 Jahre nach ihrem Tod, wurde sie von den nunmehr russländischen Behörden rehabilitiert.

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