Ort statt Ich

L&Poe Journal #03 | Betrachtung und Kritik

Konstantin Ames

Schweizer Können bei Elisabeth Wandeler-Deck und Walter Fabian Schmid

Die Idee eines Schreibens, das das Denken aufzeichnet – statt nur gediegene Resultate abzubilden – war bereits vor hundert Jahren dem mittlerweile wieder als Skandalkünstler geltenden Hugo Ball einen Eintrag wert in sein später unter dem Titel ‘Sturz aus der Zeit’ publizierten Diarium, nämlich als „Kunst und den Kunstgesetzen untergeordnet zu sein: falls man seine Aufmerksamkeit dahin lenkt, gewisse Gedanken und Gedankenreihen aufzuschneiden; Grenzen zu ziehen; nur gewissen Wahrnehmungen Raum und Stoff zu geben, andere zu vermeiden.“ (Eintrag vom 7. September 1917)

Vom Stadtrand Zürichs aus setzt Elisabeth Wandeler-Deck diese Überzeugung Balls um. Soviel vorweg: Das Ergebnis, aller dekonstruktiven Eristik zum Trotz, ist etwas, das oberhalb des Arbeitsjournals und des Vorlasses angesiedelt werden kann; eine Selbsteinordnung vermeiden Verlag und Autorin. Mit ‘Antigone Blässhuhn’ wurde ein neues Genre kreiert: Das Werkbuch. Die Affinität zu sprachlichen Suprasegmentalia ist betrieblicherseits spätestens mit den zahlreichen Würdigungen für Ulf Stolterfohts „fachsprachen“-Serie erkennbar salonfähig. Über der Heroisierung wurde ein bisschen vergessen, dass neben der normierenden Kraft des faktischen Vokabulars auch eine viel zentralere Normalisierung in Angriff genommen werden kann, Wandeler-Deck lässt es im barockisierenden Titelzusatz „Alphabet so nebenher“ anklingen.

Es handelt sich allerdings nicht um writer’s literature, wie das 2018 vorgelegte Inselbuch ‘Visby infra-ordinaire’. Schon die Grabbeigabe für Wandeler-Decks Antigone, das Blässhuhn, zeigt die Verbundenheit mit einer oft unterschätzten Tradition, für die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Christian Morgenstern wichtig war, dessen Poem ‘Das Huhn’ in der Bahnhofshalle den Wert des Störfaktors unterstreicht. Auch Antigones Blässhuhn ist ein Anti-Prinzip zu verdrängender „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ (Luhmann), und obendrein eine Ausgestaltung der Morgensternschen Sinnfiguren ‘Golch und Flubis’. All das steht im Zeichen der Ritualkritik: „Weil die Schrift,“ wie es bei Wandeler-Deck heißt, „ständig nach dem Pentimento sich sehnt.“ Was wie eine Entschuldigung für Genre-Mixturen klingt, ist nichts weniger als die Rechtfertigung für eine großangelegte Revision eines Grundpfeilers des uns prägenden Kulturraums. Das Alphabet und die mit der Alphabetisierung verbundene Zurichtung des Kindes steht für Konformitäten aller Art, denen die Autorin, laut Klappentext „ursprünglich Architektin und Soziologin“  durch „Grenzüberschreitungen“ begegnet.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sind diese vom Wohnort Affoltern ausgehenden Affronts direkt an eine gedachte Leserschaft adressiert und kommentieren das auktoriale Tun. Zum ersten ist ein ausgiebiges Namedropping festzustellen, inklusive Widmungen (würdigend wie äffend) und Selbstzitaten; damit in Verbindung steht eine randomness als Lese- und Lebensprinzip, d.h. manche Zitate werden nachgewiesen, manche Erwähnungen werden als Loops und Iterationen eingespeist, und angereichert (und in einer mitlaufenden poetologischen Reflexion überprüft). Wiederum andere, ebenso einschlägige, Zitatpassagen stehen vereinsamt da. Gegenüber Lesern wird ein oversharing geübt, das als Entprivatisierung legitimiert wird.

Die geschichtsphilosophische Denkfigur der Theodizee, und deren Brisanz nach dem Erdbeben von Lissabon (1755), werden angetippt, und sofort kontrastiert mit einem vergleichbaren außereuropäischen Ereignis, aber nichts davon wird explizit verhandelt. Über den Verweis auf kollektive Poetiken, entwickelt in Zusammenarbeit mit Li Mollet und Wolfram Malte Fues unter dem Titel ‘Erzählen macht Sinn’, kommt dann doch wieder so etwas wie begründeter Stolz aufs Werk, aufs Eigene, inmitten der Ent-Werkung, zum Vorschein. Das wirkt passagenweise kokett („man ist ja immer irgendwie elf, Elke Erb“), schnell wird aber klar, dass man Teil eines Klischee-Voodoos ist. Neben der tragisch missverstandenen Antigone finden sich eine Reihe weiterer anzuprobierender Misfits-Kostüme: „ich liegt da und wird zu einer Oblomow. Da liege ich, ich kann nicht anders.“ Und wenige Seiten nach diesem Luther-Gontscharow-Rimbaud-Mashup, findet sich ein Hinweis auf die Bearbeitung des Antigone-Stoffs von Jean Anouilh. In dessen Drama (EA: 1944) besteht die Protagonistin auf dem Vollzug der Todesstrafe an ihr gegenüber dem verbürgerlichten Gewaltherrscher Kreon. In ähnlicher Weise scheint es der Autorin um die zuverlässige Erzeugung von Reaktanz bei den Lesenden zu gehen, etwa wenn es heißt:

r-02/ umgarnen, d.h. was hier als Folge von Notizen erscheint, kann Gerüst zu einem grösseren Text werden, indem ich Teile herauskopiere und aber mit dem Ort, wo sie ihren Anfang nehmen, verknüpft lasse. Ich fand keine Zeit. Beliebig einen ganzen Ablauf hernehme und allmählich erweitere, dehne. […] Gibt es da einen Trick, den ich nicht kenne.

Wer meint, mehr situationistischer Eifer – der vollständige Titel des Buchs knüpft direkt an ein Filmexperiment Guy Debords an – wider den Pappkameraden Konsumismus gehe kaum: „Warum. Worum. Ob sich das Buch von mir schreiben lassen wird, ob ich dieses Buch schreiben werde, ein Einschreiben in ein Keinbuch. Soll. Eben. Schrei eben.“ – – – Weit triftiger als die Zitat-Masken („einfach mal horchen ausprobieren“) sind die Orte, die das architektonisch höchst kundige Ich erläuft, um dabei die blutigen Stummel ödipaler Narrative mit den brutalen Normalisierungen (Klasse, Gender, Gattung) des Heute gegenzuschneiden. Als basso continuo lässt sich der Femizid, auf allen Stufen von körperlichen und mentalen Brutalitäten, ausmachen. Ästhetisch überzeugt vollends, dass diese Gewaltgeschichte gegen weibliches Sein nicht psychologisiert wird, sondern von den Mustern theatraler Handlungssimulationen auf der Bühne (Sophokles, Euripides, Seneca, etc.) abstrahiert und qua figurae etymologicae wieder zum unhintergehbaren Teil einer grammatischen Performance wird:

j-13
Transformiere umschaltete, aus starrem Gelächter, umstrauchelte, umfiel, wie lange schon anfiel, behauptete, verlief, sich verlief, wegfiel, war gefallen, der Bub, ihr Bruder, hatte gefallen, ihr gefallen, sie angefallen, was hatte sie zu tun, nun.

Als Antrieb dieser Suchbewegungen wird die alte Theodizee-Frage nach dem Grund des Sterbenmüssens wieder vorgelegt, des fremden wie des eigenen, des abrupten wie des vermeintlich weniger plötzlichen Todes: „Bin Knecht, Körperknecht, also Knechtin des meinen alten Körpers, der ich sei, soso, quasi, anderenfalls trockenes Rosenlaub, Rosenblättergewölk […]“ Die zahlreichen dadaesken Lockerungen und Sinn-Schleifungen lassen den Schluss zu, dass Antigone für Elisabeth Wandeler-Deck nichts weniger ist als das Anti-Gone-Prinzip.

Und das Blässhuhn ist Blessuren-Prophet dieses Nie-Erledigt-Seins: „Liebste A., Wiederauftaucherin, Untertaucherin, du ewiges = wiedergekehrtes Blässhuhn, nur Mut, und auf und ruft laut das Wort und// v-14/ verdoppelt, so ist es sie, und sie verdoppelt als eine vermehrte Mehrere A., raumzeitliche Transduktion, schau hin, noch und noch, da geht sie ja, die Hängerin, Rumhängerin, Rummacherin.“ – Tradition, das sollen wir kapieren, ist nicht die oft zitierte Fackel, die es gilt weiterzugeben, sondern zu bearbeitendes Material. Der Respekt gebührt allein dem vollständig entmusealisierten Stoff. Das beizeiten bemühte Wort „desœuvrement“ ist nicht nur konstruiert als ein psychologisches Dispositiv, das wohl im Term low performer (Oblowmow) seine Entsprechung fände, sondern in einem umfassenden Sinn: Ent-Werkung. Die Willkürlichkeit der Erinnerung mit einem probaten Ordo, Tagebuch oder Autobiographie lägen nahe, zu bewältigen, das wird als adrette Chimäre markiert, der im Rahmen der sog. Unsinnspoesie längst die Türe gewiesen ward:

Als Figur zu lesen das Kind als hochgewachsene Sappho, als Tisch, als Sängerknabe, als froher Fisch, als Chesire Cat, als Pink auch Punk genannt, Pussy Riot. Als genauer Körper Antigone Simone Io Brunhilde Emma Nina so oder so eine und eine und doppelt oder auch so, als Tafel, als Wachstumsprognose, als Element der Statistik, während die Figur des Kindes Ich. Bin Mädchen, wer bist du. Wer bist du wo?

Das Dagegen äußert sich in diesem morpheushaften, von Theoremen Derridas und Cixousʼ wie der Promenadologie beratenen Stil. Befremdlich ist gegenüber dem nachvollziehbaren Begehren nach Freiraum eine moralistische und deterministische Perspektive im Zeichen der Abwehr jeglicher Zukunftsgewissheit: „Was bleibt aber bevölkern die Pinguine“ oder „Dieser zu schreibende Rest in der Wiese des Desasters.“

Fragen dazu werden proaktiv als Unverständlichkeits-Framing delegitimiert: „Falls man den Satz unverständlich finde, gehöre man einem anderen Referenzmilieu an. Ist das so?“ Hinter der Verächtlichmachung öffentlicher Sprachregelungen und markierter Sprache überhaupt („Tischvorlagen“, „Hochschul- und Verwaltungssprache“, „Systemdiener“, „[a]n Hygienemaßnahmen hielt sich niemand“) lässt sich weniger eine Gesinnung ablesen; es zeigt sich eher eine Lust am schnodderigen Aufstellen von Testszenarien, die der Leserschaft Aufschluss geben mögen über eigene Vorurteile, Voreingenommenheiten, Empfindlichkeiten:

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Achtung! Sie verlassen den sicheren Sektor. Sie betreten jetzt die Zone.

Weniger opak ist die Motivation der Schopenhauer-Referenz: „Mit Pargerga [sic] und Paralipomena überschreibt Arthur Schopenhauer eine Sammlung von Beiwerken oder auch Nachträgen“ …  Abseits bissiger Statements zu Stilfragen und ewig dummer Misogynie, dürfte für Wandeler-Deck an  d e m   philosophischen Außenseiter sein Augenmerk für den Leseprozess selbst anregend gewesen sein, insbesondere die These: „[W]ährend des Lesens ist unser Kopf doch eigentlich nur der Tummelplatz fremder Gedanken. […] Daher kommt, daß, wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreibe erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmälig verliert – wie einer, der immer reitet, zuletzt das Gehn verlernt.“ (Parerga …, Bd. II, Kap. 24, § 291) Die von Wandeler-Deck erwähnten „Randgänge der Erinnerung“ verwirklichen das behauptete poetische Spazieren und problematisieren das Erzählen selbst, genauer gesagt dessen Abgrund: Das Narrativ. Dabei gelingt immer wieder das Kunststück, uns unsere Storygläubigkeit und infantile Freude an Symbolbildern vor Augen zu führen, demonstriert an einer Liebeserklärung oder an einer Mordgeschichte aus dem Zürcher Stadtrandgebiet, durch Einsprengsel aus der Lokalpresse. Gegenüber diesem ritualisierten Sprechschreiben kann ein Prosaist als Lieferant von Content (vormals: Stoff) nur versagen; als ebenso vergeblich werden tönerne Phrasen der oft nur noch um die eigene Inszenierung kreisenden Gegenwartsliteratur (enervierend geläufig ist die einmal zu oft verwendete Floskel von der Schnittstelle Text/Musik/ Kunst/Medien) performativ-poetisch unbrauchbar gemacht; im Ordner über „den / Text“ lesen wir:

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Ich schnappe mir einen Satz, noch einen,
später dann, viel später, zu spät gar, spät
dann einen andern Satz, ihn einzusetzen.
Schnipp. Schnipp, schnipp, schnipp, schnipp,
schnapp. Schnappsätze. Schnipp. Schnipp.
Schnipp, schnipp, schnipp, schnipp, schnapp.

Elisabeth Wandeler-Deck besteht, auch hier der frankophonen Tradition (Surrealismus, Situationismus) verpflichtet, gegenüber segregierenden Literaturbegriffen auf Synästhesie; als Wahrzeichen dafür dient ihr nicht selten der hochangereicherte Kalauer, ob nun in Form von Gedichtmöbeln („poèmes d’ameublement“) oder Sprechetüden oder Listen oder Traumrestnotaten oder als Prosa camouflierten Gedichten. Das Gegenprogramm kann kompromisslos unspektakulärer kaum sein: „Ich schreibe ganz nahe am Nichtschreiben. Erst nutzlos wird die Ruine Gegenstand der Reflexion.“ Das zwanzigstes Buch der Zürcher Dichterin-Essayistin Elisabeth Wandeler-Deck, ihre erste Publikation im Klagenfurter Ritter-Verlag, gehört – den von ihr appropriierten Schopenhauer auf sie spiegelnd – nicht zur „fließenden Literatur“, sondern zu dem, was ganz gewiss bleiben wird. Ihre negative Poetik, irisierend rhapsodisch vorgetragen, optiert nicht für das Ich als Topos, sondern als Transitstation, das in weit gespannten referenzierenden Bögen zu den Topoi selbst führt:

m-09/ Ich benutze einen Moment aus meinem Leben und bilde von diesem Moment her Sätze, Absätze, Zeilen, Zeilenfälle, Textflächen. […] Bin mir Figur, nehme Kindfigur zur Hand, schmeisse sie nicht gleich an die Wand, frage. Wer ist nun dies herumvagierende grammatikalische Ich. […] Sofern die Kommunikations- und Spielgeräte wieder funktionieren, trägt der Wind Stimmen denn doch über die// v-08/ Leuchtflächen. Die Muster der Verdauung ändern sich verlässlich. […] Das Vermessen geht weiter. Antigone schiebt sich einem weiteren Referenzmilieu zu. Das Gesetz weint allein. […] Oft bin ich nicht sehr freiwillig. Ich neige zu Spiralen. […] Der Künstler stieg auf den Baum. Voglio una donna, voglio una donna. Dann vermessenes Zimmer ausgesteckt, in Metern, Zentimetern, Lux, Dezibel. Das ist unangenehm. Rufen sie jetzt an?

Wer ein Höchstmaß an Benevolenz aufbringt, hat die Chance, ein Teil von Wandeler-Decks berückender Neuausrichtung und -ausstattung des Phänomens Gedicht zu werden, das in ‘Antigone Blässhuhn’ nur als basisdemokratische Gedichtumwelt abgesegnet wird: „kein unser Mama Papa Text zur Hand“ …

Der seit einigen Jahren in der Schweiz ansässige Walter Fabian Schmid findet nicht vom Ich zum Ort, sondern legt die Lost Places, verlassene Orte der Industriegesellschaft, fest als sehenswürdige Objekte, die in stärkerem Maß Poesie als Gattung respektieren, ohne sich damit auf lyrisches Sprechen zu verpflichten, also Stimme mit Klang zu verwechseln. Schmids starkes Poesiedebüt ‘stimmapparatvibrato’ liegt seit 2018 in der Kölner Parasitenpresse vor. Sein zweites Buch legt demgegenüber nicht nur an Umfang zu, sondern auch an Dringlichkeit. Wir betreten eine abgeschiedene dörfliche Enge, im Grunde ein Stammesterritorium, das mit Touristikidylle aber nichts zu schaffen hat, sondern ein „Grenzland“ bildet, aus dem eine Titelmelodie klingt: „Rostige Milchkübel warten. 1 Weiler, 4 Häuser, 1/ Familie. Zwischen Rohbau, Verfall und Verhau. Das Geld/ fällt aus wie Ernte. Die Lost Places zucken noch.“ Und erst auf den zweiten Blick zeigen sich die Parallelen zwischen beiden Schreibansätzen. Schmids Stil erlaubt sich weniger Koketterie und Spiel mit dem Publikum, ist überhaupt konzentrierter und gesteht der Versform enorme Autorität zu, gerade wenn Realitätseffekte (wie die Aufzählung verschiedener Antidepressiva) ein Verlassen der Lyrik-Ich-Rüstung nahelegen wie im ausdrucksvollen Langgedicht „Ich rappelte mich auf und ging durch die Hölle“. So sehr sich die zumindest schriftbildlich probate Poesie Schmids und die kunstvoll verwüsteten Zettelkästen von Elisabeth Wandeler-Deck unterscheiden, eint sie doch das bohrende Beobachten des zerfallenden Individuums und das aggressive Vorzeigen der Wunden:

Ich sah in den Spiegel und erschrak
vor dem schwarzen Loch in den Augen. […]
Dauernd verlor ich den Faden,
der einfach kein Strick wurde.
Zum Schutz bekam ich Medikamente.
Amitriptylin und Tavor.
Seroquel vertrug ich partout nicht.
Ich bilde mir Geister ein,
meinte der Notdienst,
als ich ihm erschien.
Ab dann trank ich Kerosin
aus den Flügeln von Engeln.
Lorazepam und Noctamid.

Mit ausgeprägtem Sinn für die privatime Doppelbedeutung des im niederbayerischen Städtchen Regen Aufgewachsenen findet Schmids Ich nur mit Aussicht auf Verortung einen sekundenschlafkurzen Ruhepol: „Gelegentlich trink ich den Abfluss aus/ jener Zeit und verlauf mich wie Farbe im Regen// Im Jenseits klärts langsam auf.“ Auffällig ist neben dieser durchblickenden Offenheit das Interesse von Schmid wie Wandeler-Deck an rituellen Formen des Sprechens. Bei Schmid starten wir mit einer „Fürbitte“; seine Kollegin konnotiert mit ihrer Obsession für Ränder aller Art (u.a. Stadt/Natur; Traum/Wachzustand; Fremd-/Selbstaussage) permanent die Zustände, die nach rites de passage, also archaischen Übergangsregeln verlangen: Auch von daher ist die Bezugnahme auf Debords Kurzfilm, der auch im vollständigen Titel in deutscher Übersetzung mitgeführt wird, eine Anknüpfung an heterodoxe Denkfiguren, die völlig außer Gebrauch gekommen sind. Schmids ideologischer Überbau bleibt vergleichsweise implizit, seine Wahrnehmungen drängen weniger nach Abstraktion als nach dem Anschein leichter Findung und Aufsummierung: „Auf Netflix liefen noch Zombies herum./ Endzeitszenarien, die wir torkelnd nachstellten.“ Dieses Parlando wirkt bekannt, und es droht die Virtuosität der Machart dieser bildstarken Langgedichte in den Schatten zu stellen; und auch die Kraft des kosmischen Ekels zu verbrauchen, einfach durch den Gewöhnungseffekt. Sodass auch pures Gold einen Moment verstaubt wirkt: „Das Auto nutzte seine Intelligenz/ und fuhr gegen ein Haus“ oder „Wenn wir nur wüssten wohin,/ könnten wir Totenscheine als Bilett benutzen.“ Wie bei Wandeler-Deck wird in all der Misere nach einem Ort sicheren Sprechens gefahndet, das Langgedicht ‘Wir bauten ein neues Paradies’ endet so:

Vereinzelt entkamen Silben.
Sie gingen am Sonntag hausieren.
Von Stadt zu Stadt, ganz leise
und ohne Gewicht.
Auch du machtest auf.
Sie schauten ins Weiss deiner Augen
und suchten nach einem Grund.

Obwohl der diplomierte Germanist Schmid nur allzu gut weiß, dass die Gewichtigkeit von Stimmen noch immer anhand von In- und Outgroup gemessen wird, kehrt er, was sich bereits in seinem Erstling ankündigte, der Betriebsamkeit endgültig den Rücken; merklich durch das Aufgeben literaturvermittelnder Netzwerker-Aktivitäten wie Moderationen und Rezensionen;  ästhetisch markiert er diese Entfernung durch Verzicht auf die sattsam bekannte urbane Proporzdiskurslyrik mit meist (dann doch nicht so) stratosphärischer Theoriehöhe: Schmid gibt dem Kalauer freimütig Raum und kann dabei ganz auf die Kraft deftiger und sehr einprägsamer Bilder vertrauen: „Aale lösten sich restlos in Strom auf.// Enten trainierten für eine Reise/ und hängten Gewichte an ihre Flügel.// Andere Arten gaben schon auf.// Barsche drehten sich faul auf den Rücken.“ Verlotterung, Verrohung, Vermüllung, Ausbeutung und (pathetischerweise, mag man einwenden) Entheiligung werden in einem Akt der Wutkonfluenz überblendet: In einer der gelungensten Litaneien der letzten Jahre wird die „Suche nach dem Rückweg ins Paradies“, der Rousseauismus des Anthropozäns, als Ökolyrismus und der Natur entfremdetes Maulheldentum eines Narren bloßgestellt: „Sprachlos sogen sich Silben/ mit neuen Bedeutungen voll./ Am Grunde glucksten die Laute.// Wir lauschten dem Anfang,/ der nicht mehr im Wort lag.“

Jeder Art von Reputationsmanagement drehen diese beiden schweizer Literaturaktiven eine Nase. Sie tun, als  Libertaristen, was sie wollen. Ein Literaturbetrieb, der solche  Stimmen nicht einzubeziehen wüsste, wäre autoritativ.

Walter Fabian Schmid: Die Lost Places zucken noch. Gedichte.
Dortmund: edition offenes feld 2022 (BoD), 105 S., Gebunden, 19 Euro.

Elisabeth Wandeler-Deck: Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher oder: Über den Durchgang einiger Personen durch eine relativ kurze Zeiteinheit. Klagenfurt: Ritter 2022, 183 S., Paperback, 19 Euro.

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