Der Ukraine-Krieg in Zeitschriften 2

L&Poe Journal #02 | Ukraine

Wir haben seit ein paar Tagen Sommer, die „Frühjahrsausgabe“ des L&Poe Journal #02 ist immer noch nicht ganz fertig, aber das endgültige Erscheinungsdatum naht. Hier der zweite Teil meiner Presseschau über Zeitschriften zum Krieg in der Ukraine.

2: Lettre international 136, Juni 2022

Lettre kündigt auf dem Waschzettel, der halbseitig vor jedem Titelblatt steht und bei eifrigem Lesen regelmäßig aus den Klammern reißt, zwei ungefähr einschlägige Themen an: TOLLWUT. Der Angriff auf die Ordnung Europas, und RUSSLANDS REVOLUTION. Eine sentimentale Reise unternimmt Bora Ćosić. (Andere Themen sind u.a. Orwells Moral, Afrikas Antiparadiese, Herrschaft im Sahel, der griechische Bürgerkrieg 1946-1949 und Chinas neuer Nationalismus. Lettre wie immer ein unentbehrlicher Füllquell von Informationen und Meinungen aus Ecken, wohin unsere Halbbildung noch nicht einmal hingeblinzelt hat. Was, du liest LETTRE nicht?!!).

Lettre International 136/2022

Die meisten Ankündigungen findet man leicht im Inhalt des Heftes wieder, nicht so den Tollwut-Text. Stattdessen eröffnet das Herz mit einem Abschnitt „Literatur und Gewalt“ mit 4 Beiträgen:

  • Liza Alexandrova-Zoriuna: Aljoscha. Eine Erzählung
  • Ian McEwan: Orwell und der Wal
  • Bora Ćosić: Russisches Brevier
  • Eduardo Halfon: Beni. Eine Geschichte

Die zweite Erzählung thematisiert Gewalt, aber in Guatemala. Die erste ist voll einschlägig, obwohl sie die Ankündigung auf der Bauchbinde (dem Waschzettel) nicht einlöst. Die russische Autorin Liza Alexandrova-Zoriuna schreibt über einen jungen Russen von der Kola-Halbinsel. Er war vor zwei Jahren nach Moskau zum Geldverdienen gefahren, bekam aber nur schlecht oder gar nicht bezahlte Jobs und schlief in Bahnhöfen. Dann hörte er von einem Job, „der zwar mies bezahlt wurde, aber man nahm jeden, der gedient hatte“. Er fuhr zur verabredeten Stelle an der russisch-ukrainischen Grenze, wo er sich den „Freiheitskämpfern“ anschloss. Es ist also im Donbass an einem Fluss, der die Grenze darstellt. Bald sah er seinen ersten Toten, eine Frau, die mit ihrer Tochter an der Hand auf eine Mine trat. Die Tochter hielt die Hand weiterhin fest, aber an der Hand war nichts mehr dran. „Doch man gewöhnt sich rasch an den Tod, der Krieg wurde zähflüssig und alltäglich und nach den Verhandlungen schon gänzlich langweilig.“ Aljoscha vertreibt sich die Zeit mit einem täglichen Spiel an der Grenze. Der Fluss war hier 200 Meter breit, die Grenze in der Flussmitte. Manchmal schoss man eine kurze Salve ab, nur um zu zeigen, dass man noch da war. Treffen konnte man auf die Entfernung nur zufällig. Jeden Morgen, wenn Aljoschas Wache beginnt, lässt auf der anderen Seite jemand die Hosen herunter, dreht verächtlich den Hintern zur russischen Seite und entleert sich. Aljoscha, Kosename Sascha, traf ihn zwar nicht, aber er konnte nach langer Zeit wieder mal lachen.

Dann bekommt er Urlaub zur Hochzeit mit seiner Braut Ljalja. Sascha hat eine Handgranate von der Front eingeschmuggelt und bei der häuslichen Feier nach der kurzen Zeremonie … – nein, ich verrate nicht den makaber-„lustigen“ Fort- und Ausgang.

Ian McEwans Aufsatz über Orwell ist auf seine Art eine Parabel für „unsere schwierigen Zeiten“. Orwell fuhr damals, im Bürgerkrieg, nach Spanien und stritt sich unterwegs in Paris mit Henry Miller über Politik und die Rolle des Schriftstellers. Miller fand es „idiotisch“, jetzt nach Spanien zu fahren, und die Idee von der Verteidigung der Demokratie „nichts als Blödsinn“. Orwell meinte im Gegenteil, „wo die Rechte und das Leben eines ganzen Volkes auf dem Spiel stehen, kann es keinen Gedanken daran geben, die Selbstaufopferung zu scheuen“. (O, wie viele von denen, die in ihrer Jugend „Spaniens Himmel breitet seine Sterne über unsre Schützengräben aus“ sangen, fordern heute, die Ukraine möge kapitulieren!).

Wie beklemmend, bei Orwell zu lesen: „Es ist so gut wie sicher, daß wir uns auf eine Zeit totalitärer Diktaturen zubewegen – eine Zeit, in der die Gedankenfreiheit erst für eine Todsünde [soviel wissen wir ja inzwischen] und später für eine bedeutungslose Abstraktion gehalten werden wird.“ Putin, Trump & Co. arbeiten feste an diesem Punkt 2 – während so mancher Linke, der vielleicht nicht mitgekriegt hat, dass Russland kein sozialistisches Land mehr ist, die Irrtümer der damaligen Linken wiederholt, die McEwan mit Orwell so beschreibt: „Politisches Engagement bedeutete damals bei linken Schriftstellern — also den meisten Schriftstellern —, am sowjetischen Traum festzuhalten, und dies trotz des ersten Fünf-Jahres-Planes, der Hungersnot in der Ukraine, der Säuberungen und Schauprozesse und jüngst erst des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939. Für Orwell war diese Art von politischem Engagement wie ein überhitzter, erstickender Raum voller Lügen. In einer Besprechung von Malcolm Muggeridges zeitnah verfaßtem, historischem Überblick The Thirties schrieb er: „Alle positiven Ansätze erwiesen sich als Fehlschlag. Glaubensbekenntnisse, Parteien, Programme jeglicher Art sind schlicht gescheitert.“

„mancher Linke vielleicht nicht mitgekriegt hat, dass Russland kein sozialistisches Land mehr ist“. Sowjetische Fahne im Greifswalder Hafen, Mai 2022

Viele bedenkenswerte Sätze noch bei McEwan über den Status des Romans und Meinungsfreiheit heute.

Bora Ćosićs „Russisches Brevier“ handelt vor allem von dem russischen Schriftsteller Viktor Schklowski, den manche nur als Theoretiker kennen (er prägte den Begriff Verfremdung). Ćosić hatte ihn noch persönlich in Belgrad gesehen, daher vielleicht das leicht Melancholische seines Texts. Aber das Russland in seinem Text und Schklowskis Romanen, aus denen er lang zitiert, ist keine sentimentale Erinnerung, ein paar Schklowskizitate:

Ein Mensch schläft und hört es an der Haustür läuten. Er weiß, daß er aufstehen sollte, aber er will nicht. Also erfindet er einen Traum und fügt das Läuten in ihn ein, indem er es anders motiviert – er kann zum Beispiel von einer Frühmesse träumen. Rußland hat die Bolschewiki erfunden wie einen Traum, als Motivierung für Flucht und Plünderung; die Bolschewiki selbst können nichts dafür, daß sie im Traum erschienen sind. Sie tauchten ab in den „Bolschewismus“, wie ein Mensch sich vor dem Leben in irgendeine Psychose flüchtet.

***

Und hier brachten sie einander um im Bürgerkrieg. Alle kämpften. Während des Kampfes erschlugen die Ehemänner ihre Frauen, die Liebhaber die Ehemänner. Hatte man sie umgebracht, legte man sie auf den Hof der Schußlinie entlang so, wie die Kugeln flogen. Die Weißen erschlugen die Roten und rissen ihnen die Zunge aus dem Hals. Die Roten töteten bloß.

***

IM JAHRE neunzehnhundertsechsunddreißig ermordete Ivan Ponomarjov, Kapellmeister, in nervlicher Zerrüttung vier Mitglieder seiner Kapelle, und dann erhängte er sich. Im selben Jahr konstruierte Jasa Sevicki, ein arbeitsloser Ingenieur, einen Ofen, der mit unnützen, unnötigen Dingen beziehungsweise Scheiße geheizt wurde. Der russische Kosakengeneral Pavličenko floh völlig besiegt vor den Sowjets zu uns, auf einem Pferd, und hielt einen Vortrag über all das, das Pferd verreckte hinterher. Die russische Sprache war unserer schon immer ähnlich, nur hatte sie irgendwelche Fortsätze. Die Russen sprachen wie jeder von uns, nur betrunken. Die Mama von Lonja Bondarenko brachte damals meinem Onkel bei, wie man den alten russischen Buchstaben „jer“ schreibt, mit Häkchen. Sie gestand ihm: „Jetzt gibt es den nicht mehr!“ Papa behauptete: „Ich hab’ gehört, jeder Russe säuft sich an wie ein Schwein, und danach weint er wie ein Kind!“ Mama sagte: „Sie werden wohl einen Grund haben!“ Opa sagte: »Alle wollen sie das eine wie das andere, und darüber vergeht ihr Leben!“ Auch mir fiel auf, daß die Russen irgend etwas machten und danach bereuten, daß sie es getan hatten.

Ćosić zitiert aus Schklowskis Büchern:

  • Sentimentale Reise (Andere Bibliothek 2017)
  • Zoo oder Briefe nicht über die Liebe (Suhrkamp 1965)
  • Dritte Fabrik (Suhrkamp 1988)

Das zweite ist in den 80er Jahren auch im DDR-Verlag Volk und Welt erschienen, ob zensiert, kann ich jetzt nicht feststellen.

McEwans und Ćosićs Beiträge sind auf verschiedene Art indirekte Beiträge zu den Hintergründen des Krieges und unserer Art, darüber Diskussionen zu vermeiden. Aber das sind dann auch fast alle anderen hochinteressanten Beiträge des Heftes. Bei so manchem könnte man ausrufen, was Franz Maciejewski (Garküche der Zukunft) sagt:

Man könnte irre werden an der Zeit und versucht sein, mit vorgehaltener Hand nach den Kindern auf der Straße zu rufen: „He, ihr da draußen, sagt doch mal – welches Jahrtausend haben wir?“

Vielleicht kann man bei Anatol Schneiders Beitrag über „Ausgräber der Antike“ verschnaufen.

In den abschließenden Rubriken „Briefe & Kommentare“ und „Korrespondenzen“ gibt es noch ein paar direkte Bezüge zum russischen Krieg. Sergio Benvenuto fährt seit 2000 regelmäßig nach Russland und in die Ukraine, er unterrichtet am „Internationalen Institut für Psychoanalyse“ in Kiew, hat Kollegen und Freunde in beiden Ländern und behandelt als Psychoanalytiker russische und ukrainische Patienten. Bei ihm kann man viel über die Vorgänge seit 2014 und die Verhältnisse und Entwicklungen in der Ukraine lesen, was in der deutschen Debatte durch „Influencer“ und Putin-„Versteher“ und eine gigantische russische Auslandspropaganda oft verdunkelt ist.

Rada Iveković schreibt über die Zeitenwende 1989, bei der kaum auf die Warnungen einiger jugoslawischer Denker gehört wurde,

dass die großen nationalistischen Erzählungen auf der Lauer lägen und „grundsätzlich jedes Volk zum Nazismus fähig sei“.

Während Benvenuto meint, dass nicht ein alter Hass die beiden Länder trennt, sondern aktuelle politische Entscheidungen diesen Hass erst erzeugten, geht Sergiusz Michalski ein wenig auf die lange zurückliegenden Wurzeln dieser Spannungen ein (wie ja auch der Kriegsherr Putin nicht müde wird, hundert und tausend Jahre zurückzugehen, in seinem Fall, um russische Ansprüche zu begründen). In der Urzelle Russlands, dem Kiewer Staat und seinen zahlreichen Nachfolgefürstentümern, waren die Verbindungen zwischen den heute verfeindeten Brüdern sehr eng, aber anfangs waren die nördlichen Russen die jüngeren Brüder, ehe sie im Zuge des Mongoleneinfalls die großen Brüder wurden und die Sprachen sich ausdifferenzierten. Und während Putin behauptet, Lenin habe die Ukraine geschaffen, weist Michalski darauf hin, dass ein ukrainisches Schulkind ohne größere Probleme das um 1200 in der damals gemeinsamen altostslawischen Sprache geschriebene Igorlied lesen kann, während ein russischer Leser eine Übersetzung benötigt. Auch die geschichtlichen Verwerfungen in der Folgezeit mit Polen, Litauen und Russland werden beschrieben, in deren Ergebnis die früher polnischen Gebiete russifiziert wurden, aber als „Kleinrussen“ im Gegensatz zu den „eigentlichen“, den Großrussen. Michalski geht auch auf den ukrainischen „Nationaldichter“ Taras Schewtschenko und die Unterdrückung der ukrainischen Sprache im zaristischen Russland ein und schließlich auf das antiukrainische Schmähgedicht des russischen Dichters Jossif Brodsky (kann das nicht mal jemand übersetzen und gut kommentiert herausgeben, damit wir wissen, worüber wir reden?). Letzter Satz dieses Briefs (aus Tübingen) und der mit spannenden Inhalten aus allen Weltteilen berstend vollen Lettre-Ausgabe:

Wie immer dieser schreckliche Krieg ausgeht, er wird sich für Rußland*, über kurz oder lang, katastrophal auswirken.

*) Lettre International scheint die letzte Bastion der alten Rechtschreibung vor der jüngsten Reform zu sein

Kommentar verfassen

Bitte logge dich mit einer dieser Methoden ein, um deinen Kommentar zu veröffentlichen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

%d Bloggern gefällt das: