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Heinz Winfried Sabais
(* 1. April 1922 in Breslau; † 11. März 1981 in Darmstadt)
Brief von Breslau nach Wrocław Lieber Tadeusz Różewicz, Sie leben in Wrocław, ich bin in Breslau geboren. Die Samenflüge, die Flockenfälle, die Jahreszeiten, die ehrwürdigen Steine begegnen uns, den Passanten, freundlich. Aber die Stadt nennt uns Kinder. Ostrów Tumski kündet mit Glocken wie Gallus, der Mönch, Deutsche und Polen in alten Zeiten als Brüder gepriesen. Da sah ich die grausam verheerte Stadt in neuer Würde, von Polen erbaut aus den Schutthalden meiner Jugend. Silesische Schöne, Wratislavia, im schimmernden Hermelin der Ebenen, geliebt, ob deutsch, ob polnisch, geliebt und Babuschka Oder, Märchenerzählerin am Feuerchen unter der Eisenbahnbrücke wohin sind unsere Tage versunken! Im Stadthafen hausten wir Indianer, geführt von Lederstrumpf, dem mährischen Bruder. Wir rauchten Gekrüllten, rauften um Mädchen, erlebten zusammen beherzt die Odysseen der Pubertät, wie wilde Ganter, wie junge Hunde. Zerbrochene Knabenträume kreiseln noch ziellos durch Weidengebüsche in der Strachate, wo das weiße herrliche Schiff vorüberdampfte; der Heizer, mein Vater, winkt aus der Luke, am Steven strudelt schwarzes Gelächter. Die Mietskaserne, wo ich heranwuchs in Jahren der Not, hat überlebt Die Straße, die unser Olympia war, heißt jetzt Lencycka. Hintenheraus ist noch viel Öde. Da starben viele. Da standen meine Sonnenblumen.. In Sankt Nikolai, unter Oderschiffern, bin ich getauft, April Zweiundzwanzig. Sankt Nikolai fraß der Krieg. Wir kamen davon. Unterworfene schon seit Dreiunddreißig, wir bezahlten unsere Schwäche mit Blut Am Teufelsmale, der Hahnenkrähe, strichen wir nächtens schaudernd vorüber, kamen aus der Fabrik, wo die Mutter Kontore schrubbte, während ich nach exotischen Briefmarken jagte, der greifbaren Ferne, meiner Romantik. Geranien im Fenster der alten Schule, wo der gewaltige Rektor Sczenczessa uns Mores gelehrt. Florian Geyer sein Lieblingsthema, ich höre ihn reden. Wohin verschlugs ihn, den mutigen Lehrer? – Ins Massengrab seine Schüler, die Freunde. Im Marmorschatten Wilhelms des Ersten hab ich mein erstes Mädchen geküßt Elisa, die schmeckte nach Veilchenpastillen. Der Mond, eine silberne Säule, schwankte im Stadtgrabendunkel. Der alte Preuße ist abgewrackt Der Kuß hat gehalten. Wir feierten Hochzeit mitten im Kriege, mein Mädchen aus Chorzów und ich, damals Gutenbergstraße, heute Drukarska. Wo unser Bett im Himmel schwebte, ist nur noch Himmel. Und auf dem Rasen spielende Kinder, sie winken und lächeln. Lieber Tadeusz Różewicz, wir beide sind Cives Wratislavienses, Gott will es. Die Stadt hat uns beide in ihre Geschichte genommen. Die heraklitische Oder umfriedet Ihre und meine Jahre. Wir müssen uns leiden. Oder wir sterben.
Aus: Mein Gedicht ist die Welt. Deutsche Gedichte aus zwei Jahrhunderten. Hrsg. Wolfgang Weyrauch. Bd. II. 1912 bis 1980. Frankfurt/Main, Olten, Wien: Büchergilde Gutenberg, 1982, S. 485f
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