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Veröffentlicht am 10. Mai 2015 von lyrikzeitung
Junge Menschen, die von der realen Welt angewidert sind, lesen Gedichte. Schauspielschülerinnen, die Blumen an ihrem Fahrrad befestigen, Kleider aus den Fünfzigerjahren tragen und zu Recht nichts mit den imaginären „anderen Menschen“ zu tun haben wollen, lesen Gedichte.
Ich hatte als junger Mensch Borcherts Zeilen „Ich möchte Leuchtturm sein in Nacht und Wind, für Dorsch und Stint, für jedes Boot, und bin doch selbst ein Schiff in Not“ auf eine Leinwand geschrieben und fühlte mich verstanden. Ich war ein Basho-Fangirl und konnte einige Hunderte seiner Texte auswendig – „Auf blattlosem Ast Sitzt allein eine Krähe; Herbstlicher Abend“.
Herbst war immer, die Welt ein feindlicher Ort, der auf mich nicht einmal wartete. Das war die Zeit der Gedichte, und später, denke ich, kommt sie wieder. Wenn es die Welt dann noch gibt und mich, werde ich Gedichte lesen und die Welt begreifen, also mich.
Vermutlich wäre das Leben besser auszuhalten, wenn sich alle, mich selbst eingeschlossen, nur noch mit Kunst beschäftigen würden. Flucht in Schönheit. Rote Samtvorhänge, das leise Absingen von Schubert-Liedern oder das Hören von einem der besten Dichter unserer Zeit, Sido. Dem leisen Betrachten von Ballett-Dvds. / Sybille Berg in ihrer Spiegel-Kolumne
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Basho, Lyrikbegriff, Sybille Berg
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