77. Jean-Pierre Schlunegger (1925-1944)

Zum 50. Todestag Jean-Pierre Schluneggers ist die Gedichtauswahl „Bewegtes Leuchten“ in einer verkorksten Übersetzung erschienen

schreibt Matthias Friedrich bei literaturkritik.de, Auszug:

Über Heinrich von Kleist hat Emil M. Cioran gesagt, der Selbstmord lasse sich aus jeder seiner Zeilen herauslesen. Eine ähnliche biographische Deutung bestimmt auch die Rezeption des Schweizer Lyrikers Jean-Pierre Schlunegger. Am 23. Januar 1965 stürzte er sich, gerade einmal 39-jährig, von einer Brücke. Sein Vater hatte im gleichen Alter den Freitod gewählt; zeit seines Lebens fürchtete sich Schlunegger, das Gleiche tun zu müssen. Seither wird die Rezeption des Werks vom Suizid des Autors überschattet, wie Barbara Traber in ihrem Nachwort zur bilingualen Ausgabe feststellt. Doch es lässt sich zum Glück nicht auf biographische Eigenheiten reduzieren. (…)

Damit bedeutet Poesie für Schlunegger zugleich Weh und Heil. Sie öffnet ihm neue Wege, versperrt aber gleichzeitig den Zugang zu ihrem Rätsel, das zugleich das Weltenmysterium ist, dem das lyrische Ich gegenübersteht. Geheimnis und Offenbarung sind die Komponenten, aus denen er seine Gedichte konstruiert, doch beide Teile weisen einander ab. Schluneggers zweigeteiltes Ideal provoziert also sein Scheitern, das aber als Grundlage der lyrischen Reflexion fungiert. Denn die durchdringende Schlichtheit der Bilder zeigt sich nur kurz, ehe sie wieder von ihrer Schwere abgelöst wird:

Ich sage: Licht, und ich sehe das zitternde Laub.
Ich sage: See, und im Einklang tanzen die Wogen.
Ich sage: Blatt, und ich spür auf den Lippen den Kuss.
Ich sage: Flamme, und schon kommst du als lohender Busch.

Die Zerrissenheit des lyrischen Ichs äußert sich in seiner Introspektion und einer simultanen Außenschau. Beide Herangehensweisen an die Welt gründen in dem Wunsch, nicht mehr „von einem absurden Geheimnis belastet zu werden“. Ein visueller Kontakt mit der Umgebung beinhaltet gleichzeitig ihre Mystifizierung, weil der Blick des Subjekts niemals objektiv sein kann. Schlunegger ist trotz seiner Beeinflussung durch die Romantik ein phänomenologischer Dichter, dem es auf seine Art gelingt, zu den Dingen selbst zurückzukehren: indem er sie sowohl verklärt als auch entzaubert.

Es ist schwer, diese poetologische Doppelbewegung im Deutschen nachzuverfolgen. Christoph Ferbers Übersetzungen sind daran grundlegend gescheitert. Sie decken das ganze Spektrum von ,falsch‘ bis ,unfreiwillig komisch‘ ab: „Der brennende, feine Regen setzt dir die Krone auf“ heißt es beispielweise dort, wo es ein simples „krönen“ auch getan hätte. Die Poetizität einzelner Bilder verschwindet unter einer dicken Schicht Sachlichkeit: „La forêt coule vers les cailloux des grèves.“ Bei Ferber steht Folgendes: „Zu Uferkieseln führt hinab der Wald.“ Das ist falsch, da „couler“ besser mit „rinnen“ wiederzugeben wäre; Schlunegger beschreibt hier keinen Weg, sondern den feinen Übergang zwischen Wald- und Flusslandschaft. Außerdem missachtet Ferber die französische Metrik im Allgemeinen und die Musikalität der Verse im Besonderen.

Jean-Pierre Schlunegger: Bewegtes Leuchten. Lueur mobile.
Limmat Verlag, Zürich 2014.
183 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783857917554

One Comment on “77. Jean-Pierre Schlunegger (1925-1944)

  1. Danke für den Hinweis bzgl. schlechter Übersetzung. Ich wollte mir das Buch Blind kaufen, lasse nun aber wohl die Finger von.

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