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Im Vorwort zur 1996 erschienenen Anthologie „Reich mir die steinerne Laute. Ukrainische Lyrik des 20. Jahrhunderts“ schreibt Jurij Andruchowytsch:
Die Poesie und Volksdichtung war im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte für die Ukrainer die einzige Überlebensmöglichkeit, sie füllte den gesamten geistigen Freiraum aus, der dem Volk in seinem kolonialen Dasein geblieben war.
Daraus ein Gedicht von Hryhorij Tschubaj (1949-1982)
CHRONIK Ihor Kalynez gewidmet damals zogen die ganze Nacht statt der Wolken Doppelbetten über unsere Stadt und es hieß daß gegen morgen aus ihnen ein Kopekenregen niederfiel die Gesichter der Uhren waren damals leichenblaß die Tränen der Minuten fielen immer gleichmäßiger zu Boden Unsere Pferde hatten sich im welken Laub versteckt und mit dem Laub trug sie der Wind davon als wir unseren Kaffee zu Ende tranken erschien ein kleiner Taschenmessias und sprach spielt nicht alle gleichzeitig den Helden ihr ähnelt sonst den Marktfrauen die die gleiche Ware feilbieten stellt euch an für das Heldentum und wartet solltet ihr jedoch sterben ohne etwas Heldenhaftes vollbracht zu haben dann war zumindest euer Anstehen für das Heldentum heldenhaft genug schließlich schleppte sich eine wahnsinnige Kirche am Café vorbei die vor Einsamkeit und Leere den Verstand verloren hatte 1971
Deutsch von Anna-Halja Horbatsch, aus: Reich mir die steinerne Laute. Ukrainische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Deutsch-Ukrainische Edition Lyrik. Auswahl und Einführung Jurij Andruchowycz. Reichelsheim: Brodina, 1996, S. 103
ХРОНІКА Ігорю Калинцю тоді всю ніч над нашим містом пливли двоспальні ліжка замість хмар повідали що з них ран- ком ішов копійчаний дощ тоді обличчя годинників були смертельно бліді і крапали на підлогу сльози хвилин щораз рівномірніше заховалися наші коні в буланому листі і разом із листям їх вітер кудись погнав а як ми допивали каву то явився нам кишеньковий месія й прорік не будьте героями всі одночасно бо станете тоді схожими на перекупок що пропонують один і той самий товар ставайте в чергу на героїзм і чекайте а якщо ви так і помрете не звершивши нічого геройського то ж хіба не геройством було ваше доброчесне стояння в черзі на героїзм а ще божевільна церква що збожеволіла од самоти й порожнечі повз кав'ярню поволі тоді брела 1971
Ebd. S. 102
Über den Autor
Im ukrainischen literarischen „Underground“ der siebziger Jahre spielte Hryhorij Tschubaj eine Schlüsselrolle. Für Ihn typisch ist eine in der ukrainischen Lyrik bis dahin ungekannte, spannungsgeladene Vereinigung des Philosophischen mit scharfsinnigem Gefühlsreichtum. Seine zumeist recht hermetischen Werke sind schwer zugänglich. Sie beeindrucken indes durch ihre Vollkommenheit und die absolute Zweckgebundenheit jedes einzelnen Buchstabens. Isoliert von der „großen Literatur“ durch Repressionsmaßnahmen des Regimes, verfolgt und ohne jegliche Möglichkeit zu publizieren, starb Tschubaj im Alter von 33 Jahren.
Sein einziger Gedichtband „Reden, schweigen und erneut reden” 1990 erschien in Kiew acht Jahre nach seinem Tod.
Mich hat der Text sehr beeindruckt und auch neugierig auf mehr gemacht. Gibt es diesen Gedichtband heute irgendwo zu kaufen. Bitte ggf. um Nachweis. Dank vorab. 🙂
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Den Verlag gibt es anscheinend nicht mehr, seit die Verlegerin 2011 gestorben ist. Sie finden das Buch aber bestimmt leicht bei Onlineantiquariaten, zB über eine Suche im Netz.
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