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Heute vor zehn Jahren starb die polnische Dichterin Wisława Szymborska (Literaturnobelpreis 1996).
Wisława Szymborska
(* 2. Juli1923 in Prowent; † 1. Februar 2012 in Krakau)
Jemand, den ich seit einiger Zeit beobachte Er kommt nicht haufenweise. Versammelt sich nicht in Scharen. Nimmt nicht massenhaft teil. Feiert nicht rauschend. Er bringt aus sich keine Chorstimme hervor. Verkündet nicht allseits. Behauptet nicht im Namen. Nicht in seiner Anwesenheit die Ausfragerei – wer ist für, wer dagegen, danke, ich sehe keinen. Sein Kopf fehlt, wo Kopf an Kopf, wo Schritt für Schritt, Schulter an Schulter vorwärts zum Ziel mit Flugblättern in der Tasche und dem Hopfenprodukt aus der Flasche. Wo’s nur am Anfang himmlisch idyllisch ist, weil bald ein Reich mit dem andern sich mischt und keiner mehr weiß, von wem, ach, von wem Steine und Blumen, Jubel und Schläge kommen. Unerwähnt. Unspektakulär. In der Stadtreinigung angestellt. Im Morgengrauen, an dem Ort, wo es stattfand, sammelt er, trägt weg, wirft in den Anhänger, was angenagelt an halbtote Bäume, was plattgetreten im geplagten Gras. Zerrissene Transparente, zerschlagenes Glas, verbrannte Puppen, abgenagte Knochen, Rosenkränze, Trillerpfeifen und Präservative. Einmal fand er im Gebüsch einen Taubenkäfig. Er nahm ihn mit und hat ihn behalten, damit er leer bleibt.
Deutsch von Renate Schmidgall, aus: Wisława Szymborska, Glückliche Liebe und andere Gedichte. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall und Karl Dedecius. Mit einer Nachbemerkung von Adam Zagajewski. Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 77f
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