Veröffentlicht am 1. Januar 2018 von lyrikzeitung
Theodor Kramer
(* 1. Januar 1897 in Niederhollabrunn; † 3. April 1958 in Wien)
Heuer 121 Jahr
Die Herberge
Seit an den Schläfen sich garnfarb mir sprenkelt das Haar,
möcht ich bisweilen vergessen vor Nacht, wer ich war,
möcht ich vergessen, was je ich gesehn und getan,
einziehn in eine der Herbergen hinter der Bahn.
Lang auf dem Eisenbett läg ich, von Kotzen* bedeckt,
starrte aufs wacklige Fenster, von Fliegen bedreckt,
hätt in der Nase vom Flur her den Dunst von Lysol,
rauchte mein Weichselholzpfeifchen und fühlte mich wohl.
Irgendwie stünd eine Rente am Ersten mir zu,
langte auf Kost und Logis und auf Wichs für die Schuh;
und alle heiligen Zeiten mal macht ich mich auf,
nähm mir zur Nacht ein vereinsamtes Mädel herauf.
Und wann die Lastzüge schwiegen, da späch ich zu ihr:
»Siehst du den Mond, Kind, und hörst du den Wind ums Quartier?
Dies ging uns beiden einst nah, es ist lange schon her;
wolln ein Stück Wurst, ein Glas Wein, und nur Ruhe — nicht mehr.«
*) Kotzen österr. = grobe Wolldecke
Aus: Theodor Kramer: Gesammelte Gedichte 1 [von 3]. Hrsg. Erwin Chvojka. M. e. Vorwort von Bruno Kreisky. Wien München Zürich: Europa Verlag, 1984, S. 524
Kategorie: Österreich, DeutschSchlagworte: L&Poe-Anthologie, Theodor Kramer
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