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(Hansens Flaschenpost)
Von Dirk Uwe Hansen (Greifswald)
Ich muss einen Text nicht lieben, um ihn zu übersetzen, aber ich muss ihn respektieren, sonst geht die Sache garantiert schief. Allerdings darf der Respekt nie so groß werden, dass er in Angst umschlägt, denn zu übersetzende Texte sind wie Hunde: Sie können Angst riechen — und dann geht die Sache erst recht schief.
Soweit ist alles klar, aber trotzdem gibt es sicher für jedeN ÜbersetzerIn so etwas wie Angstgegner, und meine kommen hauptsächlich aus dem Bereich „Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten“. Das ist natürlich nicht die Sorte Angst, die vor Rezensenten zittern macht — als gelernter Altphilologe kenne ich die rabies philologorum, die Philologentollwut (nein, das ist keine sprichwörtliche Redensart sondern eine Diagnose) zu gut, um mich bange machen zu lassen. Fehler zu machen schreckt mich also nicht, auch wenn Sprichwörter eine reichlich fließende Fehlerquelle sind, und mir der Kater, den man bekommt, wenn man eine Nacht lang versucht hat, in eulenspiegelscher Manier Ärmel an ein Wams zu werfen, wohl vertraut ist. Aber dagegen sind genug Kräuter gewachsen. Für das Neugriechische habe ich ja stets Muttersprachler an der Seite, und im Altgriechischen gibt es wohl kaum ein Wort, das in den letzten Jahrhunderten nicht schon zwei- oder dreimal umgedreht worden wäre, und das Umdrehen in umfangreichen Kommentaren und Lexika dokumentiert, für den Fall, dass sich eine Wendung nicht aus dem Stegreif übersetzen lässt; aus dem Steg-Reif, dem Steigbügel also ohne dafür extra vom Pferd abzusteigen. Und wenn nicht, dann kann man damit auch leben; wenn etwa in einem Fragment aus einer Komödie Menanders gesagt wird: „Das Schwein ist im Gebirge, wie man so sagt…”, dann könnte hier ein Sprichwort gemeint sein: Der Jäger prahlt schon mit seiner Beute, aber das Schwein ist noch lebendig und im Gebirge. Sicher ist das nicht, denn dieses Sprichwort lässt sich erst für das mittelalterliche Sizilien nachweisen. Also sollte auch der Übersetzer die Haut des Bären nicht vorzeitig zu Markte tragen und das Schwein eben in den Bergen lassen.
Angst habe ich vielmehr davor, den Lesern meiner Übersetzung ein Vergnügen vorenthalten zu müssen, das ich als Leser des Originals empfunden habe, und – vielleicht noch schlimmer – sie bevormunden zu müssen, als dürfte man ihnen die Spannung, die aus der Möglichkeit entsteht, den Blick zwischen der mehr oder weniger banalen Bedeutung und der vielschichtigen Formulierung eines Sprichwortes wandern zu lassen, nicht zumuten; als dürften sie nicht selbst entscheiden, ob sie „aus dem Stegreif“ nur als „schnell und einfach“ verstehen, oder ob sie Steigbügel und schnellen Ritt vor Augen und das Schnauben der Pferde im Ohr haben wollen (oder ist der Stegreif schon in tausend schalen Mündern so rundgelutscht, dass wir die heimliche Botschaft so wenig hören wie der Esel die Lyra, sozusagen?).
Ich fühle mich dabei oft wie ein Maler, der versucht, ein Aquarell mit Acrylfarben zu kopieren: Wo im Original durch die obere Farbschicht der übertragenen immer noch die untere Schicht der wörtlichen Bedeutung hindurchleuchtet, muss ich mit dem tumben Spachtel die eine unter der anderen begraben und es bleibt nur eine entweder eindeutig langweilige oder eine fremdartig unverständliche Schicht sichtbar.
Τὼ βόε μοι· σῖτον δὲ τετεύχατον, ἵλαθι, Δηοῖ,
δέχνυσο δ‘ ἐκ μάζης, οὐκ ἀπὸ βουκολίων·
δὸς δὲ βόε ζώειν ἐτύμω καὶ πλῆσον ἀρούρας
δράγματος, ὀλβίστην ἀντιδιδοῦσα χάριν.
σῷ γὰρ ἀρουροπόνῳ Φιλαλήθεϊ τέτρατος ἤδη
κτάδος ἑνδεκάτης ἐστὶ φίλος λυκάβας,
οὐδέποτ‘ ἀμήσαντι Κορινθικόν, οὔ ποτε πικρᾶς
τῆς ἀφιλοσταχύου γευσαμένῳ πενίης.
Wieder ein Genrestückchen aus der Anthologia Graeca (6,40), diesmal zum Thema „Lob der Bescheidenheit” von Makedonios Hypatos. Ein alter Bauer opfert der Demeter zwei aus Brotteig geformte Stiere, weil sein Vermögen für ein größeres Opfer nicht ausreicht.
Zwei Rinder; die haben mir mein Brot verschafft; sei gnädig, Deo,
nimm sie aus Teig geformt an, nicht wie sie aus dem Stall kommen.
Lass die Rinder am Leben, die echten, und fülle mein Land
mit Getreide; so erweist du mir die größte Gegengunst.
Denn dein Pflüger Philalethes lebt schon das vierte
Jahr seiner neunten Dekade,
hat nie korinthische Ernte eingebracht, hat aber auch nie
die bittere, ährenhassende Armut gekostet.
Das Problem ist die „korinthische Ernte”. Korinthisch steht im Griechischen sprichwörtlich für eine besonders reiche Ernte. Das lässt sich im Lexikon nachschlagen. Ich kann also den Farbtupfer, der ja zugleich neben diesem schlichten Bauern und seinem schlichten Opfer das prächtige Korinth dem Leser vor Augen bringt, im Text stehen lassen und in den Fußnoten erklären. Oder ich spachtele eben die aus dem Lexikon entnommene Bedeutung in der Übersetzung darüber („…hat nie besonders reiche Ernte eingebracht…”) und aus ist es mit der schönen Assoziation. Aber man kann ja mit Acrylfarben zwar nicht in Schichten malen, mischen kann man sie aber doch: „…hat nie gelebt wie Gott in Frankreich, hat aber auch nie die Armut kosten müssen.” Natürlich ist eine solche Übersetzung in die Gegenwartsprache verführerisch, macht den Übersetzer ein bisschen stolz und ja, Korinths Image in der Antike (luxuriös, kultiviert und ein bisschen frivol) spiegelt sich sehr schön im Image, das Frankreich in dieser Wendung anhaftet. Oder doch nicht? Hintergehe ich nicht den Leser der Übersetzung, wenn ich ihm den Eindruck vermittle, ein antiker Dichter habe so gesprochen und gedacht wie einer des 19. oder 20. Jahrhunderts? Es ist ein Elend; und ich habe, bevor ich mich für die erste Lösung entschieden habe, bestimmt einen ganzen Nachmittag mit Tupfen, Spachteln, Mischen und wieder abkratzen der Farbschichten verbracht.
Es kann aber auch passieren, dass ich in eine Falle tappe, in der ich mich so wohl fühle, dass ich sie gar nicht mehr verlassen mag. για ανέμους και για νερά (über Winde und Wasser) sagt man im neugriechischen sprichwörtlich für „über dieses und jenes sprechen”. Das wusste ich nicht nur nicht, die Wendung hat mir in dem Gedicht „Es ist untersagt” von Katerina Angelaki-Rooke so gut gefallen, dass ich in der Übersetzung auch dann nicht davon lassen wollte, als meine griechischsprachigen Freunde darauf hingewiesen haben. Der Farbtupfer allein hätte den Leser irregeführt, ihn zuzuspachteln habe ich nicht übers Herz gebracht, so wenig wie neu mischen (von Hölzchen auf Stöckchen kommen?) und am Ende haben wir beide Farbflächen einfach nebeneinander gesetzt.
Hier das ganze Gedicht in der Übersetzung von Jorgos Kartakis und mir, im Anschluss das griechische Original:
Es ist untersagt
Komm nicht näher;
ich kenne diesen Gang in der Dunkelheit,
die sich genauso anschleicht.
Geh nicht auf Zehenspitzen,
denn ich stelle mir deine Fußnägel vor wie kleine Muscheln,
die leuchten an deinem ozeanischen Körper.
Sprich nicht; ich kenne diese Unterhaltung,
angeblich über Winde und Wasser, über dies und das,
in Wahrheit jedoch über die Wesen und wie sie sich fühlen,
wenn du sie berührst.
Denk nicht; ich kenne diese Gedanken,
angeblich an Gott,
der im Tempel deiner Brust wohnt,
in Wirklichkeit aber,
damit du mich fernhältst
von jeder fleischlichen Schlussfolgerung.
Atme nicht mehr;
du sagst mir, dass es nötig ist,
damit du leben kannst.
Ich glaube es nicht; du tust all das,
um mich in Versuchung zu führen,
um mich umzubringen.
Existiere nicht; es gibt kein „Warum“. Einfach so.
Komm nicht näher.
Απαγορευτικό
Μην πλησιάζεις΄
το ξέρω αυτό το βήμα μες στο σκοτάδι
που σιμώνει κι αυτό.
Μη νυχοπατάς΄
γιατί φαντάζομαι τα νύχια των ποδιών σου
να λάμπουν σαν αχηβαδάκια στην άκρη του ωκεάνιου σώματός σου.
Μη μιλάς΄ την ξέρω αυτή την κουβέντα
για ανέμους δήθεν και για νερά
στην ουσία όμως για όντα και πώς νιώθουν αυτά
όταν τ΄αγγίζεις.
Μη σκέφτεσαι΄ τις ξέρω αυτές τις σκέψεις
για το Θεό τάχα
που κατοικεί στο ναό του στήθους σου
στην πραγματικότητα όμως
για να με κρατάς
έξω από κάθε ζωικό συμπέρασμα.
Μην ανασαίνεις΄
πως είναι μου λες απαραίτητο για να ζεις.
Δεν τα πιστεύω εγώ αυτά΄
για να με δαιμονίσεις το κάνεις να με πεθάνεις.
Μην υπάρχεις΄ δεν έχει «γιατί». Γιατί έτσι.
Μην πλησιάζεις.
Eine „korinthische Ernte” diskutierten wir jüngst mit Vladimir Gorochov. Er hatte ein ironisches Gedicht über den Puschkin-Diskurs geschrieben, der betonte, wie Puschkin, von welcher Seite man ihn auch ansähe, doch immer Puschkin bliebe. Er hatte seine Übersetzerin ermuntert, Puschkin mit „Goethe“ zu übersetzen. Nur ist leider Goethe viel weniger ein lebendiger Klassiker als Puschkin. Es wird in Deutschland relativ wenig Angestellte geben, die Goethe lesen, gern darüber reden und dies auch noch in beiläufiger Selbstverständlichkeit. Sie werden sich irgendwie als Menschen mit einem wahlweise bemerkenswerten oder merkwürdigem Geschmack erleben. Wahrscheinlich wäre „Shakespeare“ als Übersetzung für „Puschkin“ treffender? Der ist auch beiläufig noch lebendig, gekannt und von Menschen für entdeckenswert gehalten, die ansonsten keine Klassiker lesen.
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