16. Neuste slowakische Poesie

Die meisten Werke aus der Zeit um die Jahrtausendwende lassen sich konzeptuell vier Entwicklungslinien zuordnen, wodurch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Aktivitäten der etwa seit Ende der 80er Jahre neu erscheinenden DichterInnen und Poetiken deutlich werden. Die ersten beiden, die Poesie des nonkonformen Individualismus und die Poesie des Privaten, formierten sich noch unter den Bedingungen des kommunistischen Regimes. In den 90er Jahren entstanden zwei weitere, zunächst die spirituelle Poesie, dann die experimentell-dekonstruktive Poesie. Mit Ausnahme der letzteren hatte die Poesie jener Zeit einen Subjektivismus zur Grundlage, der sowohl durch die thematische Verankerung des lyrischen Subjekts in der konkreten Erfahrung, als auch durch die Arbeit mit anerkannten Ausdrucksmitteln hervortrat, indem diese einer betonten Stilisierung des Dichtersubjekts entsprachen. Die expressive Poesie des nonkonformen Individualismus (J. Urban, I. Kolenič, P. Bilý) ging vom Konflikt zwischen dem freiheitlich denkenden Subjekt und der Mehrheitsgesellschaft aus und knüpfte insbesondere an den poetischen Gestus der Beatniks an. Die sehr viel nüchternere Poesie [der in Tschechien und der Slowakei gebräuchliche Begriff der „zivilen“ Poesie wurde zur besseren Verständlichkeit durch den der „nüchternen“ ersetzt, Anm. d. Ü.] des Privaten (M. Brück, M. Hatala, M. Vlado) reflektierte Alltägliches, wobei die Autoren sich auf überzeitliche, traditionelle Werte zu stützen suchten. Die spirituelle Lyrik (E. J. Groch, R. Jurolek, M. Milčák) war im Prinzip eine reflexiv-philosophische Poesie, die in nüchterner oder allegorisch-mythologischer Form das Leben aus der Sicht des christlichen Glaubens spiegelte. Impulse erhielt sie aus weltweiten Quellen konfessioneller und meditativer Poesie.

Es dominierte also eine Vorstellung von Poesie als Werkzeug eines authentischen Ausdrucks des autonomen Subjekts. Bald jedoch tauchten auch DichterInnen auf, die sowohl Zweifel an der so hoch bewerteten subjektiven Empirie, als auch an den kommunikativen Fähigkeiten der Literatur hatten. AutorInnen der experimentell-dekonstruktiven Poesie ließen sich von ausländischen künstlerischen (Post-)Avantgarden inspirieren, reagierten auf Impulse der (post)modernen Philosophie, namentlich des französischen (Post-)Strukturalismus, und verarbeiteten mintunter auch popkulturelle Importe.

/ Auszug aus: Kontexte und Konturen der neuen Entwicklungen in der Slowakischen Poesie. Feldnotizen von Jaroslav Šrank
übersetzt von Lena Dorn

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