96. Dichtung in dürftiger Zeit

Was wäre, wenn Politiker ihre Sitzungen mit einem Gedicht eröffnen würden? Das schlug kürzlich Michael Krüger im Schloss Bellevue vor. Marie Luise Knott nimmt den Faden auf und spinnt ihn weiter: Über den Einfluss William Carlos Williams‘ auf Bankdirektoren, Oskar Pastiors auf eine Redaktionssitzung des Stern oder des Seeschlangensongs auf das Außenministerium…

Auszug:

Es gelingt einem nicht, sich auszumalen, dass Ronald Pofalla eine Kabinettssitzung mit Paul Celan eröffnet. Nicht einmal die Zeile: „Denk an die Zeit, da die Nacht mit uns auf den Berg stieg,“ ist aus seinem Munde vorstellbar. Geschweige denn: „Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, / niemand bespricht unseren Staub./ Niemand. /// Gelobt seist du, Niemand.

Es geht hier nicht um Politiker-Basching: die in diesem Gedicht („Niemandsrose“) beschworene Solidarität des „Wir“ unter den Menschen ist im Nicht-Alltäglichen angesiedelt. Allein der Ton — dieses versuchsweise Stammeln der Celanschen Welt-Wiedergewinnung — greift in unsere Ursprünge zurück. Übergangslos kann niemand danach zur Tagesordnung übergehen.

(…)

Hölderlin, Goethe, Hebbel und sogar Opitz als Sitzungsbeginn – das klingt ein wenig wie Sehnsucht nach einer Rückkehr heiliger Handlungen ins profane Heute. Gedichte als Gebetsersatz? Mit einem Würfel auf dem Tisch womöglich, mit dem einst die Tageslosung ausgewürfelt würde? So hat es Krüger sicher nicht gemeint.

Eine klammheimliche Freude befällt einen bei der Vorstellung, ein Meeting von Hedgefond-Managern im Frankfurter Flughafen oder auch eine Redaktionssitzung des Stern begänne mit einem Gedicht von Oskar Pastior:

Wer kommt denn da so Morgenschön ?
Wer morgent da so schön heran ?
Wer schönt heran so morgenda ?
Dat wer schön so am Morgen ?
Wer kömmt da mor wer dennt da schön ?
Wer gent so mör wer sot so kömm ?
Wer hert wer wert denn sö ?
Kömmt da wer ?
Mört wer dä ?
Wer dä !
Mörg.

Hier, bei Pastior, werden die Strickleitern des schönen Klangs derart festgezurrt, dass der Sinn Neuland erklimmt. Verse von ureigenster Komik, dessen Eigenreich sich in keinen alltäglichen Erledigungsmodus eingemeinden lässt. Ja, da kömmt wer. Aber nicht heute, sondern Morgen. Mörg. In solchen Reichen geschmiedeter Verse herrschen andere Regeln, sie wollen gesondert erkundet werden und bieten uns dank Klang, Rhythmus, Reim deutliche Wegweiser. Doch auch äußerlich näherliegende Gedankenwelten wie Heines „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ – taugen sie wirklich zum Sitzungsvortrag? Je mehr man in den Krüger-Vorschlag eintaucht und vermittels dieses Vorschlags sich das Reich der Dichtung anschaut – ob inniges Bild der Romantik, ornamentales Barock oder expressionistischer Gefühlsauftrag – je mehr man eintaucht, desto klarer erkennt man: Dichterworte wirken aus einer anderen Welt. Sie widersetzen sich dem Einsatz. Doch es stellt sich ein großes Vergnügen ein, denn all diese Verse sind ja ein Vergnügen. Je länger man sich den Krüger-Vorschlag nicht vorstellen kann, desto mehr verdichtet sich die Erkenntnis, dass an dem dahinterstehenden Wunsch nach einer Repoetisierung des Lebens in diesen dürftigen Zeiten was dran ist. Dass Dichtung sozusagen etwas zum Glühen bringt. Auch diese Zeilen von Uljana Wolfs zeugen davon:

wenn es Zeit ist für orangen, ist keine zeit, no time at all, für nichts. ich esse nur orangen, at least they exist, wenn sonst nicht viel ist, no things at all, nicht viel. zierliche schiffchen und zähe dünne haut. ich zutsche sie stundenlang aus. keeps me beschäftigt.

Mehr im Perlentaucher (http://www.perlentaucher.de/tagtigall/die-geheimen-gesetzgeber-der-welt.html)

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