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Fortsetzungsessay von Theo Breuer
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Das Gedicht ist vor Ort. Es vermisst die Welt und zeigt, wie maßlos und unermesslich sie ist. Das Gedicht ist überall, im Irrenhaus, am Krankenbett, auf dem Klo, im Wartezimmer des Arztes, im Central Park, unter Strommasten, auf dem Pferderücken, in den unterschiedlichsten Landschaften.
Jürgen Brôcan
Was stört mich das Geschwätz von gestern, wenn Postbote Guido Büchersendungen bringt, die ich gar nicht schnell genug öffnen kann vor lauter Kitzel und Neugierde, Interesse und Ungeduld. Umgehend verblassen beim Öffnen der Päckchen und Pakete diese schnell hingeworfenen, zumeist für den Moment geschriebenen Posts, Kommentare, Leserbriefe und sonstigen Reaktionen, die wir Tag für Tag im Internet und anderswo lesen. Wie groß aber ist die (zum Glück in diesen Jahren eher selten eintretende) Enttäuschung, wenn ich ein Buch aufschlage, den ersten Text lese, die Mundwinkel sich unmerklich nach unten verziehen und ich, fast verstört schon, den zweiten Text lese, den dritten, den vierten, den fünften – und nichts passiert, das heißt, nicht nichts (denn nichts gibt es ja gar nicht), aber nicht das, was ich mir – naturgemäß – jedes Mal erhoffe, wenn ich ein Buch, das Gedichte auf dem Titel verspricht, zu lesen.
Kürzlich gab es eine solche Enttäuschung bei einem 2008 erschienenen Band eines schon ein wenig in die Jahre gekommenen Autors, der weiterhin recht viel schreibt und weiterhin relativ erfolgreich zu sein scheint, was die Auflagenzahlen seiner Bücher angeht. Im Begleitschreiben des Buches ist von fast tausend in wenigen Monaten unter die Leute gebrachten Exemplaren die Rede, eine mich ziemlich verblüffende Zahl, denn insgesamt scheint es nach 2000 im Vergleich zu den 90er oder gar 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer schwieriger zu werden, auch herausragende Gedichtbücher an die Frau oder den Mann zu bringen. Das lyrische Internet, dessen gute Seiten ich sehr schätze, scheint mehr und mehr zur fast übermächtigen Konkurrenz fürs Gedichtbuch und das Interesse am Erwerb von Büchern, belohnt mit dem sinnlichen Genuß des Blickens, Blätterns, Fühlens, Spürens, am Aufbau einer Sammlung immer geringer zu werden.
Ich las und las und las und dachte, was ich immer denke, wenn bedruckte Seiten nicht so bei mir ankommen, wie ich es dem Autor, dem Buch und mir als Leser wünsche: Okay, offensichtlich ist das größte anzunehmende Lyrikunheil eingetreten, du bist augenscheinlich übersättigt, offenbar prallen die Gedichte ab heute von dir ab, du hast anscheinend mehr als genug Gedichte gelesen, das kommt dir alles nur noch als zweiter oder dritter Aufguß vor usw. usw. usw., denn ich empfand nichts als Langeweile und Desinteresse, und so las ich zwar (wie meistens bei solchen Büchern vergeblich auf Besserung hoffend) viel zu viele Seiten, brach aber irgendwann gegen Ende des Bandes den Kopf schüttelnd und vor mich hin brummelnd ab.
Mißmutig verlebte ich den Rest des Tages und dachte kummervoll an eine lyriklose Zukunft: Und schrieb, und schrieb an weißer Wand / Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand. Ich saß da mit schlotternden Knien und totenblaß. Aus und vorbei. Ich sah in den Garten auf die blattlosen Bäume mit ihren feuchten schwarzen Stämmen und den labyrinthischen Astgerippen, in denen die Vögelein schwiegen. Wie soll dat bloß wiggerjonn? singen die Bläck Föös, und ich begriff erstmals die elegisch klingende Frage, die ich seit Jahrzehnten schon kenne und so oft schon gedankenlos mitgesummt habe. Das war’s dann wohl. Mund abputzen und weitermachen, wie der ehemalige Manager Rainer Calmund nach Niederlagen seiner Leverkusener Werkstruppe gebetsmühlenartig posaunte? Hallo?
Am nächsten Tag dann die Büchersendung vom Poetenladen mit der sechsten Ausgabe der Literaturzeitschrift poet – in der ich in zum Teil hochinteressanten Gesprächen mit Friederike Mayröcker (bei jeder Gelegenheit wiederhole ich es gern: ein lyrischer Liebling), Dagmar Nick, Giwi Margwelaschwili, Reiner Kunze, Urs Widmer und Gerhard Zwerenz mit eigenen Augen lese, daß diese Autoren quasi nix mitkriegen von der Power des ständig über die Ufer tretenden Lyrikstroms, der in diesen 2000er Jahren – gleichsam wildgeworden – durch deutsche Städte und Provinzen rauscht. Tiefpunkt einiger zum Teil un/freiwillig drollig klingender Aussagen: Und ich muß auch gestehen, daß ich mit vielen jüngeren Stimmen, wenn ich sie in Zeitschriften finde, nichts anfangen kann – daß ich sie einfach nicht verstehe oder überflüssig finde (Dagmar Nick) – sowie, und jetzt kommt’s, endlich, endlich, Sandra Trojans Gedichtband Um uns arm zu machen.
Wenn ich in Bienen spreche
meine ich Unschärfe, Murmeln
Nektar am Mund. Und wenn ich in
Birnen spreche, in Äpfeln, in Zellen
in Kisten, von Zungen zerfressen
in Zungen, in Menschen, meine ich
Menschen:Schwärme gestempelt
innen & außen, ein Bienentanz
und damit meine ich: Bienentanz
Gleich vom ersten Gedicht Wenn ich in Bienen spreche werde ich hellwach gesummt. Jedwedes dräuende Hirngespinst hat sich im Nu in Nichts aufgelöst. Ich schwebe durch den Funkenflug der Wörter, beginne umgehend im Rhythmus der Verse zu atmen und bin ebenso beglückt und begeistert, wie es Michael Gratz, Herausgeber der Lyrikzeitung, nach der Lektüre dieses die Leser reich machenden Lyrikbands in der Nachricht 58 vom 12. März 2009 – Frisch aus der Post – beschreibt.
Während ich in diesen Tagen in Jörg Bernigs wüten gegen die stunden und Björn Kuhligks Von der Oberfläche der Erde unter den vielen Gedichten einzelne (sehr) starke Stücke finde, deren Duktus im Gedächtnis haften bleibt, besticht in Sandra Trojans Buch die Geschlossenheit des durchgängig beseelten, schwingenden, vielfältigen Ganzen, dessen energisch auftretende Teile weitestgehend zu einer Wortgestalt verschmelzen, die ich gnadenlos meiner Lyrikseele einverleibe.
Sandra Trojan hat früh gefunden, was manche freilich oft vergeblich beim Schreiben aufzuspüren suchen: Stil (Wenn er da ist, ist es gut, Norbert Hummelt), dynamisch erwachsen aus vielen einfach guten, resonanten Wörtern, deren Lebenssaft mir die Lefzen herunterläuft: Und wollene Moose spannen straff. Diesem herrlich geglückten Gedichtbuch wünsche ich tausend Leser – und noch 354 mehr.
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