25. Der Meraner Geschmack

Über die Finalisten und die Preisträger von Meran (#22) schreibt Paul Jandl in der NZZ vom 8.5.:

Prall gefüllt ist der kulturelle Fundus des aus Stuttgart stammenden und in Berlin lebenden Ulf Stolterfoht. Stolterfohts «lingualer drang» amalgamiert die Sprache des Barock mit jener der Elektrotechnik, Hip-Hop mit der Goethe-Zeit. «Des Knaben Wunderhorn» wird in «drei kampfliedern aus nord-württemberg» mit dem ächzenden Anarchismus der Achtundsechziger verschnitten: «auf auf! ihr auserwählten / fäuste! und würget mit anarcho-kraft / des molochs ungestalte brut.» Bei Stolterfohts bildungssattem Auftritt rauschen Johann Gottlieb Herders «Kritische Wälder» noch einmal. …
Ulrike A. Sandig, Jahrgang 1979 und Studentin am Leipziger Literaturinstitut, schreibt lakonische Gedichte, fern von Tempo und zerebraler Gegenwart. Und ein wenig wie Sarah Kirsch: «war der tisch, war der stuhl, sass ein kind / in der küche und ass, war es still auf dem flur, / ging niemand herum und zählte die eigenen / schritte.» «Anmutig zärtlich», wie die Jury meint, sei dieser Blick «auf eine geheimnisvolle, bisweilen unheimliche Welt», den man sich dann doch gerne wieder konterkarieren lässt. Etwa durch Jan Volker Röhnerts plüschige Poplyrik, die den hohen Ton durch blechern verstimmte Tröten treibt, bis sie so melancholisch klingen wie sein «Chanson perdue».
Eine «Echoarchäologie» betreibt Hartwig Mauritz mit seinen Gedichten, die Bild um Bild übereinander legen. Ganz in der Gegenwart angekommen ist Ron Winklers überzeugende Kunst. Digital sind seine Surrogate der Idyllen: «Wald ist eine schöne Form von Agglutierung» heisst es da, «ein geflügelter Raum / mit dem Potenzial weitgehend richtig zu sein. / ich kann dir das gern mal brennen.» Am «Lago Momentane» fühlt sich Winklers lyrisches Ich «auffallend jetzt». Der Jury war das zu wenig zeitlos. Ein Verdikt, das auf den Aarauer Andreas Neeser wohl nicht zutraf. Er erhielt für seine «Schichtungen menschlicher Erfahrungen und Erinnerungen», wie es in der Urteilsbegründung heisst, den mit 2100 Euro dotierten Medienpreis der RAI / Sender Bozen.
Sein Fazit:
«Wenn unsere Seele sich lange geübt hat, über Vollkommenheit und Unvollkommenheit der Dinge zu urteilen, so ist der Geschmack da», schreibt Herder in seinen besagten «Kritischen Wäldern». Der Meraner Geschmack ist schon seit einigen Jahren da. Es ist eine Lyrik des poetisch aufgeladenen Schauens, die hier die besten Chancen hat. Mögen die Wortjongleure oder Aktualitätsbesessenen unter den Dichtern auch gekränkt sein – auf den letzten Meraner Preisträger Michael Donhauser folgt ziemlich nahtlos Ulrike A. Sandigs Inventur des Blickfelds: «kommt wind auf, zittern die körper von fliegen, libellen / den wespen im gitter und schlagen die stoffe weit aus / und zerren am sims, an den rahmen aus eichholz.»
Mehr: Nachrichten.ch 8.5.

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