Christian Morgenstern? Das Knie?

[✺] 

Elisabeth Wandeler-Deck 2020, © Ayse Yavas

Von Elisabeth Wandeler-Deck

 

Ob mein Opa Christian Morgenstern begegnet ist, ich kann es nicht fragen. Ihre Wege, hätten sie sich in Morgensterns Wald kreuzen können? Grossvater ging gerne laufen, wie er sagte, er ging, nach dem Mittagsschlaf, ein, wie man da sagte, ein alter Mann, jünger aber, als ich jetzt bin, in den Wald. Sah er das Knie? War er ein einsames Knie? Ein zählendes Perlhuhn?

Opa zählte. Er zählte, was er aufzählte, ich daneben, ging „oh cet echo“.

Sei nie Knie allein nie, nie.

Im Wald. Zählte Sichtbares, was er sah, was er ablas. Die Eule, die Ringeltaubenlaute. Schrittfolgen, Buchstaben hin und her, diese Buchstaben, die sich zu Vor- und Rückwärtssätzen fügten, mit Wörtern drin, die heute ungebräuchlich, verpönt „sei mein nie fies sei fein nie mies“ schon dazumal, heute aus dem Wortschatz entfernt ihre Spuren nicht gelöscht haben. Opa weiss das, nicht, wusste, wusste, wissen, sagte, sagte anderes, manches, beim Spazieren im Wald, beim Händewaschen am Brünnchen, von dem, er lachte, dem Kind beigebracht wurde das Nichtsagen, das Verbot, in einem Sagen, gleichzeitig, zugleich, so, wenn er wiederholte und wiederholte: „ein neger mit gazelle zagt im regen nie“ oder: „… freibier freibier freibier f …“

Im Wald. Morgensterns Wald. Opas Wald. Mein Wald.

Morgensterns Wald. Das Knie im Wald.

Das Knie

Ein Knie geht einsam durch die Welt
Es ist ein Knie, sonst nichts
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.

Im Kriege ward einmal ein Mann
erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt –
als wärs ein Heiligtum.

Seitdem geht’s einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.

Im Wald. Überstürze mich von da her in eine Verwirrung, und hineinstürze mich als mich, als ein damaliges Ich, in einen Wald, den ich so nicht kannte, oder war es in Morgensterns Waldgebiet hinein, ins Gestrüpp, ins Unterholz, das ja im Gedicht nicht genannt wird, von welchem Morgenstern nicht schreibt, den es so ja gar nicht gibt, o je, ich sah ja damals und noch jetzt sehe ich das so, ich kann mich und will mich vom Bild nicht trennen, das Knie, das kein Baum war, und kein Zelt, irren im Wald in der Irrnis des Waldes, des zusammengeschossenen Waldes. Den ich erst, viele Jahre später erschreckt sah, in welchem ich stand und nach dem Knie Ausschau hielt. Am Rand von Finnland der Wald, schon beinah in Russland, der so Jahre, zweiundzwanzig Jahre, bevor ich da im Wald, dort am Waldrand ging, war im Winterkrieg zusammengeschossen worden, man meinte, meine finnischen Verwandten dachten, das Knie vorbeiirren zu sehen, den Mamawimmer zu hören, der zusammengeschossenen Menschen, Mannmenschen. Welchen später dann in den jeweiligen Sprachen, in den jeweiligen Strassenbahnen Sitzplätze reserviert waren, soweit sie als Kriegsversehrte davon Gebrauch machen konnten. Ich stelle mir vor, Morgenstern, als kleiner Bub, konnte dem Anblick Versehrter aus dem Deutsch-Französischen Krieg möglicherweise nicht ausweichen und lernte das Hinblicken kennen, nicht hinstarren, das tut man nicht. Und lernte zählen.

Und zählte. Zählte die Versehrungen, die Glanzpunkte, erblickte, wo denn, das Perlhuhn, dessen Kolleginnen längst auf dem Dachfirst sich die Seele aus dem Leib schrien, den Abend herbeiriefen, was auch immer.

Ob jemand erzählte, die Dinge, die erblickten, sah, herauslöste im Sehen als ein einsames Ding, ein einsam gemachtes Ding, im Blick einsam gewordenes, als einsam erkanntes Ding, zum Beispiel einen Schaukelstuhl, ein betrachtetes, vom Blick gestreicheltes, gestreiftes, erfasstes, einsam gemachtes, parzelliertes Ding, alles, was sonst noch wackeln mag, im Winde, im Winde, im Winde. Ein vom Blick herausgelöstes, ausgelöstes Ding (Francis Ponge, Georges Perec). Ein im Wort, das es benannte, getötetes, im Gedicht ungefährlich gemachtes, zum Verschwinden gebrachtes, aufgehobenes Ding (Maurice Blanchot)? Davon andernorts später vielleicht mehr. Dazu wäre vieles zu sagen, gerade anhand von Morgensterns Gedichten.

Das Perlhuhn

Das Perlhuhn zählt: Eins, zwei, drei, vier …
Was zählt es wohl, das gute Tier,
dort unter den dunklen Erlen?

Es zählt, von Wissensdrang gejückt,
(die es sowohl wie uns entzückt:)
die Anzahl seiner Perlen.

Vielleicht.Ein Seufzer. … und er sank – und ward nimmermehr gesehen.Vielleicht.

Das Butterbrotpapier

Ein Butterbrotpapier im Wald,
da es beschneit wird, fühlt sich kalt.

Frag. Frag doch. Frag. Fragnichtlang.

aus Angst, so sagte ich, fing an,
zu denken, fing, hob an, begann.

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2 Comments on “Christian Morgenstern? Das Knie?

  1. Anregender Rhythmus des Textes. Wie aus der Welt gefallen, Erinnerungen steigen in mir auf, Butterbrotpapier, Perlhühner, Waldrand u.a.

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  2. Pingback: L&Poe Journal 1 (2021) – Lyrikzeitung & Poetry News

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