Ständchen

Uwe Greßmann 

(* 1. Mai 1933 in Berlin; † 30. Oktober 1969 in Berlin) 

Ständchen

In den Kurven spielen 
Straßenbahnen Geige.

Ach, so mancher denkt da 
Seiner Freundin oder

Träumt von kommenden Dingen. 
Aber die meisten klagen

Und nennen es ohrenbetäubenden Lärm, 
Oder gehen achtlos daran vorüber.

Ganz einfach, weil sie wie so oft 
Die Feier im Alltag nicht sehen.

Der wer die Seitenstraße langgeht, kann ja, 
Sucht er die Eintrittskarte

In der Manteltasche, auch 
Das Konzert der Fahrzeuge da schon hören,

Falls er keine Zeit mehr hat, 
Die musische Stätte direkt aufzusuchen.

Aus: Uwe Greßmann, Lebenskünstler. Gedichte. Faust. Lebenszeugnisse. Erinnerungen an Greßmann. Leipzig: Reclam, 1982, S. 59

Brief von Ingeborg Weber an Neues Deutschland

VK* Ingeborg Weber
Cainsdorf
Wehrweg 13

16.2. 63

Liebes Neues Deutschland!**

Ich möchte Dir eine kleine Einschätzung über das Gedicht von Uwe Greßmann „Ständchen“ erschienen in der Beilage „Die gebildete Nation“*** vom 2.2.63 geben.

Es gehören schon sehr starke Nerven dazu, das Gekreische der Straßenbahn an den Kurven als Geigenklänge zu bezeichnen. Ich halte mir bei solchem Krach die Ohren zu, denke an die armen Menschen, die an diesen Ecken wohnen und diesem Krach täglich des öfteren ausgesetzt sind, und an die Kinder, die in ihrem Schlaf geweckt werden, und verwünsche das Gekreische. Träumen kann man dabei auch nicht. Ich weiß nicht, was sich der Schriftsteller für Vorstellungen gemacht hat, aber bestimmt nicht solche, die einen Arbeiter bewegen. Wenn das Gekreische der Straßenbahnen Geigenmusik ist, dann frage ich mich, was ist dann die Musik von Johann Strauß, um nur einen Komponisten zu nennen.

Mir ist noch sehr gut die Sendung „Konferenzpause“ im Fernsehen in Erinnerung. Heinz Quermann brachte dort einen sehr schönen Vergleich über ein Gedicht „Der Wurm“. Dieses Ständchen liegt fast auf der gleichen Ebene.

Ich habe mit mehreren schreibenden Arbeitern und anderen Kumpeln unseres Werkes darüber gesprochen, und sie finden dieses Gedicht auch nicht nach ihrem Geschmack. Die Feier im Alltag liegt nicht im Gekreisch der Straßenbahnen in den Kurven, da gibt es viel schönere Dinge.

Mit sozialistischem Gruß!

VK Ingeborg Weber VEB Steinkohlenwerk Martin Hoop Zwickau

Aus: Ebd. S. 171f

*) Volkskorrespondentin
**) Damals zentrale Tageszeitung (Zentralorgan) des Zentralkomitees der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands)

***) Damals Kulturbeilage des Zentralorgans

Nachbemerkung: Anderes Thema, aber: glaube keiner, dass solche Briefe nicht auch im Zentralorgan des deutschen Bildungsbürgertums erschienen sind. Fragen Sie Thomas Kling!

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