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Gestern vor 85 Jahren wurde Wolf Biermann in Hamburg geboren. Heute vor 45 Jahren fasste das Politbüro der SED in Ostberlin den Beschluss, den unbequemen Liedermacher und unerschrockenen Regimekritiker aus der DDR „auszubürgern“ bzw., wie es in der Pressemeldung der ostdeutschen Nachrichtenagentur ADN hieß, „das Recht auf weiteren Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik“ zu entziehen. Er hatte sich nicht bewährt. Der Beschluss hatte Folgen. 12 Schriftsteller unterzeichneten eine milde formulierte Petition an die DDR-Machthaber, in der sie darum baten, die Maßnahme zu überdenken. Viele schlossen sich an, fast alle mir wichtigen DDR-Lyriker waren unter den Erstunterzeichnern. Für einen kurzen Moment hatte ich die wahnwitzige Hoffnung, sie würden nachgeben müssen. Es kam anders. In der nächsten Zeit verließen hunderte Künstler das Land, Ende der 80er taten es tausende Normalbürger ihnen nach und 1990 das ganze Land. „Mein Land geht in den Westen“, schrieb der Lyriker Volker Braun.
Heute ein Gedicht Biermanns aus dem Jahr 1967. Es interpretiert eine damals viel diskutierte Plastik des Bildhauers Fritz Cremer, der ein treuer Genosse und einer der angesehensten DDR-Künstler war und der die Petition mit unterzeichnet hatte.
Wolf Biermann FRITZ CREMER, BRONZE: DER AUFSTEIGENDE Mühsam Aufsteigender Stetig Aufsteigender Unaufhaltsam aufsteigender Mann Mann, das iss ja ein schöner Aufstieg: Der stürzt ja! Der stürzt ja fast! Der sieht ja aus, als stürze er Fast sieht der ja aus, als könnte der stürzen Steigt aber auf Der steigt auf Der steigt eben auf! Der steigt aber mächtig auf! Der hat Newtons berühmten Apfel gegessen: Der steigt einfach auf Noch nicht die kralligen Zehen, aber Die Hacke riß er schon vom Boden Über das Knie zerren die Sehnen das Bein Auf Biegen und Brechen zur Geraden Das wieder stemmt hoch ins Becken Die Hüften wuchten nach oben Aufwärts auch quält sich der massige Bauch Die den Brustkorb umgürten: Die Muskelstränge, sie münden Vorbei am mächtig gebeugten Kopf In jener Schulter. Ergießen sich dann In jenen Arm. Und stürzen weiter Bis in die Hand. Schnellen hoch In die Fingerspitzen. Ja! Dieser Fleischklotz strebt auf Dieser Koloß steigt und steigt – das ist eben ein Aufsteigender! Der steigt unaufhaltsam auf – mühsam auch, ich sagte es schon – Diesen Mann da nennen wir zu Recht: DEN AUFSTEIGENDEN Nun sag uns nur noch das: Wohin steigt dieser da? Da oben, wohin er steigt was ist da? Ist da überhaupt oben? Du, steigt der auf zu uns? Oder steigt er von uns auf? Geht uns der voran? Oder verläßt er uns? Verfolgt er wen? Oder flieht er wen? Macht er Fortschritte? Oder macht er Karriere? Oder soll er etwa, was wir schon ahnten: Ein Symbol sein der Gattung Mensch? Steigt das da auf Zur Freiheit, oder, was wir schon ahnten: Zu den Fleischtöpfen? Oder steigt da die Menschheit auf Im Atompilz zu Gott und, was wir schon ahnten: Ins Nichts? So viele Fragen um einen, der aufsteigt
Aus: Wolf Biermann, Alle Gedichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, S. 26
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