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Wolfgang Hilbig
(* 31. August 1941 in Meuselwitz; † 2. Juni 2007 in Berlin)
Natureingang (frei nach Geoffrey Chaucer) Ach wenn April mit milden Schauern des Lebens dürre Adern bis zur Wurzel badet und Zephyrs süßer Atemhauch die Triebe all in Wald und Feld zu kurzem Dauern ladet und schon die junge Sonne halb den Bogen vom Widder bis zum Stiergehörn durchzogen und wenn Erinnerung aus fließendem Verfall den Blick erhebt: wie Vögel nachts mit offnen Augen schlafen – o dann beginnt die Zeit auch mir den Sinn zu weiten: Vergangenheit die nicht gelebt Winter da wir uns nicht trafen sind nichtig wenn ein altes Herz sich neu erhebt. Noch mit gebrochnen Lyren und vom Frost verstimmten Saiten: auf deinem Ufer blumenreich entfaltet von Gezeiten muss ich mit Sonnenlicht gerüstet dir entgegenreiten.
Aus: Wolfgang Hilbig, Werke. Gedichte. Frasnkfurt/Main: S. Fischer, 2008, S. 274
Der Anfang im Original
Der Anfang in einer deutschen Fassung von 1923:
Der allgemeine Prolog
Wenn der Aprilmond sanften Regen bringt.
Der Märzendürre an die Wurzel dringt
Und jede Ader mit solch Säften schwellt.
Daß diese Kraft erzeugt die Blumenwelt,
Wenn Zephyr auch mit seinem süßen Hauch
Die zarten Trieb‘ in Heide, Wald und Strauch
Erweckt hat und der jungen Sonne Brand
Des Widders Hälfte hat durchrannt;
Wenn lust’ge Melodie das Vöglein macht.
Das offnen Auges schläft die ganze Nacht —
So stachelt die Natur es in der Brust —:
Dann treibt das Volk die Wallfahrtslust
Und Pilger, fortzuziehn zu fremdem Strande,
Zu fernen Heil’gen, kund in manchem Lande.
Aus: Chaucer, Canterbury Geschichten. Auswahl von Arno Esch. S. Fischer 1961
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