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Ein Gedicht zum Weltfahrradtag
Karl Mickel
(* 12. August 1935 in Dresden; † 20. Juni 2000 in Berlin)
Siebter, erster, zehnter Gang
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Neulich sah ich vor mir einen Burschen
Aufm alten Rad, jedoch fünf Gänge
Ich fuhr heran, er sah mich kommen und
Trat ins Pedal, ich ruhig hinterher.
Der schuftete, der Oberkörper schwankte
Hätt ich ihn gesehn von vorn, ich hätte
Auf seiner Stirn den kalten Schweiß gesehn.
Dann trat ich an, nach einem Kilometer
Im siebten Gang, der war der günstigste
Zu groß nicht für den Antritt, nicht zu klein
Für hohes Tempo, vorsorglich geschaltet
Und zog vorbei. Ein Seitenblick belehrte
Mich über seine Jahre: zehn Jahre jünger
Mindestens, und ich bin fünfunddreißig.
Ich rollte aus, von ihm war nichts zu blicken
Ich schaltete auf meinen zehnten Gang
Der seinem fünften gleichkam, wartete
Bis er heran war, gab ihm eine Chance
Trat wieder an, er hielt nicht mit: im Windschatten!
Da war ich aber richtig stolz auf mich
All die Zigarren hatten nicht geschadet.
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Und wo es ganz platt war
Niedrige Schonung und Fichten-Plantagen
Waren zwei Eichen
Aufgerichtet von der Natur
In langer Zeit
Die linke ein mächtiger Stumpf
In halber Höhe gesplittert
Und Äste um die ab’e Krone knotend
Die rechte ein mächtiger Baum
Kahl
Und ein Gegriesel nicht weiß aber körnig
Als Schnee auf dem Boden
Und locker der Sand unterm Schnee
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Ab und zu fällt ein Blatt
Von rechts oben vorn nach links unten hinten
Das ist der Ort und die Zeit
Aus: Karl Mickel, Odysseus in Ithaka. Gedichte 1957-1974. Leipzig: Reclam, 1976, S. 118f
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