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Julius Kurth
Einer der berühmten sechs großen Dichter, der Sojo (Bischof) Henjo, hat folgendes köstliche Lied ersonnen:
Hachisu-ba no
nigori ni shimanu
kokoro mote,
nanikawa tsuyu wo
tama to asamuku?
Das heißt wörtlich: „Wenn das Herz des Lotusblattes nicht mit Schmutz besudelt ist, warum lügt es dann seinen Tau als Edelsteine?“ Das gibt K. Florenz „Dichtergrüße“ p. 59 wieder:
„Daß vom Schmutz und allem Makel frei
Stets das Herz des Lotusblattes sei,
Hab ich tausendmal gehört. —
. Doch wie läßt sich das damit vereinen,
Daß es seinen Tau gleich Edelsteinen
Glitzern läßt, und also uns betört?
Fraglos sehr hübsch und dem Verständnis des deutschen Lesers durch Erweiterungen nahe gebracht! Was aber dies Gedicht so äußerst reizvoll macht, geht aus der Übersetzung nicht hervor: Das glatte, fast lederartige Blatt des Lotus hat die Eigentümlichkeit, daß der Tau nicht feuchtend zerrinnt, sondern wirkliche Perlenkugeln bildet. Es müßte also eine noch weitere Umschreibung gewählt werden — und damit würde die Pointe der Kürze totgemacht! — oder es genügt eine Wiedergabe im Silbenumfange des Originals mit einer kurzen Fußnote. Wenn diese Note dem Leser die Eigentümlichkeit des Lotusblattes bekanntmacht, so versteht er das Gedichtchen ohne besondere umdichtende Erweiterung.
Nun ist ja „Herz“ als „Seele“ und „Inneres“ des Blattes doppelsinnig, ebenso „Schmutz“ als äußerlich und innerlich. Darum gilt es, bei wortgetreuer Übersetzung auch im Deutschen mit einem Worte den Doppelsinn zu umgreifen, und bei der ungeheuren Bildungsfähigkeit unserer Muttersprache ist das meist möglich.
Ich habe folgende Übersetzung vorgeschlagen:
Es trübt kein Fleckchen
Das Herz des Lotusblattes —
Warum doch lügt es,
Daß Edelsteine seien
Die Kugeln seines Taues?
Die Übersetzung ist fast wörtlich und gibt mit der genauen Silbenzahl zugleich die Pointe und den Doppelsinn des Originales. Allerdings müssen japanische Gedichte noch mehr gesehen, als gehört werden.
Aus: Japanische Lyrik aus vierzehn Jahrhunderten. Nach den Originalen übertragen von Dr. Julius Kurth. 3. Aufl. München und Leipzig: Piper, o.J., S. II-IV
Henjo (815—890) ist einer der 6 „göttlichen“ Dichter (unter denen übrigens eine Frau ist, Ono
no Komachi).
Andere Fassungen, die ich gefunden habe:
Manfred Hausmann
Nichts ist so rein
wie die Seele der Lotosblume.
Warum will sie uns glauben machen,
die Tautropfen auf ihren Blättern
seien Perlen?
Aus: Liebe, Tod und Vollmondnächte. Japanische Gedichte. Übertragen von Manfred Hausmann. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1960, S. 38.
Paul Lüth
WEIDEN IM FRÜHLING
VON SADJO HENJO
In hartem Grün hängen
Kostbare Fäden von blinkenden Ästen herunter.
Weiße Tropfen von Tau drängen
Wie Perlen sich dran: – Frühlingswunder . . .
(Ich bin nicht ganz sicher, ob es das gleiche Gedicht ist, es ist aber möglich… Man war halt so frei…).
Aus: Frühling, Schwerter, Frauen. Umdichtungen japanischer Lyrik … von Paul Lüth Berlin: Paul Neff Verlag, 1942, S. 92.
Hans Bethge
DAS LOTUSBLATT
HENJO
Ganz ohne Makel, weiß und leuchtend, blüht
Das Lotusblatt. Es scheint ganz ohne Trug —
Und dennoch lügt es: denn das eitle will
Uns glauben machen, daß im edeln Schmucke
Von Diamanten es erstrahle, — und
Es sind doch Tropfen Taus nur, die es zieren!
Aus: Hans Bethge, Japanischer Frühling. Leipzig: Insel, 1911, S. 39
Nach all den zum Teil wortreichen Umdichtungen noch einmal die nackte Prosa, die mir am stärksten im Uhr klingt.
Wenn das Herz des Lotusblattes nicht mit Schmutz besudelt ist, warum lügt es dann seinen Tau als Edelsteine?
(Warum gibt man bei japanischen oder chinesischen Gedichten den Nachdichtungen nicht immer die Prosafassung bei?)
Zum Satz „Allerdings müssen japanische Gedichte noch mehr gesehen, als gehört werden“ möchte ich mit einem Gedanken von Wilhelm Gundert antworten:
„Etwas von dieser leichten Duftigkeit hat schon seine Sprache. Ihre vokalreichen Worte, die keine harte Häufung von Konsonanten dulden, erscheinen hingehaucht, so wie ihr Gegenstand geschaut ist, wie Klang gewordene Farbe: Hana für Blume, Haru für Frühling, Aki für Herbst. Reim wäre hier, wo jedes Wort auf einen der fünf Vokale endet, eintönig; dafür durchzieht den ganzen Vers harmonischer Wohlklang. In der Betonung fehlen unsere kräftigen Akzente. Leicht wie Perlen reihen sich die kurzen Silben aneinander. Nicht der Wechsel von Hebung und Senkung kann hier den Rhythmus begründen; an seine Stelle tritt das ganz einfache Gefühl für die Schönheit einer bestimmten Silbenzahl, genauer die Bevorzugung ungerader vor gerader. Der Wechsel fünf- und siebensilbiger Reihen lieferte schon früh den angenehmsten Rhythmus.“
S. 505-6 „Lyrik der Welt / Lyrik des Ostens“.
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Es ist Waka # 165 aus der Sammlung „Alte und Neue Gedichte“, Buch 3, Sommer. Ich finde „Es trübt“ in „Es trübt kein Fleckchen“ sehr gut, da doch die Klangänderung von „ha“ nach „ba“, wie in „ike“ + „hana“ -> „ikebana“ auch „Trübung“ genannt wird. Die reine Silbe „ha“ wird durch Trübung „ba“, wie auch „ka“ zu „ga“ (ori + kami -> origami).
Lotus kommt aus der Trübung, aus dem Schlamm, aber an der Pflanze bleibt nichts haften, ist also ohne Makel. Warum dann sich für Täuschung hergeben, fragt der Dichter.
Wäre der gute Bischof in einem Zendialog geraten, hätte man vielleicht mit Recht gekontert:
„Gerade weil das Blatt ja ein Herz ohne Trübung hat, hat der sonst haftende Tautropfen die wahre Form eines freien Perlen bekommen!“
Grüße aus Till-Moyland.
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Henjō (遍昭) gibt es auch auf Wikipedia. Das Original des obigen Gedichts habe ich im chinesischen Eintrag gefunden. Hier ist es: はちす葉のにごりにしまぬ心もてなにかは露を玉とあざむく。Hachisu-ba ist das Lotusblatt, 蓮葉 in Kanji. 心, das Herz, ist „kokoro“ in der obigen Transliteration. 玉, ursprünglich Jade, ist „tama“. 露, der Tau, ist „tsuyu“. 蓮葉のにごりに染まぬ心もてなにかは露を玉とあざむく, so findet man das Gedicht oft auf Japanisch, oder auch so: 蓮葉の濁に染まぬ心もてなにかは露を玉とあざむく。Ich verstehe in Wirklichkeit nur die Kanji, also die chinesischen Zeichen :).
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