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Inger Christensen lebt und schreibt über Zweifel an der Dichtung
Ich bin keine Sterndeuterin, ich bin eher eine Handwerkerin. Die Dichtung ist ja auch nur eine Stimme unter den vielen Stimmen der Welt. Und sie ist auch kein Medium, das besonders geeignet ist, auf Probleme aufmerksam zu machen. Aber man kann ja hoffen, dass Dichtung vielleicht ein Gesamtgefühl der Zustände erfahrbar machen kann. Dann und wann hat man den Eindruck, dass aus den vielen Punkten der Vergangenheit, aus den vielen Schichten des Lebens heraus etwas ausgedrückt werden kann, wovon man kaum etwas weiß. Ich glaube vor allem, dass man gerade deswegen schreibt, weil die Unlesbarkeit der Welt vorhanden bleibt. Man schreibt weiter. Während des Schreibens denkt man, dass man etwas entdeckt hat, man denkt, alles wird klar werden. Aber eigentlich ist es ja so, dass man nur schreibt, weil man weiß, dass alles unlesbar ist und bleibt. Man liest die Welt, um weiter zu lesen, und dabei bleibt immer dieser Rest. Über die Zukunft der Menschheit dagegen lässt sich überhaupt nichts sagen. Aber in jedem Moment gibt es eine Konstellation von Gedanken und Ausdrücken, die den Einzelnen auf die Spur von etwas bringen kann, das der Zukunft eine Form gibt. SZ vom 15.03.2001 Münchner Kultur
Über die „dunkleren“ Traditionen des Literarischen März schrieb Michael Braun
Zu den dunkleren Traditionen des Leonce-und-Lena-Wettbewerbs, der ja dem Dichter-Nachwuchs gewidmet ist, gehört auch die Ignoranz der Vorjurys, die mit blamabler Beharrlichkeit die interessanten jungen Dichter dieser Jahre einfach übersahen. So konnte Thomas Kling, der diesmal als Ehrengast des „Literarischen März“ geladen war, in schöner Ironie den Darmstädter Mundartdichter Ernst Elias Niebergall paraphrasieren, um seine eigene Chancenlosigkeit in Erinnerung zu rufen: „Ich kumm in Darmstadt uff kahn grihne Ast“. / schreibt Michael Braun in der FR , 27.3.01
Entartet
Es begann mit einem Skandal. Im Juli 1960 veröffentlichte die FAZ eia wasser regnet schlaf, ein Gedicht der zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Lyrikerin Elisabeth Borchers. Der Text, eine wunderbare, im Ton des Wiegenlieds gehaltene, zwischen Traum und Wirklichkeit oszillierende Imagination, die eine vermeintliche Begegnung mit einem „ertrunkenen Matrosen“ tatsächlich nur auf einer rein assoziativ arbeitenden Ebene anklingen lässt, erregte die Gemüter der Leser. Von einer „schizophren Stammelnden“ war die Rede, ja sogar einmal mehr von „entarteter Kunst“. / Christoph Schröder, FR 3.3.01
Deutschland als Wunderland für Lyrik
Als Lyrikerin seit ihrem 17. Lebensjahr – „in den wilden Jahren“ – und mit sechs Bändchen neben „fast sechs Romanen“ lobt die Isländerin Deutschland als das „Wunderland für Lyrik, das einzige Land, wo Lyrik verkaufbar ist“, ebenso wie später für das hier vorhandene Umweltbewusstsein. (sagt die isländische Schriftstellerin Steinunn Sigurdardottir in der Fuldaer Zeitung 27.3.2001)
Ansichten zu „Matthias“ BAADER Holst
„Matthias“ BAADER Holst. Untergrundpoet, Punk, Anarchist, Vagant, Dadaist, radikaler Künstler, Rebell. Das alles irgendwie. Und das alles irgendwie nicht.
Ein sicherlich singulärer Vorfall, der eine Symbiose mit seinen Texten eingegangen war und sie als Klangform der eigenen Unangepasstheit unters Volk schlug. Ein performender Dichter mit asketischem Körper, ungezügeltem Intellekt und dem Machtapparat einer Sprache, die nicht leicht mit ihm zu teilen war. Den Kopf kahl rasiert wie einer, der das Äußere ganz von sich abschneiden will. Ein Nosferatu-Typ, auratisch, mit einer hohl klingenden, dunklen Orakelstimme. Eine wie der Dadaist Johannes Baader „charismatische Begnadung“. / scheinschlag , 24.3.01
Gestorben & vermeldet
Am 17. März ist in St. Petersburg der Dichter und Essayist Viktor Kriwulin im Alter von 56 Jahren gestorben. Die Stadt an der Newa war für Kriwulin mehr als nur Wohnort – er trat während der siebziger und achtziger Jahre als eine der wichtigsten Figuren im literarischen Untergrund von Leningrad auf; in den neunziger Jahren engagierte sich Kriwulin in der Petersburger Demokratiebewegung, der auch die 1998 ermordete Abgeordnete Galina Starowojtowa angehörte. Es mutet wie eine körperliche Metapher der stabilitas loci an, dass Kriwulin seit seiner frühen Kindheit an einer Knochenkrankheit litt und deshalb an Krücken gehen musste – als ob das Schicksal sicherstellen wollte, dass der Dichter seine Stadt nicht verlassen konnte. / NZZ 20.3.01
Gestorben & nicht vermeldet
Wenn die DDR gesiegt hätte
In „Bilder und Zeiten“ erinnert sich Volker Braun an Kindheitslandschaften und die Zeiten, als er in der DDR sein „Trotzki“-Stück schrieb und von der Stasi überwacht wurde und entwirft dieses Szenario:
Man mußte sich nur vorstellen, daß er, der Lismus, in den Westen käme. Undenkbar war das nicht. — Zuerst die Währungsreform, das war der Köder, der Umtausch der DM in Mark. 1 : 5, zugleich wurden die Preise gesenkt, Wahnsinn, die Mieten. Ein ständiger Sommerregen aus dem Staatshaushalt. Die Konzerne (Kombinate) der Plankommission unterstellt, je genauer die Planung, desto härter trifft uns der Zufall. Die Arbeitsämter geschlossen, „keine Leute“ hieß es auf einmal in Bochum. Die entbehrlichen Professoren ins Neuland geschickt, für die Buschzulage, gefestigte Gewi-Dozenten missionierten das Grundlagenstudium. Von Schnitzler, reaktiviert, übernahm es, das Bayerische Fernsehen auf Linie zu bringen. „Die Zukunft sitzt“, wie der Dichter Kunze sagt, „am Tische“.
Natürlich wurde uns Ost-Überheblichkeit nachgesagt, wenn wir drüben die Demokratie einführten. Dem Westler nützt ja nun, in dem fortgeschrittenen System, seine Erfahrung wenig, er mußte erst lernen, richtig zu denken, sich anzustellen und zu warten. Während wir, so ins Recht gesetzt, endgültig verblödeten und ihre Dienstjahre annullierten, weil wir neue Persönlichkeiten erzogen. … Und ich vergaß mal meine kritischen Ambitionen; wohingegen sie ihre linke Vergangenheit auftrugen, die Studienräte und Redakteure. Joschka Straßenkämpfer. … Und sie erlebten einmal eine Revolution./ FAZ 10.3.01
Es gibt sie noch,
die wagemutigen Verleger, die Neues entdecken und jüngeren Talenten zum Durchbruch verhelfen, Verleger, denen Literatur und vor allem die anspruchsvolle Gattung Poetik persönlich noch etwas bedeuten. Urs Engeler ist einer von ihnen. Seit 1992 gibt er «Zwischen den Zeilen» heraus, eine «Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik», die sich in verhältnismässig kurzer Zeit durchsetzen konnte, weil sie es nicht allein beim Abdruck von Gedichten bewenden lässt, sondern die Autoren gleichzeitig auffordert, sich über ihr Geschaffenes essayistisch zu äussern. (…)
Leiderprobt
Elke Erb (*1938)) sei eine leiderprobte (schreibt der Berner „Bund“) Lyrikerin aus der ehemaligen DDR. Sie versteht es, Erlebnisse aus dem vorsprachlichen Raum zu holen und in Sprache umzusetzen. Sie geht auch sonst, immer wieder nachhakend, der Sache auf den Grund. Nicht alles ist sofort eingängig, einiges sträubt sich im Nachvollzug. Ihr Aufruf «leibhaft lesen», sich mit Seele und Leib in die Sprache, dieses «Puzzle-Gebilde», hinein zu begeben, ist ernst zu nehmen. Dass auch ein Autor, der viel über Sprache und ihre Möglichkeiten und Grenzen nachgedacht hat, bei Urs Engeler Aufnahme findet, belegt Hans-Jost Frey (*1933) mit seinen «Vier Veränderungen über Rhythmus». Es ist wohltuend, einem derart gründlichen und subtilen Denker und Formulierer zu begegnen. Alle vier Essays («Verszerfall», «Der Gang des Gedichts», «Vertonung», «Das Unsagbare») untersuchen in einer intensiven Auseinandersetzung das Phänomen Rhythmus. / Der Bund 3.3.01
Den Darmstädter Leonce und Lena-Wettbewerb für Nachwuchslyriker haben am Samstag zwei Frauen gewonnen und dafür Lob und Kritik bekommen
Sabine Scho aus Hamburg und die Frankfurterin Silke Scheuermann … teilen sich das Preisgeld von 15 000 Mark. Der Leonce und Lena-Preis sei entgegen der Tradition geteilt worden, weil kein Autor herausgeragt habe, sagte Jury-Moderator Wilfried Schoeller. Jedes der vorgetragenen Werke habe Schwächen aufgewiesen. Einige Juroren hätten sogar erwogen, gar keinen Preis zu verleihen. Die ausgezeichneten Lyriker hätten jedoch gute Anlagen und könnten ihren Weg gehen. (dpa) Berliner Zeitung 26.3.01
Silke Scheuermann erhält ihn, so die Begründung der Jury, „in Anerkennung der Eigenständigkeit ihres Tonfalls, einer Melodik ironischer Melancholie, die genau gefügt ist und dennoch die Dinge fast wie beiläufig zu umfassen weiß“.
Und die Leonce-und-Lena-Preisträgerin Sabine Scho wird geehrt „für ein vielstimmiges, vielperspektivisches, hochkomplexes lyrisches Sprechen, das zeigt, was Lyrik zuallererst ist: ein schönes Spracherweiterungsprogramm. Auf bravouuröse Weise löst die Autorin die große alte Aufgabe der Dichtung, ein äußerst zufälliges in ein einzigartiges Leben zu verwandeln“.
Der Preis trifft zwei Dichterinnen, die während des Wettbewerbs auch durch die Art ihres Vortrags aufgefallen waren. Silke Scheuermann gab der Melodik ihrer Gedichte, die vom Wortklang ebenso getragen wird wie vom Rhythmus, durch ein tastendes Singen und hauchige Töne einen einzigartigen Reiz. Und Sabine Scho erinnerte in den eigenwilligen rhythmischen Setzungen, mit denen sie ihre rätselvollen Gedichte gliederte, an die raffinierte Vortragskunst Thomas Klings, der mit Sabine Scho einen Gedichtband herausgeben wird.Die Wolfgang-Weyrauch-Förderpreise (je 5000 Mark) gehen an Hendrik Rost für „sachlich-zerebrale Lyrik“ und ein „poetisches Parlando“, das sich „lakonisch und ironisch“ gibt. An Mirko Bonné wird „die inhaltliche und sprachliche Engführung von Alltag und Pathos“ gelobt, Maik Lippert für den „plebejischen Mutterwitz eines hemdsärmeligen Barden“. Es wird nicht wenige Zuhörer geben, die an seiner Stelle lieber Anja Utler für ihre sehr präzisen, streng durchkomponierten lyrischen Miniaturen ausgezeichnet hätten. / Darmstädter Echo 26.3.01
Sammelwut trifft es ganz gut! (Tanzwut: auch noch eine Möglichkeit)
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Danke für die Rückblicke und die erstaunliche Sammelwut!
Christensen ist grandios: „Über die Zukunft der Menschheit dagegen lässt sich überhaupt nichts sagen.“
Darmstadt, das waren noch Zeiten, ich seh Kling noch während der Lesungen von außen durch ein Fensterchen in der Tür in den Vortragssaal schauen. Sein Kopf tauchte auf, wieder weg, tauchte auf, weg. Trotzdem konnte er hinterher zu jedem einen profunden und hektischen Vortrag halten. Ein Wunder, dieser Mann.
„sachlich-zerebrale Lyrik“ und ein „poetisches Parlando“, das sich „lakonisch und ironisch“ gibt – was solls, vergeben, solange die Unlesbarkeit der Welt vorhanden bleibt.
Denken wir an die Toten!
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