65. Open net

Juryentscheidungen bleiben ja meist im Dunkeln. Die Veröffentlichung von Longlist und Shortlist, wie sie anderswo Standard ist, garantierte noch keine Transparenz, aber wäre schon ein Stück Öffentlichkeit. Selbst 700 Namen, die Zahl der Einsendungen zum open mike,  zu veröffentlichen ist im WWW kein Problem. Und wieviele davon reichten Lyrik ein? Stimmt es, daß ein einzelner Lektor die vorsortiert hat? Aus der Meldung der literaturwerkstatt geht das nicht eindeutig hervor:

Die Auswahl der Teilnehmer haben sechs Lektoren aus renommierten deutschsprachigen Verlagen getroffen. Christian Döring (freier Lektor), Martin Hielscher (C.H. Beck), Marion Kohler (DVA), Olaf Petersenn (Kiepenheuer&Witsch), Christiane Schmidt (Hoffman und Campe) und Dirk Vaihinger (Nagel&Kimche) wählten aus anonymisierten Texten ihre Kandidaten aus.

Immerhin erfuhren wir die Namen der Finalisten:

Lyrik:

Isabella Antweiler (Köln)
Philip Maroldt (Berlin)
Stephan Reich (Münster)
Jan Skudlarek (Münster)
Levin Westermann (Biel, CH)

http://www.literaturwerkstatt.org/index.php?id=873

Vermutlich, hoffentlich bekommen wir noch die Siegertexte, das steht bisher aus.

Die Berichterstattung zum open mike ist recht dünn. L&Poe dokumentiert vollständig alle Ausssagen über die Lyrikbeiträger, soweit bisher bekannt. Das paßt bequem in den Rahmen einer Meldung.

Der Bericht im Deutschlandfunk zitiert aus dem Siegerbeitrag:

Vier Autoren und nur eine Autorin präsentierten auf dem Open-Mike lyrische Werke, die wenngleich sie gängige Gattungsgrenzen auflösten, weniger experimentell daherkam [sic] als man das bei moderner Lyrik hätte erwarten können. Der 1980 geborene Levin Westermann überzeugte die Jury mit seinem Vortrag von kurzen Gedichten, die sich um Leere, Auflösung und Kälte drehen.

„Durch eine Riss in deiner Haut ist Ferne in dich eingetreten. Du öffnest deine Augen und du stehst allein, abseits der Dinge, die in ihrer Summe eine Welt ergeben. Du stehst getrennt von Gedanken und Geräuschen und was dich trennt, bist du.“

/ Cornelius Wüllenkemper, DLF

Brigitte Preissler in der Frankfurter Rundschau:

Jedenfalls bekam Levin Westermann den Lyrikpreis, er studiert am Schweizerischen Literaturinstitut. Dass seine Poesie – wie viele der präsentierten Verse – ein wahres „Labyrinth aus Fremdheit“ ist, in dem „Lebendigkeit und Nähe nur als Erinnerung zu spüren“ sind, störte die Lyrikerin und Jurorin Anja Utler also offenbar nicht. Mit der herrlich songtexthaften Reimerei, die den Open Mike 2009 so erfrischend geprägt hatte, war es in diesem Jahr schon wieder vorbei.

Nunja, unterschiedliche Berichte sind normal. Leicht irritiert suche ich den Siegertext vom Vorjahr und finde:

2 März. E-Mail nach breddín

für Hele

Wo eine form, ein forum (wie ein feld vorm abend will
Grins nicht zu früh, scwach grins erst, wenn du ankommst
Und keine not an kommata mehr herrscht am nachmittag
Und keine sciefen pflaster uns den scritt zum nascmarkt
So hin und her verstreuen. im nachen durch die mark

Wo eine form, ein forum wie ein feld vorm abend will
Ich nicht sagen), ein areal – in der rechten einen spruch,
In der linken schwenk ich rasch ein hinweisschild –
Im gelände eine wahrnehmungsstunde wort für ort beklomm

Brief an die korinthenkacker, nur um brot, veggieberief.
Eisenbahnstraßen und promenaden. mischen ohne zahl
Laubsägearbeiten, bastelkeller, garten- & modelleisenbahnen,
……….holz-
Scnitzereien, pfannkuchen, ein meter weit befreiendes screien
Sciefe brandnarben auf der haut, ein H, ein H, und noch ein H

(Konstantin Ames)

Gut, songtexthafte Reimerei ist das nicht gerade. Die scheint durch die Jury gefallen zu sein?

Die Süddeutsche, fast ausführlich und mit Sinn für Kontroverses („sonderbar“, „fraglich“, „Gegenschlag“, „Fehdehandschuh“):

Und die Lyrik? Da war die Lage sonderbar. Christian Döring, der für die Vorauswahl der Gedichte zuständige Lektor, hatte den Wettbewerb über das Hohelied auf die Lyrik gesungen, hatte sie eine Künderin der Wahrheit genannt und sich angesichts der lockenden Preisgelder gar zu der Gleichung hinreißen lassen, dass Geist und Geld beim Open mike in der Lyrik kondensieren. Noch bevor aber das Kondenswasser dieser fraglichen Verschmelzung abgetropft war, hatte die mit Hanns-Josef Ortheil, Ilija Trojanow und Anja Utler gut besetzte Autoren-Jury zu einem ebenso massiven Gegenschlag ausgeholt. Utler warf den teilnehmenden Dichtern vor, der Lyrik selbst ‚den Fehdehandschuh hingeworfen‘ zu haben.

Schwarzweißbilder ohne jegliches Leben hatte sie vernommen, kalte Abwesenheit und Labyrinthe aus leeren Räumen. Ausgenommen Levin Westermann, der in seinem wunderbaren, zu Recht preisgekrönten Gedichtzyklus ‚unbekannt verzogen‘ in einer leerstehende Wohnung Nachklänge vergangener Leben aufspürte: ‚im flur liegt eine kalte spur aus stille und / an die nase dringt ein hauch von unbekannt verzogen. / dielen wälzen sich im schlaf und künden von den stimmen, / der musik und auch dem lachen, früher, in der luft; und / wenn man annimmt, dass es blumen gab in dieser bleibe – / und warum nicht – so künden die dielen auch vom fehlen / dieser blumen.‘

JEAN-MICHEL BERG, SZ 16.11.

René Hamann in der taz betont ebenfalls Kontroverses, aber nur in der Überschrift und bezogen auf die Prosa:

Volljährig und privat verstört

Mut zum Risiko, experimentelle Schreibweisen, Weltgewandtheit: Fehlanzeige. Immerhin: Die richtigen Autoren bekamen die Preise beim 18. Open Mike.

Über die Lyrik aber mag er sich nicht weiter äußern als daß er gegen den Preisträger nichts einzuwenden hat:

Die restlichen fünf Teilnehmenden lasen den Lyrikpreis unter sich aus, gewonnen hat ihn diesmal Levin Westermann, und auch gegen diese Entscheidung lässt sich nichts einwenden.

Folgt noch genau ein Satz über die Lyrik:

Levin Westermann gewann einen gut besetzten Lyrikwettbewerb, wenigstens hier gab es kaum einen Totalausfall.

Das Wort kaum weckt meine Neugier, aber gestillt wird sie nicht.

Fast detailliert wirkte da der Bericht des gleichen Autors im gleichen Blatt über den Wettbewerb 2008:

Der Lyrikpreis für den in Saigon geborenen Kölner Thien Tran hingegen war nur logisch: Tran schaffte es von sieben LyrikerInnen als Einziger, Gegenwärtigkeit, Diskurswissen und Sprachbetrachtung zu eigenständigen und Kommunikation anbietenden Gedichten zusammenzufügen.

Der Wettbewerb hat daneben auch gezeigt, dass selbst die sich unkonventionell gebenden Texte oft schon wieder konventionell erscheinen: Denn Montagetexte, Zitattechniken etc. hat es allein beim Open Mike in den letzten Jahren immer wieder gegeben, die Macharten unterscheiden sich kaum.

Die Welt – zurück zu 2010 – begnügt sich gleich ganz mit der Namensnennung, ebenso, erwartbar, Die Zeit. Mehr habe ich bisher nicht gefunden.

Einziger Lichtblick in letzterer in den Kommentaren. André Rudolph hat dort die Chuzpe, der Wochenzeitung einen Sachkundigen für Lyrik vorzuschlagen: sich. Ohja, dann würde ich das Zeit-Feuilleton erwartungsfroher aufschlagen. Liebe Frau Radisch, wenn Sie dies lesen: schlagen Sie zu! Ich bin bestimmt nicht der einzige Abonnent, der das begrüßen würde. (Darf ich mich vorstellen: Ich bin der vollbärtige Typ aus Greifswald, bei dem Sie mal vor 20 Jahren inkognito in einem Undergroundseminar saßen. Hallo!)

Die rege Kommentardebatte um den Blogbeitrag von Weiszklee

57. Weiszklee schreibt über open mike

(der verglichen mit den mageren Feuilletonberichten erfrischend wirkte, was ja nicht heißen muß, daß man seine Wertungen übernimmt) bringt mich auf eine Idee. Ich fände es toll, wenn es gelänge, hier mal ein Stück Transparenz zu schaffen. Herr Maroldt, und die anderen Autoren / Autorin der open mike-Liste (Lyrik!): Wenn Sie mir Ihren Wettbewerbsbeitrag überlassen möchten, ich mache alles gern hier zugänglich, so daß jeder, der wie ich nicht in Berlin dabei war, sich selber ein Bild machen kann. So könnte man die kryptischen Aussagen aus einigen der bis jetzt 26 Kommentare überprüfen und wer weiß, vielleicht sogar eine Art Fach-Nebenjury oder Nebenfachjury bilden? Nicht auszuschließen, daß man sogar ein Preisgeld zusammenbekäme. Wär den Versuch wert – die Debatte und eventuelle Weiterungen. Open net!

(Und vielleicht, vielleicht trauen sich einige von den nicht in die Endrunde übernommenen, ihren Namen und eine Textprobe ebenfalls einzusenden? Im Netz ist immer Platz!)

Im übrigen erinnere ich mich an eine wirkliche Lesungs-Besprechung von Bertram Reinecke hier, zum open mike 2006

16 Comments on “65. Open net

  1. Pingback: Kulturbeutel Nr. 19 : Schmetterlingsgesang

  2. ich käm gern. werde aber in vertretung fünf christian dörings aus dem berliner telefonbuch schicken. und jetzt pscht.

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      • „hart wie Kruppstahl und zäh wie Leder“ ganz bestimmt nicht, lieber Philip Maroldt, aber ein bißchen gelassener im Umgang mit „the Literaturbetrieb“ – und ein bißchen höflicher den – ähm Gewinnern gegeüber… wie hätten Sie über das Ganze gedacht, wenn Sie gewonnen hätten? Und nun aber wirklich: pscht.

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      • also mr. oder mrs. syb. wann ich schweige, entscheiden nicht sie.

        auch bei menschen, deren denken sich seltsam ums wesentliche windet, versuche ich ja immer wieder aufs höflichste zu folgen, leider gelingt es mir in diesem fall beim besten willen nicht. was tue ich denn den armen gewinnern böses?

        und… wow! gelassenheit: genau darum geht es bei der veranstaltung.

        gelassenheit sollte man nur nicht mit spießigkeit verwechseln.
        wer seine wahrnehmung so mit jägerzäunen eingegittert hat wie sie, kann sich von meinem umgang mit the literaturbetrieb noch ein scheibchen abschneiden.

        das sei nur ganz schnell wie ein windhund angemerkt.

        küsschen

        ihr philip maroldt

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  3. ein letztes noch: wer einige gänzliche unzuverlässige und nutzose informationen braucht, kann aber herzlich gern kommen:

    Dienstag, 7. Dezember 2010, 19:30 Uhr, Eintritt 5,- €
    Closed Maik – Losers on Fire
    Von und mit Philip Maroldt, Jan Skudlarek und Stephan Reich

    Der open mike ist vergangen, und wieder hat er Opfer gefordert. Wir sammeln die ausgemusterten Dichter von der Straße ein, bewahren sie vor dem Sperrmüll (wenn auch nicht zwangsläufig vor Hartz IV) und werfen sie dem Streichelzoo des Berliner Literaturpublikums erneut zum Fraß vor. Stephan Reich, der heiße Debütant und die unbestreitbare Nummer 1 des 18. open mike. Jan Skudlarek, der Anakin Skywalker der Lyrikszene. Philip Maroldt, der wahre Meister der Kälte voller Nachhall poetischer Wärme und Freund des Fehdehandschuhs – gemeinsam feiern sie ihre Niederlage gegen Österreich und die Schweiz. Garantiert garniert mit englischen Satzfetzen, homeboy. word!

    Jeder, der sich als (ehemaliger) Verlierer oder eine [sic!] von denen outet, die gar nicht eingeladen wurden, bekommt ein Überraschungsei. Trostpreise für die geschundenen drei Autoren sind willkommen. Füttern verboten.

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    • wie ärmlich, seine eigene „Niederlage“ (leider muss man das Wort verwenden, denn es handelte sich um einen „Wettbewerb“) so verzweifelt ironisch auszustellen und damit nichts anderes zu sagen als: natürlich hätte viel mehr uns der Preis gehört. Entweder man nimmt an Wettbewerben teil und akzeptiert deren Bedingungen und Hervorbringungen – dass es immer Lotterie ist, dass es objektive Gerechtigkeit nicht geben kann, dass zu wissen, sollte doch fast schon zum Handwerk gehören. Und man nehme Niederlagen dann doch bitte auch – in diesem Fall kann mans ja wirklich sagen: wie ein Mann.

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      • sorry, habe noch den zweiten Teil des Satzes vergessen: oder man lässt es.

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      • jaja, eiei. ist ja gut. mal wieder jemand, der seine eigene mißgunst auf seine umwelt projiziert.
        1. ist das nichts weiter als ein witz. ein witz. ein witz. ein augenzwinkern über genau das, was wir deiner meinung nach nicht verstanden haben.
        2. bin ich der letzte, der sich objektivität überhaupt wünscht, mein ganzer schreibantrieb speist sich aus dem gegenteil.

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      • und ehrlich: bei soviel humorlosigkeit kann man ja nur noch den kopf schütteln.

        vemutlich hat da jemand gottfried benn mit ernest hemingway gekreuzt und am ende wurde in seinem löchrigen hirn daraus die maxime geboren, daß der dichter hart wie kruppstahl und zäh wie leder zu sein hat.

        mein herzliches beileid.

        nur irgendwie symptomatisch auch für die berliner szene. ein harmloser scherz und schon fühlen sich alle irgendwie beleidigt und schießen mit kanonen zurück.

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  4. andre rudolph, der offizielle eingefleischte lyrikkenner! damit wäre auch ich sofort einverstanden. andre, du bist mein held! 😉
    for real.

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    • „eingefleischt“ ist im übrigen eine herzergreifende verdeutschung von „incarnatus“. – wer oder was dich ansonsten hin zu diesem statement geritten hat, nun, vermutlich nicht jesus, sondern der teufel, der es ja meist ist, wenn irgendwo was reitet (wenns nicht ausnahmsweise der rilkesche cornet) – however 🙂

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      • ansonsten, lieber philip, habe ich als eingefleischter usw. schon vor jahrhunderten eine kantate geschrieben, die damals und in späteren zeiten zum trost für viele leidende herzen wurde: „ich will den kreuzstab gerne tragen“.

        (http://www.youtube.com/watch?v=XcEqZWRypGw)

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      • mein kommentar war von aufrichtiger zustimmung motiviert, getragen und gewasauchimmert! ich fand nur das zusammentreffen mit der weiszkleeschen eingefleischtheitsdebatte recht amüsant.
        und ist ja klar, daß die leipziger am ende immer mit bach als totschlag- oder sollte ich schreiben: kreuzigungsargument kommen.
        allerdings bekenne auch ich mich zu ihr: zu dieser musik, die wohl die zärtlichste und heimtückischste waffe und zugleich das rote telefon zwischen den heleozentrischen hirnen all der
        ambivalenten incarnati in diesem besten aller möglichen jammertäler ist. puh.

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  5. meine texte möchte ich hier aus verschiendenen gründen nicht erneut veröffentlichen (u.a., meil sie teil eines noch in arbeit befindlichen zyklus sind), sie sind in der anthologie für jedermann verfügbar (ganz normal im buchhandel). die presseschau ist eine gute idee, danke dafür.
    weitere projekte würde ich eher fürs nächste jahr vorschlagen. sozusagen veranstaltungsbegleitend. einfach mehr information für eine bessere diskussionsgrundlage.

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