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Veröffentlicht am 17. Februar 2010 von lyrikzeitung
Märchen
B. hat ein Manuskript geschickt, sagte der Lektor
Mit ängstlichem Blick auf den Verlagsleiter, der Verlagsleiter
Mit ängstlichem Blick auf den Minister, der Minister
Mit ängstlichem Blick auf die Bezirksleitung, die Bezirksleitung
Mit ängstlichem Blick auf das ZK, das ZK
Mit ängstlichem Blick auf das Politbüro, das Politbüro
Mit ängstlichem Blick auf den Kreml, der Kreml
Mit ängstlichem Blick zu Gott, worauf dieser
Den langen und kalten Winter 1979 beschloß.
Aus: Kurt Bartsch, Kaderakte. Gedichte und Prosa. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979, S. 97.
Ein historisches Märchen aus dem letzten Jahrzehnt der DDR – aus jener Zeit, als Gott sich noch persönlich um Gedichte kümmerte. Bezirksleitung: die SED-Bezirksleitung von Ost-Berlin galt als sehr einflußreich. ZK = Zentralkomitee (der SED = Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands), das nominell höchste Wahlgremium der Partei, die alles war, zwischen den alle 5 Jahre stattfindenden Parteitagen. Politbüro: das eigentliche Machtzentrum in den sozialistischen Ländern. Dieses Gedicht habe ich zuerst im Lesesaal der Greifswalder Universität gelesen, in einem per Fernleihe bestellten Buch, für das ein Nachweis des wissenschftlichen Verwendungszwecks erforderlich war und das mir zur Benutzung aus einem Stahlschrank gereicht wurde. (Einmal flüsterte mir eine Bibliothekarin mit ängstlichem Blick zu: Sie lesen ja Sachen. Wissen Sie, daß es uns durch Belehrung verboten ist, die Bücher aus dem Stahlschrank zu öffnen?)
© (Für Auswahl und Kommentar) Michael Gratz 2000.
(NB 2010: Nun wär noch interessant, wie die Befehlskette in diesem langen und strengen Winter verlief)
Kurt Bartsch starb vor vier Wochen im Alter von 72 Jahren. Vgl. L&Poe 2010 Jan #77. Kurt Bartsch gestorben
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Kurt Bartsch, L&Poe-Anthologie, Mea: Garstig
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