Richard Wagner †

Der deutsche Dichter Richard Wagner ist am 14. März in Berlin gestorben. Als ich zuerst von ihm hörte und las, war er ein rumänischer Dichter, genauer gesagt ein rumäniendeutscher. Er gehörte zu dem mächtigen Häuflein deutschsprachiger Dichter in Rumänien, die seit den 70er Jahren Furore machten, zuvörderst in literarischer, aber auch – in Rumänien – in politischer Hinsicht. Die meisten von ihnen verließen in den 80er Jahren das Land, in dem sie politisch aneckten. Rumänien verkaufte seine Landeskinder gegen Devisen an die Bundesrepublik, und so wurden auch Wagner und seine damalige Ehefrau Herta Müller Bundesbürger.

Hier eins seiner frühen Gedichte aus der Anthologie „die bewegung der antillen unter der schädeldecke. junge rumäniendeutsche lyrik zwischen 1975 und 1980“, die 1980 in Rumänien nicht erscheinen durfte. Erst 2022 konnte sie nun in Deutschland doch noch erscheinen, erweitert und kritisch ediert. Lohnt sich auch heute noch zu lesen, wo die damaligen politischen Anstöße makuliert sind.

Richard Wagner

(* 10. April 1952 in Lovrin, Rumänien; † 14. März 2023 in Berlin) 

die faszination der wörter

an irgendeinem scheißsonntag saßen wir im zug
ich sah meine frau an
und ich sah ihr zum ersten mal das altern an
es war überhaupt zum ersten mal
dass es mir auffiel
dass ich jemandem das altern ansah
ich dachte mir damals nichts dabei
wir setzten unser gespräch fort
aber später fiel es mir wieder ein
es fiel mir als satz ein
mehrmals aus unerklärlichen gründen
da merkte ich dass die beobachtung
sich in meinem bewusstsein inzwischen versprachlicht hatte

ich besaß sozusagen einen satz der mich störte
der sich mir ohne mein zutun aufgedrängt hatte
den ich nicht mehr loswurde
es war einer von den sätzen
mit denen man zu leben hat

als ich unlängst aus einem laden auf die straße trat
hatte ich plötzlich die szene aus „easy rider" im kopf
mit jenem song „born to be wild"
ich spürte plötzlich fahrwind
und ich redete drauflos
passanten drehten sich nach mir um
ich lachte

das wort lebensfreude" fiel mir ein
das war wie damals als ich john wayne
lange in einem filmabend stehn sah
bis er dann die pferde aus dem corral in die nacht trieb
da hatte ich plötzlich das wort „nachdenken"
und ich konnte was anfangen damit
früher hätte ich eine solche szene überhaupt nicht bemerkt

ich erinnere mich an ein gedicht mit dem titel „western"
das ich irgendwann mal geschrieben hatte
es war ein misslungenes gedicht
ich wollte damals unbedingt einen sinn drinhaben
der nicht hineinzubringen war

es fällt mir auf dass ich es früher versäumte
von den dingen zu reden
ich redete immer von etwas anderem
und wenn sich ereignisse bei mir einstellten
so waren sie bloß stellvertretend da
für das wissen das ich schon vorher hatte
nichts konnte mich überraschen
wenn ich den mund aufmachte
war bereits eine erklärung da
die wörter wurden so seltsamen verzerrungen unterworfen
ambivalenzen stellten sich auf schritt und tritt ein
ich konnte kein aufrichtiges gespräch mehr führen
ständig waren mehrere modelle da
die fäden glitten mir aus der hand
ich drückte mich nur noch andeutungsweise aus

in der folge stellte sich ein anhaltendes unbefriedigtsein ein
ich redete immer mehr
ließ andere kaum zu wort kommen
meine reden waren plädoyers
ständige anläufe gegen die unbeholfenheit
gegen die undeutliche ahnung die in mir aufstieg
nicht präzise sein zu können

über dem reden änderte sich mein verhältnis
zu den wörtern
ich merkte von zeit zu zeit dass ich zu einem bestimmten wort
ein besonderes verhältnis hatte
ich merkte es daran dass ich es ganz unnötigerweise
ins gespräch brachte
ja noch mehr das ging sogar soweit
dass ich was anderes sagte
als das was ich beabsichtigt hatte
nur um das gewisse wort einsetzen zu können
so begannen meine gespräche meine haltungen
meine gedankengänge zu bestimmen

das verunsicherte mich
es begann mich langsam aber nachdrücklich
von der gedanklichen fixierung von den sogenannten überzeugungen
zu lösen
ich machte wieder beobachtungen
ich schlitterte in situationen
meine kindheit wurde mir interessant

ich befand mich nicht mehr in konstellationen
ich hatte wieder erlebnisse
ich konnte mit meinem leben etwas anfangen
so wie ich mit dem wort ,,leben" wieder was anfangen konnte
und die wirklichkeit kam faszinierend neu auf mich zu
wie früher das kino

Aus: die bewegung der antillen unter der schädeldecke. junge rumäniendeutsche lyrik zwischen 1975 und 1980. Eine (historische) Anthologie herausgegeben von Walter Fromm. Erweiterte, kritische Neuauflage 2022 mit einem einleitenden Essay von Prof. Dr. Waldemar Fromm und einer soziokulturellen Kontextualisierung von Prof. Dr. Anton Sterbling. Ludwigsburg: Pop, 2022, S. 43ff

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