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Johannes Urzidil
(* 3. Februar 1896 in Prag; † 2. November 1970 in Rom)
LIED DES ENTSPRUNGENEN
(Aus der symphonischen Dichtung „Die Straße“)
Ein Irrer, langhaarig, schiefen Mundes, eine Geige in der Hand
Will mich Hand des Wärters halten,
werd’ ich mich zusammenfalten
wie Papierchen, sanft umfassen,
durch die Gitter wehen lassen.
Wie das Kätzchen giebelschleichend,
auf den Mauersimsen streichend,
bin ich auf dem First geritten
an der Ulme abgeglitten.
Hab’ mir auf dem Fiedelbogen
weiße Zwirne aufgezogen.
Will mir keiner Saiten schenken,
muß ich mir die Saiten denken.
(Macht einige Striche durch die Luft)
Herrlich klingt auf meinem Cello
Arie von Paesiello.
Wärtershand ist hinterm Hügel,
faßt sie mich, so droht sie Prügel.
Ehmals war doch alles helle,
war nicht Riegel, war nicht Zelle,
nun ist alles mir zersplittert,
bin gefesselt, bin vergittert.
Leib ist dunkel eingewunden,
aufgeschwollen, unentbunden.
Bin ich nicht als Lamentoso,
Pizzikato, Furioso,
halb gespielt und halb gesungen
einer Partitur entsprungen?
Ehmals war ich ein Andante,
das auf einer Flöte brannte.
Herrgott sprach zu mir sein Werde
und ich ballte mich zur Erde.
Nun seit fünfzighundert Jahren muß ich um die Sonne fahren,
bis ich mich zu Nichts zertöne, irgendwo zu Ende stöhne.
(Schlägt sich ins Gebüsch.)
Aus: Johannes Urzidil, Sturz der Verdammten. Gedichte. Leipzig: Kurt Wolff. In: Der Jüngste Tag. Die Bücherei einer Epoche. Neu hrsg. v. Heinz Schöffler. Band 2. Frankfurt/Main: Scheffler, 1970, S. 41f [791f]
Joanna Lisiak würdigt auf KUNO den Schriftsteller Johannes Urzidil http://www.editiondaslabor.de/blog/2020/11/02/nachschlagenswert-und-darueber-hinaus/?fbclid=IwAR1R5ZWi5f9wuxnKS-NlRlrRipiDFovqI4Fo6TzStzq3vP1-rLNGjJXnN5w
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