Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Veröffentlicht am 14. Januar 2019 von lyrikzeitung
Ida Dehmel (* 14. Januar 1870 in Bingen am Rhein als Ida Coblenz; † 29. September 1942 in Hamburg)
Richard Dehmel (* 18. November 1863 in Hermsdorf bei Wendisch Buchholz, Provinz Brandenburg, heute Gemeinde Münchehofe; † 8. Februar 1920 in Blankenese)
PSALM ZWEIER STERBLICHEN
Von Ida und Richard Dehmel
DER MANN:
Göttin Zukunft,
mit gefesselten Händen hältst du
eine geschlossene Schriftrolle,
drin mein Schicksal verzeichnet steht.
Langsam, Tag für Tag,
ringe ich deinen Fingern
Zoll für Zoll die Urkunde ab,
Zeile für Zeile.
Bis der Augenblick kommt,
wo das entrollte Papier,
eh ich das letzte Wort noch las,
meinem erschöpften Arm entfällt;
und mit gefesselten Händen
gibst du den Winden zur Sage anheim,
was ich tat.
DAS WEIB:
Schicksalsgöttin,
ich liege vor dir auf den Knieen.
Du hältst in deinen, ach, gefesselten Händen
eine goldene Tafel,
drin die Namen nur derer eingegraben stehn,
die Unvergeßliches taten.
Auf den Knieen, Schicksalsgöttin,
bitte ich dich:
Laß mich nicht ins Namenlose versinken!
Spreng deine Fesseln – oder
nur einen Augenblick
reich mir die goldene Tafel,
und neben die Runen der Helden und der Weisen
schreibe ich hinsinkend:
Ich liebte.
Aus: Richard Dehmel: Gesammelte Werke in drei Bänden. 2. Band. Berlin: S. Fischer, 1919, S. 123f
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Ida Dehmel, Richard Dehmel
Kann zu diesem Blog derzeit keine Informationen laden.
Neueste Kommentare