Das Gedicht ist auf der Straße

Arslans Slogan „Defteri kapat, şiir sokakta!“ in Zusammenhang mit der Verwendung eines Gedichtausschnitts meint konkret: „Schließ das Heft, das Gedicht ist auf der Straße!“ und wurde in den folgenden Wochen und Monaten als Aufruf verstanden und propagiert, die Straßen mit Gedichten (oder einzelnen Strophen beziehungsweise Versen) zu beschriften.

Die Präsenz von Lyrik während der türkischen Proteste im Sommer 2013 war von Beginn an auffällig. Gedichtlesungen waren Teil von Protestveranstaltungen, Gedichtzitate fanden sich immer wieder in den Reden auf Kundgebungen. Nâzım Hikmets berühmte Verse „Yaşamak bir ağaç gibi tek ve hür / ve bir orman gibi kardeşçesine / bu hasret bizim…“ („Leben wie ein Baum einzeln und frei / und brüderlich wie ein Wald, / das ist unsere Sehnsucht …“) war auf gedruckten und selbstbeschrifteten Plakaten und Bannern der Protestierenden im Gezi-Park zu sehen, dessen Bäume von der Abholzung bedroht waren; Hikmets Verse verbreiteten sich über die sozialen Medien, wurden u. a. großflächig auf die Ufermeile von Alsancak in İzmir gesprüht, und wiederum für Plakate und Banner im Ankaraner Widerstandspark, dem Kuğulu Park, verwendet.

Als Anfang Juni die ersten Demonstranten starben, waren es verschiedene Verse aus Hasan Hüseyins Korkmazgils bekanntem Gedicht Haziranda ölmek zor („Es ist schwer im Juni zu sterben“), ursprünglich auf Orhan Kemal und Nâzım Hikmet verfasst, die sich als Ausdruck der Trauer in den sozialen Medien und im öffentlichen Raum wiederfanden. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden per Hand zwei Vierzeiler von Ataol Behramoğlu auf ein großes Transparent geschrieben und im Gezi-Park an einer Stange über der temporären Mahnstelle für die Toten der Proteste aufgehängt.

Einen großen Bekanntheitsgrad sollte ein Foto erlangen, das eine junge Demonstrantin mit einem selbstgemachten Plakat zeigt, auf dem zu lesen war: „Turgut Uyar’ın dizeleriyiz!“ („Wir sind die Verse Turgut Uyars“). Der Spruch ist eine ironisierte Abwandlung des bekannten Slogans der Kemalisten, der Anhänger des Gründers der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk: „Mustafa Kemal’in askerleriyiz!“ („Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“), in Anspielung auf den türkischen Unabhängigkeitskrieg. / Achim Wagner, aus: Das Gedicht ist auf der Straße. Über die Bewegung #şiirsokakta in der Türkei. Fikrun wa Fann

One Comment on “Das Gedicht ist auf der Straße

  1. Ähnliches schreibt auch Sean Bonney mit Blick auf die englischen Zustände und ein Initialerlebnis, nachzulesen im Schreibheft 79, S. 143:

    [I]ch möchte gern Poesie schreiben, die imstande wäre, eine dialektische Kontinuität innerhalb der Dikontinuität zu dynamisieren & auf diese Art alles sichtbar zu machen, was durch die Realismuspolizei ins Abseits gedrängt wurde; wo das lyrische Ich – das Ding schon wieder – ein (1) Störenfried (2) Kollektiv sein kann; dort, wo wörtliche Rede und Unverständlichkeit nur noch als Synthese denkbar sind – als Synthese, die Ideen einbinden und aus den Schranken der Rebellion und des Illegalismus befreien kann […] Am 24. November standen wir in der Nähe von Charing Cross herum […] – als aus dem Nichts heraus 300 Jugendliche an uns vorbeirannten, die Pflastersteine aus dem Strand rausrissen und riefen „WESSEN STRASSEN – UNSRE STRASSEN“. Das hat uns echt umgehauen. Du wärst ein Schwein, darauf nicht zu antworten.

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