24. „Neue Berliner Avantgarde“

Die deutschsprachige Literatur ist gegenwärtig von drei ästhetischen Tendenzen bestimmt: radikaler Individualismus, Popliteratur und eine dritte, für die unterschiedliche Namen kursieren, „kookbooks-Ästhetik“ oder „Neue Berliner Avantgarde“. Zu den Autoren dieses Kreises, überwiegend Lyriker, gehören Monika Rinck, Uljana Wolf, Ann Cotten, Hendrik Jackson, Daniel Falb. Sie alle publizieren beim Berliner Verlag kookbooks oder sind zumindest eng mit ihm verbunden. Daniela Seel hat den Verlag vor zehn Jahren gegründet (F.A.Z. vom 18. Mai), in dessen Jubiläumsprogramm auch Steffen Popps neuer Lyrikband Platz gefunden hat. (…)

Wenn Steffen Popp „Poesie als Lebensform“ versteht, ernennt er sie zu einer solchen unhintergehbaren Tatsache der Wirklichkeit. Wie ein Integral ist das Poetische allen Lebensbereichen von der Natur über die Ökonomie bis zur Religion eingeschrieben und reicht somit weit über die Literatur hinaus. Diese Auffassung berührt sich mit dem romantischen Vers: „Schläft ein Lied in allen Dingen“. Allerdings hat die Neue Berliner Avantgarde mit Wittgensteins „Lebensform“ auch seine Sprachskepsis übernommen. Popp bezeichnete die Sprache einmal als das „lebensfernste Medium“. In der Folge verbietet es sich, wie bei Eichendorff mit „Wünschelrute“ und „Zauberwort“ durch die Lande zu ziehen, um sie zu poetisieren.

„Poesie als Lebensform“ bedeutet vielmmehr, die Wirklichkeit mit Hilfe der Sprache abzutasten und präzise zu erfassen, „inwieweit die für poetisches Sprechen konstitutiven Verfahrensweisen etwas mit denen anderer Lebensbereiche gemein haben, und vor allem …, ob sie nur neben anderen relevant sind oder essenzielle Funktionen bezeichnen“. Popp wendet Eichendorffs Vers formalistisch. Er sucht nicht mehr nach dem schönen Lied, sondern nach den poetischen Verfahren in der „lebendigen Wirklichkeit“. Für dieses Vorhaben wäre die Waldeinsamkeit der falsche Ort. Die heutigen Poeten experimentieren, diskussions- und theorieaffin, kollaborativ und doch jeder für sich auf seine Art. Erst der gemeinsame ästhetische Bezugspunkt ermöglicht die individuellen poetischen Praktiken. (…)

Popp experimentiert mit Klängen, Rhythmen, Metrik und Syntax. Als versierter Morphologe legt er ein besonderes Augenmerk auf die Form des Gedichts. Zu Beginn erprobt er eine Konstruktion aus sechs plus vier respektive vier plus sechs Versen, die er in der zweiten Hälfte des Buches zur Sonettform überführt. Seit zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts der sogenannte „Sonettenkrieg“ durch die deutschen Schreibstuben tobte, gilt das Sonett als programmatisches Gedicht. Wer es verwendet, will sich grundsätzlich über Dichtkunst verständigen. Popps Arbeit am Sonett schließt selbst das anfängliche Vier-plus-sechs-Format ein. Quartett und Sextett entsprechen der geometrischen Grundform des Sonetts. Kompositionsmuster dieser Art durchziehen die Textur des Bandes. Über Jagd, Dickicht, Beute („Kaninchenfell“) mündet die Bewegung des Textes auf Rilkes Spuren im „Jardin des Plantes, Paris“. Der Streifzug durch Natur- und Lebensformen schließt dort, wo die Wildnis gebändigt wird. Popp löscht bei seinem Besuch den schweifenden, unscharfen Blick von Rilkes Panther im gefiederten Gesicht einer Eule aus. Nach dem nervösen Zeitalter bleiben heute „null Augen / die das blicken“. Während eine Eule den Umschlag des Buches ziert, galoppiert zuletzt das alte Wappentier der Dichter aus dem Band. Popp versteht, „wie ein totes Pferd dennoch zu reiten sei – / das lebend nicht mal Pferd war“. / CHRISTIAN METZ, FAZ 27.6. hier

Steffen Popp: „Dickicht mit Reden und Augen“. Gedichte.
kookbooks, Berlin 2013. 87 S., br., 19,90 [Euro].

14 Comments on “24. „Neue Berliner Avantgarde“

  1. ?

    Soll das mit dem Rahmen eine Fangfrage sein?

    2007ff ongoing

    Konstellation: verlagsinterne Prozesse, die bereits liefen 2007 – plus Aussenargumentation, wobei die Aussenargumentation das Interne erst aktualisiert, die weitere Konzeption dabei ist bereits rhizomatisch und so auch gewollt, wodurch aber der Abstand fehlt fuer auch gewollte Veraenderung (das ist such bei Deleuze ein Denkfehler) – Einbau von literarischer und kultureller Historie ist dabei inkl gewollt, inkl Bezug auf Literaturpreise und Wettbewerbe in der Richtung, bspw in Muenster; das ist fester Bestandteil, Ergebnis ist u a eine Affirmierung des von mir kritisierten Avantgardebegriffs als auch dessen Institutionalisierung – der Artikel der Lyrikzeitung erfasst das alles auch in anderen Worten ganz richtig und den Gegenstand habe ich kritisiert

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  2. ps

    Die Begriffe Bild, Bildhaftigkeit, Bildlichkeit, Form kommen aus demselben Diskurs wie Experiment, Laboratorium usw. Robbe-Grillet findet deutliche Worte: Diskurs des Spiessers.

    Popp s Dickicht laesst sich auch als Aequivalent zu Rhizom verstehen. Gebilde. Bildung heisst im Spanischen Formacion. Formatieren bedeutet auch Anpassen.

    Ein Rhizom ist nichts Offenes, es wird nur groesser. Es gibt keine Luecken. Es gibt nur Verbindung. Es gibt kein Draussen.

    Formatieren ist ein Programm. Poesie als Lebensform eine Programmatik. Ein Rhizom funktioniert genauso, das Dickicht richtet sich nach dem Rhizom darunter.

    Es fehlt die Kompetenz fuer Offenheit. In einer Lichtung setzt die Programmatik aus. Die Lichtung wird aber als neues Bild verstanden. Bilder wiederum unterliegen bildlichen Strukturen, im Dickicht der Bilder wird klar, dass es auch durch die Lichtung kein aussen gibt. Der Metadiskurs heisst: buergerlich und das gilt auch fuer die Lebensform. Das System wird naturalisiert und ist gleichzeitig buergerliche Institutionalisierung. Natur und Institution fallen zusammen.

    Mit Habermas sind Institutionen gesellschaftlich pathologische Symptome. Das waeren damit auch deren Begriffe, Avantgarde, Experiment, Laboratorium, Bildlichkeit usw. Auch die weiteren Einteilungen wie Popliteratur, Individualismus usw gehoeren dazu.

    Was mich in Berlin schockte war, dass man sich da einfach einreiht.

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  3. Avantgarde, Experiment, Laboratorium usw waren nach einer Untersuchung von Robbe-Grillet Kampfbegriffe () des und der literarischen Spiesser (Analyse: wer hat die Begriffe verwendet, wann, wo, wie, in welchen Konstellationen). Mit dem Ziel die traditionelle Form zu retten. Durch Schubladen.

    Was mich in Berlin wunderte, war die Verwendung der Begriffe von innen. Man selbst.

    Fuer mich kam es ueberhaupt nicht in Frage Schubladen zu nehmen.

    In den 70ern affirmierte Rowohlt etc einen Begriff wie Avantgarde transformatorisch zu „das neue Buch“. Und das ausdruecklich inklusive Lyrik. Lyrik hatte ergo sehr wohl noch einen Lauf nach den 60ern. Inkl Autoren, die wirklich was riskierten.

    Ich war eher geschockt, wie auf einmal Lyrik in Berlin richtig preisgeil wurde und zurueck in den buergerlichen Diskurs ging, wo gerade Begriffe wie Avantgarde, Experiment etc her kommen, der Begriff Laboratorium wurde auf einmal von innen her verwendet, eine Schubkasterl. D h die buergerliche Seite hat sich nicht bewegt, aber die Literatur, hin zum buergerlichen Diskurs.

    Homogen geht s auch gar nicht zu. Teilweise wird die Richtung „das neue Buch“ fortgesetzt, bspw „ich kann diese stelle nicht wiederfinden“ von Daniela Seel. Andererseits verlegt Daniela Seel in Buch und Form und Kommentar extrem buergerlichen Diskurs, von 19 Jh Kinderliedern bis Anleihen im Mittelalter usw. „Das neue Buch“ vermied das und setzte sich bewusst von allen buergerlichen Tendenzen ab. Man koennte sagen, damit wurde sich auch vor postmodernen Tendenzen abgesetzt, indem nichts Buergerliches affirmiert wurde.

    Kaempfe entstehen immanent, wenn solche Dinger nicht bewusst gemacht werden. Was heterogen aussieht, leistet sonst eine Homogenisierung von Literaturgeschichte, Rezeption, Publikum, etc und fuehrt konsequenterweise zur Einreihung in den buergerlichen Kanon.

    Die Aufmachung des „neuen Buchs“ war eher schlicht, die dabei ausgeloeste Energie desto staerker.

    Heterogenitaet ohne Homogenisierung entsteht, wenn bspw Ganghofer und Burroughs im selben Verlag liegen. Homogenisierung bedeutet eigentlich Partikularisieren.

    Was mich weiter wunderte und schockierte war, wie kleinkariert in Berlin diskutiert wurde. Wo verteidigt wird, wird im Aequivalent dazu Krieg gefuehrt. Und noch mehr wundern darueber, ohne offene Worte.

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  4. der satz „avantgarde ist ein kampfbegriff aus den 1910er jahren“ ist ein unsinn und längst selber eine kampfformel, egal ob man sich dabei auf enzensberger oder auf die diversen völkischen oder kommunistischen propagandisten berufen mag. das ist meine meinung, die nicht jeder teilt, wie ich weiß. das ist nicht weiter schlimm. thomas kling, ulf stolterfoht, bertram reinecke haben differenziertes dazu geschrieben. damit kann man sich auseinandersetzen oder man kann es lassen. wie mit allen klischees.
    (bevor du jetzt darauf anspringst, erkläre ich, daß ich nicht im geringsten daran denke, dich mit irgendwelchen völkischen oder kommunistischen propagandisten in zusammenhang zu bringen. mit enzensberger… mit dem waren wir ja alle konfrontiert.)
    damit habe ich meinen obigen satz, wie ich glaube, ausreichend erklärt. das und nur das habe ich gemeint. alles andere sollen andere verantworten. hugh!

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    • dann können wir (damit & darin) konkordieren!
      >der satz “avantgarde ist ein kampfbegriff aus den 1910er jahren” ist ein unsinn und längst selber eine kampfformel,< kalumet!

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  5. o das tut mir leid. (würde ich antworten wenn hier facebook wär. aber da das nicht der fall ist, sag ich: meine sätze sind genauso richtig oder falsch wie der satz auf den sie antworten. außerhalb dieser antwort hielte ich sie allerdings für ganz wertlos. inhaltlich oder formal, rein oder unrein. – gut gemeint? sollte man sich besser keinen illusionen hingeben. – avantgarde das explizite programm einer strömung & zeit? ah verstehe, der herr meint die straßburger avantgarde von 1770/71. aber die sind doch lange tot.)

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    • wäre es facebook, könnte wir ein (tut mir) leidmotiv anschlagen und uns antworten – so nur (selbst)aussagen, innerhalb werthaftigkeit generierender kausalitäten (reich-, streuweite & haftbarkeitsspektrum):

      wenn, dann würde ich eher Breslau um 1660, also ca.1663, als den von dir gewählten ort, zeit + kombatanten als trefflich erachten … und mit gut einem Jh. mehr, hätte dem stoß noch mehr wucht innegewohnt und der sich übernehmende, überhebende ignorant und banause wäre in seiner regression zu schweigen vernichtet & verpflichtet worden.
      falls du jedoch damit auch auf gewisse kult/phänomene anspielst, oder sie in betracht ziehst, die damals und nicht nur dorthen + in der folgezeit für einige zeit bis in die provinzen richtig mode wurden wie teilweise salonbestimmend samt einer manipel oder mindestens einer centurie ihrer zeit vorausseienden, genies nebst deren subtiler, universal beleckten, verständnissinnigster entourage und überbau aussichtsplattformen will ich dir gern folgen … so gut ich kann – bzw. so weit es mir ziemt & zusteht.

      aber viellicht ist daran was: das Straßburger programm zu der o.g. zeit oder der „geist“ hatte u.a. auch eine recht explizit, selektiv, rückgewandte komponente – und anerkennung unelitärer bewegungen durch die (sich und sie konstituierende) elite, oder?

      nur über den genauen wahrheitsgehalt sowie gültigkeit und akzeptanz der sätze befinden i.d.R. wie fürgewöhnlich fruchtbringende gesellschaften …
      und was strömungen und epochen oder programme und manifeste betrifft, explizite oder implizites selbstverständnis sowie abgrenzungsbewegungen etc. da hängt es, bei aller unebscheidenheit meiner mehroderwenigeren (selbst)herrlichkeit, auch davon ab, wie sie gelehrt und aufgefasst werden;
      auch wie man sich ihrer bedienen möchte oder zu welchem zweck man darauf zurückgreift …

      und im falle der alten dame (obgleich recht häufig geliftet und mit neuem, frischen odem belebt oder manchmal auch nur geschändet) wie auch der postmoderne z.B. gibt es genügend sich ergänzende oder widersprechende ansichten & defintionsweisen bzw. ansätze und herangehensweisen, auf die wir uns nicht zu einigen brauchten.

      ***JA, und ich weiß, dass du gewusst hast, dass der/ich darauf antworten wird!

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    • reim ist ein kampfbegriff aus dem 18. resp. 9. jahrhundert. sonett ist ein kampfbegriff aus dem 19. resp. 13. jahrhundert. poesie ist ein kampfbegriff aus dem 7. jh. v.d.z. – minenfelder, watch your steps

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      • besonders wenn diese vergleiche (und die verallgemeinerungen bzw. ausweitung der kampfzone) hinken. (wie gut gemeint und engagiert auch immer sie sicher sind und was sie auf die sprünge helfen sollen & wollen.)

        sorry Sire, aber wenn jetzt poetologische bis gattungskriterien und begriffe mit einem expliziten programm einer strömung & somit auch ihrer zeitlichen deutlichen selbstfixierung – und abgrenzung – verglichen werden, dann komm ich nicht drum rum, das nicht unerwähnt- wie mich nicht darüber aus zu lassen;
        da ist mir die schnittmenge des „t.c.“ so nicht gegeben oder zu klein … selbst wenn man es rein formal betrachten würde.

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