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Alfred Lichtenstein
(* 23. August 1889 in Wilmersdorf; † 25. September 1914 bei Vermandovillers, Département Somme, Frankreich)
Der Ausflug [1912]
Du, ich halte diese festen
Stuben und die dürren Strassen
Und die rote Häusersonne,
Die verruchte Unlust aller
Längst schon abgeblickten Bücher
Nicht mehr aus.
Komm, wir müssen von der Stadt
Weit hinweg.
Wollen uns in eine sanfte
Wiese legen.
Werden drohend und so hilflos
Gegen den unsinnig grossen,
Tödlich blauen, blanken Himmel
Die entfleischten, dumpfen Augen,
Die verwunschnen,
Und verheulte Hände heben. –
Dieses Gedicht stand 1920 in der Anthologie „Menschheitsdämmerung“. 25 Jahre später war das alles weit weg, unbekannt und abseitig. Nicht nur in Hitlerdeutschland. „Anthologie der Abseitigen“ hieß eine 1946 in der Schweiz erschienene Sammlung, in der die Gedichte von van Hoddis, Stramm und Lichtenstein neben Kandinsky, Klee, Picasso und de Chirico stehen, abseitig vereint. Am „ss“ statt ß erkennt man vielleicht den Schweizer Verlag, auch die Jahreszahl im Titel haben die Schweizer beigesteuert, sonst lautet das Gedicht identisch mit der Anthologie von Kurt Pinthus, die heute als „Dokument des Expressionismus“ bekannt ist, damals aber den Untertitel trug: Symphonie jüngster Dichtung.
Anmerkung: Unter dem hashtag #Expressionismusjahr2020 findet man alle bisher und noch bis Jahresende hier veröffentlichten Gedichte auch bei Twitter. Bis dahin wird eine mindestens 300 Gedichte starke Anthologie aus Expressionismus und Umfeld entstehen. Vielleicht mag sich jemand anschließen? Make it 500? – Vor 100 Jahren erschien die heute berühmte Anthologie, deshalb: #Expressionismusjahr2020
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