124. Größe, Goethe, Grünbein

Wer heute an Gedichte denkt, den überkommt ein leises Gefühl des Peinlichberührtseins, noch bevor die erste Strophe gelesen ist, sind Bilder*) im Kopf: Lesebühnen, auf denen dünnstimmige Männer aus bärtigen Mündern ihre gereimten Existenzängste ins Mikrofon flöten, im Hintergrund Nieselregen; Volkshochschulkurse, in denen breithüftige Frauen ihr Staunen über glitzernde Mondsicheln oder flauschige Katzenpfoten zu holprigen Versen spinnen, bevor sie im nächsten Monat die Seidenmalereiklasse belegen; Szenen von stillem Protestieren und inszenierter Harmonie, ästhetische Kleinkunst, die einen gähnend oder angewidert zurücklässt. Was ist Lyrik anderes als das Posaunen einer längst bekannten Botschaft in gewundener Sprache, anklagend und wimmernd?

Moment, meldet sich gleich das schwere Gewissen der deutschen Kultur, darf man so denken im Land von Goethe und Grünbein? / Mara Delius, Die Welt

*) sinnfälligerweise verlinkt das Wort im Welt-Original auf die Welt-Bildergalerien

7 Comments on “124. Größe, Goethe, Grünbein

  1. „Ein Gedicht zu schreiben heißt, sich zu zeigen, egal, worum es geht, es handelt immer auch von einem selbst, weil es die Sprache der anderen verstellt“ das ist zwar nicht logisch folgerichtig aber man könnte Zwischenglieder einführen und eine Poetologie drüber errichten. ich finde es ganz hübsch. Ein paar andere Glitzersteinchen würde ich noch finden. Sicher ist diese Besprechung nicht so hinterhältig gemacht, damit wohl damit macht sie sich angreifbarer, man sagt dann: weniger professionell, aber deswegen ist sie eben auch weniger bösartig als Brocans. Und manche Dinge mögen hineingeraten sein, weil die Autorin ihre Leser mal wieder da abholen wollte, wo sie sind. (z.B. Grünbein kennen die vielleicht noch gerade eben …).
    Ansonsten traue ich Brocan zu, die Dichtung besser zu kennen, was über Dichtung geflüstert wird, scheint Mara Delius wenigstens ein wenig zu wissen, wenn auch nicht hammeraktuell, während …

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  2. Ach Gott, lieber Ron. Die Lyrikgemeinde fühlt sich hier immer so schnell auf den Schlips getreten, wenn irgendwo auf der Welt oder in der Welt etwas aus ihrer Sicht Unangemessenes über die Lyrik geäußert wird, das ist schon eigentümlich reflexhaft, dieser Lyrikverteidigungszwang, dieser Selbstverteidigungszwang. Dabei ist dieser Aufsatz nach hinten raus gar nicht so übel. Das Problem der Peinlichkeit bei der Lyrik ist zumindest ein interessantes Thema. Und sich, wenn man Lyrik schreibt, auch nackig zu machen, und sich nicht hinter einer prätentiösen Intellektualität (vielleicht auch ein Grünbeinproblem) zu verstecken (selbst auf die Gefahr hin, daß es dann peinlich wird), wäre auch mal ein interessantes Thema.
    herzlich/ Christian

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    • Gut, dass du Gott aufrufst, ich hätte das nicht getan. Der jetzt auch bärtige Konstantin Ames hat schon Recht: besser wär die Schweigeoblate. Und der jetzt schon länger bärtige Christian Kreis hat auch Recht: Selbstverteidigungszwang. Mir war eben konvulsivisch. Nur der Punkt ist: mit z. B. Jürgen Brocan kann man reden, weil er die Materie kennt, aber andere Thesen aufstellt oder Schlüsse zieht als man selbst. Bei Mara Delius habe ich fast den gegenteiligen Eindruck. Hier wurden gewisse Schablonen repliziert und dann ausgeschmückt. Als würde man von einem Flugzeug aus Pflanzen bestimmen. Den Mitpassagieren sagt man dann: „Im Land von Wald und Wallung sind die Pflanzen — darf man das so sagen? — grün. Und sie welken auch.“ Hallo? Es ist einfach sehr schlecht. Und ’schlecht‘ ist das neue ’schlecht‘. Gespieltes gegiggeltes Ressentiment, und dann mal kurz Amazon angeschaltet. Das „jüngere Amerika“ ist plötzlich wieder das der Sechziger. Dann Heidegger und Catull und trotzdem wirds nicht mal ein Psychologie-Heute-Textat. „Mit einem Gedicht verhält es sich wie mit dem langsamen Öffnen eines Morgenmantels.“ Ich bitte dich! Da musst du zur Überkompensation nicht einen Ersatzdiskurs anflüstern, Christian, obgleich du mit der „prätentiösen Intellektualität“ viel mehr Antwort auf die Suche nach Peinlichkeit gibst als die Autorin aus dem Kämmerlingsring. Wenngleich das für uns ja alles schon immer Felix Philipp Ingold beantwortet.
      Aber du hast Recht. Vielleicht schalten wir mal eine Zeit diese Lyrikzeitungen und Foren aus, beziehungsweise unser Selbstwertgefühl. Und pflegen die dünnen Stimmchen.
      Wahrscheinlich war ich nur voreilig und nächste Woche kommt der Beitrag: „Warum nur wirken Gedichte oft überhaupt nicht peinlich?“ Und danach „Warum nur wirken Gedichte?“ Und so fort.
      PS: Der gute Stefan Schmitzer bürstet gerade in der aktuellen SCHREIBKRAFT gegen alles, was 1970 noch nicht auf der Welt war. Aber mit Substanz, Belegen, Namen.
      Einstweilen ahoi, mein Lieber!

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  3. Ich vermute, die zumindest geistig breithüftig-bärtige Autorin hat keine Ahnung. Nicht mal, wie man eine schöne Polemik schreibt.
    Das ist so diffus, unstet, unkonkret und pennälerhaft, dass es weh tut, das zu sagen.
    Wahrscheinlich handelt es sich bei dieser WELT um eine Schülerzeitung gleichen Namens.
    Adé, Pappkameradin.

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    • Es ist schon ärgerlich, dass über eine auflagenstarke Zeitung wie die Welt am Sonntag, so eine ignorante, klischeesatte Meinung als professionelle Einschätzung ausgegeben und verbreitet wird.

      Man kann sich ins Gesicht spucken lassen, ohne darauf zu reagieren. Aber man muss nicht; Stichwort: Schweigespirale.

      Solche indolenten Artikel, wie die von Frau Delius, schaden letztlich nicht nur der Gegenwartslyrik, sondern auch der Literaturkritik.

      Vielleicht meldet sich hier auch mal eine Dame oder ein Herr der rezensierenden Zunft zu Wort …

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