103. Hier geht es um das wahre Leben

Die Lyrik ist eine gefährliche Sache. INNEN und AUSSEN drohen Mißverhalten und Mißverstand. Stefan Heuer hat das Lob hinter seinen gar nicht tänzerischen Schwerthieben fast versteckt. Im 11. und 12. Satz (ich fange hier mit dem 3. an) kommt es aber gottlob doch (und mit Biermann möchte man ihm zurufen: Du lob mal wieder ohne Bitterkeit).

Doch nicht nur IN, sondern vor allem auch in Sekundärliteratur ÜBER Gedichte wird ohne Unterlass Fragwürdiges geschrieben. Vor allem die an verschiedenen Stellen immer mal wieder gestreute, auf welcher Berechtigung auch immer fußende elitäre Behauptung, Gedichte könne nur genießen, wer über einen entsprechenden akademischen Background verfüge, sich mit dem Kanon auskenne und vergleichen und analysieren könne, ist natürlich Humbug. Es mag richtig sein, dass die Kenntnis von gesellschaftlichen und geschichtlichen Herleitungen und interliterarischem Kontext den Zugang zu einem Text erleichtern kann. Es mag auch richtig sein, dass der regelmäßige Lyrikkonsum das Gefühl für Vers und Metrik öffnet, aber dennoch: Ein jedes Gedicht ist ein neu zu bewertendes Unikat, ein Novum, in dem man sich nicht auskennen kann, ein neues Feld, das es mit Herz und Hirn zu erkunden gilt.

Nun gibt es Autorinnen und auch Autoren, die sich in ihren Gedichten monopoetisch einem Thema widmen. Unglücklicherweise führt diese Spezialisierung oftmals dazu, dass sich große Teile einer potentiellen Leserschaft als unwürdiger Laie vorkommen und damit ausgeschlossen und/oder ausgeladen fühlen. Martina Hefters bei kookbooks erschienener Gedichtband „Nach den Diskotheken“ (ihr Lyrikdebüt nach drei vorangegangenen Romanen in anderen Verlagen) begeht diesen Fehler nicht. Die von ihr in den Mittelpunkt ihrer Gedichte gestellte Differenz, die an vielen Stellen mit dem für sie bedeutsamen Körpergefühl des Tanzens eine Komplizenschaft eingeht, lässt den Leser erstaunlich nah an Körper und Seele heran. Die im Allgäu aufgewachsene Martina Hefter, die in München und Berlin in zeitgenössischem Tanz ausgebildet wurde, präsentiert ihre Gedichte eben so: tänzerisch, nur wenigen Einschränkungen unterworfen, im stetigen Wechselspiel von Bodenständigkeit und dem Griff in den Himmel, ernst und bedeutsam und gleichzeitig spielerisch und offen. Offen für alle, Tanz als Lehrstoff bleibt außen vor, eins zwei Wechselschritt, wie man es in der der Konfirmation vorgeschalteten Tanzstunde über sich ergehen lassen musste, immer wieder der gleiche Blues zu „In the army now“ von Status Quo, getrost kann man das vergessen, wenn man es nicht längst getan hat. Hier geht es um das wahre Leben, um das Daherschreiten der Pfauen, um Bewegungen in der Natur und in Gesellschaft. / cineastentreff

Martina Hefter: Nach den Diskotheken. Gedichte
Kookbooks 2010

16 Comments on “103. Hier geht es um das wahre Leben

  1. Pingback: So oder anders (1995) - Movie

  2. ich hätte es, und damit stimme ich rd zu, auch wesentlich spannender gefunden, die abgrenzung zum daran stoßen aufzufinden. so wirkt das eher wie schleimerei, und zwar in möglichst alle richtungen, selbst in zukünftige, mögliche quasi … jaja, nur niemandem irgendwie wehtun, man weiß ja nie, wer davon später in einer jury sitzt … upps … was sag ich hier nur?

    oder wie: ich wollte eigentlich was über meine verfasstheit sagen, sage es aber über einerseits über allgemeinplätze und andereseits (!) an einem konkreten beispiel eines anderen, mit dem ich mich selbst schmücken kann … scheint ja fast so, als hätte herr heuer das prinzip feuilleton verstanden.

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  3. das ist ein argumentativer trick, über den kontrast zu anderen die rezensierten gedichte positiv hervorzuheben. doch einiges geht hier schief. nicht, weil frau hefters gedichte so oder anders sind (ist mir unmöglich, zu beurteilen), sondern weil die anfängliche kritik schwachpunkte besitzt.

    1. ist es tatsächlich so, dass wir eigentlich irrsinnig viele leser hätten, wäre die lyrik von vielen nicht so verhunzt unzugänglich, hermentisch, hohl, die so aber tatsächlich für allezeit verschreckt werden? wären die fernsehsender voll von lyriklesungen, lyrikerporträts, -sendungen, würden wir alle doch nur wie robert gernhardt schreiben?

    wenn ich schon zu den seltenen geschöpfen zähle, die sich für lyrik erwärmen, aus welchen gründen auch immer (eltern, lehrer, freunde, das richtige buch zur rechten zeit, die arroganz, es selbst zu können…), wenn also die interessen tatsächlich in diese richtung driften, wird mich schwierigkeit, befremdung, sinnleere etc. nicht unbedingt abschrecken, für allezeit. ein einfacher vergleich: es wird wohl kaum einen menschen geben, so meine vermutung, der, nachdem er einen film von david lynch gesehen hat, oder ‚donnie darko‘, oder was von miike takeshi, und sich keinen reim drauf machen konnte, sich sagte: „so, ich schwöre dem film für allezeit ab“ und seinen fernseher plus dvd-recorder aus dem fenster warf. wer schon so weit ist, überhaupt einen gedichtband in den händen zu halten, wird nicht einfach davon rennen, begegnet ihm einmal oder zweimal ein ungenehmer autor. er liest was anderes, was passenderes.

    2. dass mir eine sache nicht gefällt, dass ich mit einer sache meine schwierigkeiten habe, bedeutet nicht, dass inhärent mit dieser etwas nicht stimmt. das gilt selbst für literatur. das eine folgt nicht automatisch aus dem ersten.
    mag es diesen verdacht geben, diese vorwürfe, mögen menschen so auf diese texte reagieren: das lässt kein endgültiges urteil zu, keine abfuhr wie diese.

    3. immer mit diesem allgemeinen blabla. statt konkret zu werden, namen zu nennen, ein beispiel zu geben, um den kontrast im direkten vergleich sichtbar zu machen. das ist schwach. irgendeinen ominösen allgemeinen missstand zu evozieren, das ist einfach schlechter stil und kann nicht überzeugen. eine politiker-masche.

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  4. ich habe angst. welche zeitgenössischen autoren und autorinnen mit ihren verwirrenden worthülsen muss ich denn nun auf jeden fall meiden, um nicht gefahr zu laufen, die begeisterung für die lyrik zu verlieren, unverwirrt zu bleiben? wer genau schreibt denn fragwürdiges? ich kann mir nicht mehr sicher sein, jeder außer frau hefter (und heuer, gottseidank) ist ein potenzieller lyrikkiller, ein zerstörer der leselust auf ewig. ich meine, es gibt sie, sie sind unter uns, die mit dem dioxin zwischen den zeilen. sie zerstören die lust am gedicht. und ab jetzt ist jeder verdächtig. bis heuer namen nennen kann und ich weiß, bei wem ich sicher lesen kann.

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  5. wer oder was ist ein cineastentreff?
    und ich möchte mich gegen einen hamann-missbrauch aussprechen!
    mit besten grüßen, swl

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    • Einverstanden. Vielleicht sollte man nicht in Hamanns Namen schreiben, liebe SWL. Kommt nicht wieder vor, weder hier noch in Rumänien.

      Freundliche Grüße.

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      • ist das eine invektive? darf man damit nicht spaßen? alas! warum in rumänien?
        ein zaunfall/zaunphal/l? winke mit hermés-tüchlein…..

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      • Hm., vielleicht eher ein Missverständnis bei der Deutung der Initialien. Sowas passiert ja, wenn man den Klarnamen weglässt und die Teilnehmer dann aneinander herumraten. Nichts für ungut. Nein, keine Invektive.

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      • Dacht ich eben auch daran. Ich beziehe meine Energie von Ihnen. Freu mich ja, dass Sie mich noch bedienen. Werde aber wechseln, wenn ich kann.

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  6. Sie haben Recht, Dr. Gratz, aber warum sollen die einen sich exponieren, während andere verschwitzt aus ihren Kuhlen müffeln. So, Schluss jetzt damit, dem ist Genüge getan.

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  7. Die Rezension, die in ihrem ‚eigentlichen‘ Rezensionsteil ja hingehen mag, eröffnet in der Tat mehrfach unglücklich. Sie haben uns hier ja den „Header“ und den „Teaser“ sogar noch erspart, lieber Herr Gratz.

    Es titelt: „alpiner full contact zwischen Körper und Geist“. So erfreulich es sein mag, wenn Körper und Geist in ‚vollem Kontakt‘ zueinander stehen – hier trägt die metaphorische Leihmutter den Casus doch reichlich kämpferisch aus, eher letal als fetal, nicht einmal banal vielleicht, tendenziell aber fatal: Körper und Geist begegnen einander als kickende Boxer oder Karateka (der Idealist sieht bei diesem Kampf leichte Vorteile auf Seiten des Geistes, bei welchem bekanntlich unbekannt ist, von wannen er kommt und wohin er fähret, und der daher schwer (an) zu treffen sein wird, während der Realist die materiale Schlagkraft dieses windigen Teilnehmers in Frage zu stellen versucht sein kann – hoffen wir auf ein Remis, oder wie sagt man, im Kampfsport, wenn uns unser Leben lieb ist, oder wie man sagt). Nun, der Eindruck eines brutalen Kampfes, der zugleich tänzerisch zu sein hätte (kein Widerspruch, lehrt uns Bruce Lee) stellt sich bei Martina Hefters Gedichten keineswegs ein. – Das Beiwort „alpin“ transferiert die Metapher dann noch auf den Steilhang, wo es sich, Lawinenfreiheit unterstellt, sicher ebenfalls (wenn auch weniger sicher) trefflich kicken und boxen lässt, und man denkt vielleicht eher an Maria Riesch – deren Tätigkeit wiederum eine zuweilen sehr beeindruckende harmonia constabilita zwischen Körper und Geist vermuten lässt – als an Martina Hefters Gedichte, wo eine solche Harmonie auf anderen Wegen ihrer Realisierung entgegenstrebt. – Und da möchte man allen Herstellern von Metaphern wiedermal die aristotelische Testfrage per Einschreiben zustellen: „Was guckstu?“ Mit einer guten Schneebrille wäre das nicht passiert.

    Im fettgedruckten Prätext vor der ‚eigentlichen‘ Rezension heißt es dann:

    „Die zeitgenössische Lyrik steht bei vielen Menschen im Verdacht, ihren Sinn und Zweck, im Grunde ihre Berechtigung, aus der Absonderung von realitätsferner, hermetisch in sich geschlossener und möglichst unverständlicher (muss dann wohl Kunst sein) Worthülsen zu ziehen; verkopft, fernab jeder Lesbarkeit, nix für den Nachttisch. Heftige Vorwürfe, die sich – wie man leider zugeben muss – nur allzu oft als zutreffend erweisen und schon so manchen Leser in die Verzweiflung getrieben und auf die lebenslange Lyrikflucht geschickt haben.“

    Schon die Erkundung der Überschrift „mit Herz und Hirn“ hat mich, wie ich eben merke, so viel Kraft gekostet, dass ich vor der Analyse dieses aus sprachlichem Abraum zusammengeschütteten, alpentraumhaften zero-contact-und low-kick-Konglomerats aus Dummheiten und Unterstellungen vorläufig die Waffen, äh Knochen strecken muss. Möge sich wer anders übernehmen. – Müd bin ich, die Kinder schreien, füttern muss ich, zärteln, windeln und speien.

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    • Aber schöner wäre es doch gewesen, du hättest deinen Namen angegeben. (Diese anonymen Heckenschützen und feigen Heuchler — in jedem Regime wären sie die Ersten unter den Denunzianten — sind eine Pest.) Du schmälerst damit deine Argumente.

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      • Ja, das wollte ich auch gerade anmerken, Herr Lampionwerfer. – Naja, der Text oben ist von seinem Verfahren her ein wenig an die metakritische Methode Johann Georg Hamanns angelehnt, der immer unter Pseudonym schrieb und heftig polemisierte. Ob eher die Personalisierung dem Argument zuträglich ist, oder doch eher die Anonymisierung – das wäre ein neues Thema, denke ich. – Das Pseudonym ist im übrigen halbwegs durchsichtig gewählt 🙂 – Ich finde das Gedicht von Martina Hefter nicht, an das ich mich aber grob erinnere, in dem der „full contact“ benutzt wird: hier wäre vielleicht weiterzuarbeiten, was den Einsatz der Metapher betrifft. Er läuft dort vermutlich durchdachter.

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