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Saul Tschernichowski
(hebräisch שאול טשרניחובסקי; ukrainisch Саул (Шауль) Гутманович Черниховський, Saul Hutmanowitsch Tschernichowski; geboren am 20. August 1875 in Michailiwka im Süden der Ukraine; gestorben am 14. Oktober 1943 in Jerusalem)
Wem gehört der Dichter? Geboren in einem Ort im Süden der Ukraine, der zum Russischen Reich gehörte. Exiliert nach Deutschland und dann nach Palästina, damals britisches Mandatsgebiet, heute Israel. Sowohl russische als ukrainische Wikipedia nennen ihn einen jüdischen Dichter hebräischer Sprache. Ist er, als Jude, staatenlos? Sein Geburtsort ist seit 7 Monaten russisch besetzt und seit Anfang des Monats der Russischen Föderation angeschlossen.
Und wem gehört der Friedhof von Bachtschisaraj? Das ist eine tatarische Stadt, sie liegt auf der Krim, die 2014 auf dem gleichen Weg heim ins Reich geholt wurde wie jetzt die nur wenige Tage existierende „Volksrepublik Saporishshja“. Tschernichowskis Gedicht nennt „Grusier“ (die russische Bezeichnung für Georgier) und Deutsche. Ob die Tataren nicht genannt werden, weil sie auf einem eigenen islamischen Friedhof begraben wurden? Ich vermute es. Jedenfalls kommt auch Allah im Gedicht vor. Ich erwähne noch, dass der Türke (Osmane) Çelebi, der Russe Puschkin und der Pole Mickiewicz über die Stadt schrieben. Und nun der „Hebräer“ Tschernichowski.*
Der Friedhof neben dem Palast von Bachtschisaraj Ein Gott des Gartens hat den Garten hier gepflanzt! Hier erntet Azrael. Im Schatten weinen Eschen, Zypressen, Weiden und das welke Laub der Pappel. Und zwischen Halmen des Getreides auf den Pfaden — ruhen dort ewig bei den blauen Herbstzeitlosen die Töchter Grusiens, Germaniens und Töchter der Inseln, braun vom Licht der Sonne, Handelsware gleich wurden sie gepflückt nach Lust des dumpfen Herrn. Wer weiß, ob nicht erst jetzt, posthum, aus fremdem Auge, das selbst die Lettern in den Namen nicht erkennt, die Träne fließt, nach der sich jene Töchter sehnten. Denn Allahs Hand bestimmt: Wer nur gefangen wird und wessen Antlitz rot wird unter dem Florett, und wessen Angesicht verfluchte Schönheit küsst... Odessa 8. April 1921
Deutsch von Jörg Schulte, aus Saul Tschernichowski: Dein Glanz nahm mir die Worte. Band I. Sonette, Idyllen, Gedichte. Aus dem Hebräischen von Jörg Schulte. Mit einem Vorwort von Aminadav Dykman. Berlin: Edition Rugerup, 2020, S. 92f
*) Jedenfalls sollten wir die versimpelnde, die Propagandaerzählung von den „ethnischen Russen“, die nichts sehnlicher wünschen als zurück zu Mütterchen Russland, mal als solche wahrnehmen.
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