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Veröffentlicht am 11. Dezember 2020 von lyrikzeitung
Max Herrmann-Neiße
(* 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; † 8. April 1941 in London)
Absage an ein ganzes Land
Ich möchte doch den ersten Lenz begehen,
ich möchte irgendeine Orgie sehen!
O Land, in dem ich nie ein Laster traf:
was hat in deine Kargheit mich verschlagen?
Du ödest mich mit immer gleichen Tagen,
mit Nächten voller Mühsal, Stumpfsinn, Schlaf!
Gleich fremd bin ich in jeder Stadt geblieben
und hockte nur zu Haus und hab geschrieben,
trank einsam mich in wüster Träume Trug.
Hernach war jeder Morgen desto grauer.
Mein Maskenkleid auf Festen war die Trauer,
denn ihrer Feste tat mir keins genug.
Die Sprüche selbst in ihren Pißlokalen,
und was sie trunken an die Wände malen,
sind plumpe Zoten oder »Juden raus!«
Und ihre Weiber protzen mit Finessen,
die sie gehappig mit dem Messer fressen,
und sind gleich unbegabt für Bett wie Haus.
Warum bin ich nicht so wie andre Dichter
gelitten und geliebt bei dem Gelichter
und der Vertraute vieler Liebesfraun?
Geschätzt von Kritikern und Kunstmäzenen,
daß mich zu kennen, sich die Söhne sehnen
und daß die Töchter lüstern nach mir schaun?
In diesem Lande gelten nur die Dummen,
die ohne Widerpart nach Wunsch verstummen
ist alles abgekartet stramm und brav.
Die eigne Fratze mag ich nicht mehr sehen.
Ich möchte einen saftgen Mord begehen –
schon hat mich dieses Landes ewger Schlaf!
Aus: Max Herrmann-Neiße: Mir bleibt mein Lied. Gedichte 4. Frankfurt/Main: Zweitausendeins, 1990 (2. Aufl.), S. 22
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Max Herrmann-Neiße
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