Jenseits (der Bedeutung?)

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In einem Reclambändchen steht dieser Vierzeiler (Rubaiyat) von Rumi (1207-1273). Die Übersetzerin Annemarie Schimmel hat neben einer sechsbändigen Ausgabe des Diwan und einem weiteren Buch die Handschrift Istanbul Esad (2936 Blätter) benutzt, die „älteste[…] Vierzeilerhandschrift“.

Von Glauben und Unglaub‘ liegt jenseits ein Land,
Uns liegt eine Leidenschaft dort an dem Strand.
Der Wissende, der dorthin kommt, beugt sein Haupt,
Nicht Glaub‘ ist, nicht Unglaub‘, nicht Ort dort bekannt.

R 318 b 1

Aus: Maulana Dschelaladdin Rumi: Aus dem Diwan (UNESCO-Sammlung repräsentativer Werke, Asiatische Reihe). Aus dem Persischen übertragen und eingeleitet von Annemarie Schimmel. Stuttgart: Reclam, 2000 (zuerst 1964), S. 62

Einmal war ich am Grab in Konya in Anatolien, ein Wallfahrtsort, wo neben einem prächtigen Rumiband (den der schriftunkundige Westler zuerst für den Koran hält) auch eine Haarlocke des Dichters ausgestellt und von Menschenmassen belagert wird. In einer anderen Stadt, vor einer Moschee in einer früheren Karawanserei, verkaufte der Imam persönlich Bücher und Devotionalien, für mich zwei Hefte auf Englisch, er freute sich über die Anteilnahme und fragte mich ein wenig aus. Zufällig befindet sich in einem davon eine englische Fassung just dieses Vierzeilers, übersetzt vom Herausgeber der Broschüre, Talat Sait Halman (Love is all. Rumi’s life and poems of ecstasy. Istanbul 2011).

Beyond belief and faithlessness there lies the space
In whose heartland this love of ours has found its place:
It holds no room for religion and sacrilege –
That’s the ground where the man of wisdom rubs his face.

Man braucht vielleicht ein bisschen Phantasie, um zu erkennen, dass es sich um das gleiche Gedicht handelt. Hier noch einmal beide Fassungen parallel, die zweite nach dem englischen Text von mir in Prosa übersetzt:

Von Glauben und Unglaub‘ liegt jenseits ein Land,
Uns liegt eine Leidenschaft dort an dem Strand.
Der Wissende, der dorthin kommt, beugt sein Haupt,
Nicht Glaub‘ ist, nicht Unglaub‘, nicht Ort dort bekannt.

Jenseits von Glauben und Unglauben liegt die Gegend
in deren Kernland diese unsere Liebe ihren Platz gefunden hat:
In ihr ist kein Raum für Religion und Entweihung –
Das ist der Boden, auf dem der Weise sich das Gesicht reibt.

Ohne das Original zu kennen, meint man zu verstehen, dass die englische Fassung diesem näher sein wird. Es fällt auf, dass der Übersetzer ins Englische in den vier Zeilen fünf verschiedene Substantive für den Ort verwendet: space, heartland, place, room, ground. Wie Stäbe halten diese fünf Substantive das kurze Gedicht und den mystischen Inhalt fest im Griff. Ein starkes Gedicht (in der Nachdichtung Annemarie Schimmels war mir das nicht deutlich).

Der türkische Professor leitet das Zitat mit einem kurzen Satz und zwei weiteren Zeilen Rumis ein – aus dem Kontext scheint sich zu ergeben, dass diese zu dem unmittelbar vorhergehenden Vierzeiler gehören:

Er betont den Vorrang der Liebe vor formaler Religionsausübung:

Nur Narren loben und verherrlichen die Moschee
Während sie Herzen voll von Liebe und Glauben unterdrücken.

Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī, kurz Rūmī oder Rumi, persisch جلال الدین محمد بن شيخ بهاء الدين محمد بن حسين بلخى رومی, in Iran meist Maulawī (مولوی) genannt, geboren am 30. September 1207 entweder in Balch, heute Afghanistan, oder Wachsch, heute Tadschikistan, gestorben am 17. Dezember 1273 in Konya.

1 Comments on “Jenseits (der Bedeutung?)

  1. Die englisxhe Version ist auf jeden Fall die schönste, und so möchte ich das Gedicht auch gern weitervermitteln….Das befreit uns von Fesseln, macht uns aber auch zugleich frei, um uns neu zu binden: an das Licht der Wahrheit, hoch über unseren Welten.🌿🌈⛅🌞🌟🌙

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