1. cut: Mara Genschel

Die Betrachtung der Dinge in Endlosschleife

Ein ganzer Wald aus Mädchen, ein Dickicht [undurchschaubar], sogar nackt. || Mein Blick geht von einem schräg gestellten Schreibtisch schräg durch zwei Fenstertüren in einen Ausschnitt Grün und Himmel. || Akustisch ist im Hinterhof alles präsent: Alle Fenster sind durchweg geöffnet. Das Prinzip Schacht schwemmt diverse, zum Teil dramatische Äußerungen und Vorgänge nach oben. Streit, Musikgeschmäcker, das „Erotikcafé“. Dazwischen vermitteln Vögel. || Wie viel Sinn macht eine Unterscheidung zwischen temporären Impuls-Lieferanten und immerwährenden Lieben? Zanzotto, Egger, Hoffmannswaldau versus Cummings, Mayröcker, Mallarmé? || Man muss erst lernen, vor dem Einfluss nicht in Angststarre zu verfallen. || Im Respekt vor der Notiz gelingt es mir tatsächlich, mich halbwegs zu organisieren: Ein kleines, „blumiges“ Notizbuch für unterwegs, ein weiteres kleines, nur für Zeichnungen, ein großes für unterwegs mit viel Fremdmaterial im Umschlag, eins, um Sätze und Passagen aus Büchern abzuschreiben, die mir nicht gehören, eins für essayistische Ansätze und Fragmente, eins nur für Träume, eins, das meine akustischen Aufzeichnungen organisiert, sowie einen MiniDisc-Player für die akustischen Aufzeichnungen. Außerdem jeweils eins für jedes ernsthaft gestartete größere Projekt. Die scheinbar unverhältnismäßig penible Kategorisierung ist nur der Not geschuldet, einer Frage nach der Form. Wie lässt sich was aufzeichnen? Wie fixieren, wie wieder abrufbar machen? || Für nostalgische Notizen, die nicht annähernd so ergiebig sind wie die Sehnsucht nach ihnen, empfehlen sich vielleicht diese rosenumrankten Tagebücher zum Abschließen: Man kann die Schlüsselchen danach einfach wegschmeißen und den Inhalt der Seiten begehren, ohne sich mit ihnen konfrontieren zu müssen. || Tradierte Formen haben ihre Gründe und Abgründe. || Die durchforsteten, auseinanderfallenden Bücher an meiner Seite sind die Tagebücher von Paul Klee, Verbalnotationen von Alvin Lucier, „Das Große Lexikon der Malerei“ und John Cage, „Für die Vögel“. || „Für die Vögel“ aufzuschlagen bedeutet, nicht zu planen, sondern von einem schräg angeschnittenen Gedanken heimtückisch überrascht und eventuell handlungsunfähig gemacht zu werden. || Konzentration bleibt eine Maxime, der ich ständig angestrengt zuarbeiten muss: die Splitter in irgendeiner Weise zusammenhalten. Bruch, Demontage, Unruhe passieren sowieso und ohne Zutun, genau wie Traum und Schlaf. || Angst vor Pathos oder Kitsch halte ich für Angst vor dem unscharfen Gedanken. Der sentimentale Schwebezustand ist dann noch nicht überschritten. Dasselbe gilt aber auch für die Angst vor der Angst. Vor einer lähmenden, übermäßigen Vorsicht. Mut zu Pathos und Kitsch könnte also auch Unerhörtes, eventuell ungehörig Gutes in Gang bringen. || Ich bin nicht an Symbolik interessiert, ich glaube an Codes. || Ich glaube an einen Sinn des Dichtens: Nicht Wahrnehmungsvorgänge, sondern Rezeptionsvorgänge offen legen und verdichten; auch, um sie daraufhin freizugeben für neue Rezeptionsvorgänge. || Dissonanzen, komplexe Rhythmen, Loops – aufspüren, zulassen, eingreifen. || Verständnis, wenn es das gibt, ist immer schöpferisch. || Zur Zeit arbeite ich an alten und neuen Glossolalien, zusammen mit dem Lautdichter Valeri Scherstjanoi. Ich versuche dafür auch, die Geige zum Sprechen zu bringen; sie kann, der menschlichen Stimme eigentlich sehr ähnlich, ziemlich ekstatisch artikulieren. Das ist gewissermaßen ein Versuch, Klang zu verdichten. || Die Vertiefung in Dinge/Klänge/Texte ist verliebt und hilflos – und verursacht ab einem bestimmten Punkt immer das Prinzip Ohrwurm. Je banaler, desto mächtiger. Die typischen, unendlich oft gelesenen Klo- oder Cornflakespackungs- Texte. Das Muster des Bettbezugs. Die ein ominöses Metallrohr ansägenden Handwerker, morgens. Die rote Tasse mit den weißen Punkten. An der Musikhochschule eine gängige Aufgabe im Fach Gehörbildung: „Notieren Sie folgenden vierstimmigen Satz: Klimper, klampklamp, klimper.“ Auch wenn die Melodielinien unzählig oft wiederholt werden, auch wenn am Schluss alle Noten stimmen, auch wenn der Choral einen für den Rest des Tages nicht mehr loslässt – durchdrungen ist das Stück, der Text, das „Ding“ noch immer nicht, noch immer nicht in meinem Besitz. Das Muster meines Bettbezugs habe ich so genau studiert, ich könnte es möglicherweise aus dem Kopf heraus skizzieren; es würde sich aber sofort entziehen, als etwas Fremdes, mit der Situation des morgens Aufwachen und Träumen nichts zu tun Habendes. || Vielleicht hört die Welt da auf: wo die Betrachtung der Dinge in die Endlosschleife gerät – sich an bestimmten Stellen abnutzt, dann fratzenhaft Details hervorkehrt, bis sie sich irgendwann selbst demontiert. Aber wird sie sich jemals komplett auslöschen? || Das Schreiben hört da auf, wo die Hingabe an einen Gegenstand total wird, im Sinne einer Selbstauslöschung. Das kann glücklicherweise nicht passieren, solang das Herz schlägt, denn kein Schlag gleicht exakt dem anderen.

aus dem soeben erschienenen Sommerheft der BELLA triste

Darin Beiträge der folgenden Autorinnen und Autoren:

prosa und lyrik
° Stefan Mesch
°° Susanne Heinrich
°°° Nadja Wünsche
°°°° Tobias Hipp
°°°°° Jo Lendle
°°°°°° Simone Kornappel
°°°°°°° Martin Lechner
°°°°°°°° Kay Steinke
cut
°°°°°°°°° Mara Genschel
phon
°°°°°°°°°° Jenny Erpenbeck
pool
°°°°°°°°°°° Michael Stauffer
°°°°°°°°°°°° Sandro Zanetti
°°°°°°°°°°°°° Kai Weyand
°°°°°°°°°°°°°° Jörg Albrecht
lux
°°°°°°°°°°°°°°° Mirko Bonné

Außerdem: Illustrationen und ein Plakatumschlag von Friedemann Bochow.

Bestellungen unter www.bellatriste.de.

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