66. Unterländisch

Während die zeitgleich stattfindende offizielle Eröffnung der Buchmesse im Gewandhaus dem Vernehmen nach eine gediegen-zahme Veranstaltung gewesen sein soll, bot der vom Schriftsteller und Lautpoesie-Experten Michael Lentz konzipierte und moderierte Abend im ausverkauften Haus Spektakuläres. Herbert Grönemeyer, Deutschlands wohl einziger wirklicher Popsuperstar, war als Gedichtrezitator angekündigt, eingerahmt von herausragenden internationalen Vertretern der Sprech- und Stimmkunst. …

Der in Berlin lebende Russe Valeri Scherstjanoi begann den Reigen mit seinen ekstatischen Rezitationen von Chlebnikov, Majakowski und anderen Avantgardisten – im Original selbstverständlich. Zu erleben war eine Anverwandlung, die mindestens im Fall Majakowskis einer spiritistischen Seance gleichkam. Jandls „Schtzngrmm“ war nichts dagegen, allerdings hätte er auch Kochrezepte oder Deklinationstabellen mit dem gleichen Wanda-Effekt vortragen können.

Wie der souveräne Conferencier Lentz listig vorwegnahm, waren die auf Prominentenrezitation eingestellten Zuhörer sichtlich geplättet von dieser schamanistischen Geisterstimmenbeschwörung. Verstehen war, jedenfalls im landläufigen hermeneutischen Sinne, nicht der Aufnahmemodus dieses Abends. Die sorbische Dichterin Róža Domašcyna trug experimentelle Sprachsalatgedichte vor, die schon für ein Verzweiflungslachen im Saal sorgten, als sie – immerhin – ankündigte: „Das nächste Gedicht enthält deutschsprachige Elemente“. …

Doch hätte man gedacht, dass ausgerechnet er [Grönemeyer] in einer Runde Vortragender der Leiseste und Verständlichste sein würde? Gut, er war auch der Einzige, der Deutsch sprach. Dazwischen kam erst einmal wieder mit dem niederländischen Klangpoeten Jaap Blonk und dem amerikanischen Stimmwunder David Moss der reine, von jedem Sinn befreite Laut zu Ehren. Das „Unterländische“, so das von ihm kreierte Kunstidiom, habe den Vorteil, so Blonk, dass es auch seine Landleute nicht verstünden.
Zufällig anwesende Hals-Nasen-Ohren-Ärzte hatten wahrscheinlich noch das tiefste Verständnis für die mitunter schmerzhaften Körpergeräusche, die Blonk und Moss hervorbrachten. „Poesie hart an der Realität“ nannte Lentz das. Das Publikum hatte inzwischen wohl auch genügend Grenzerfahrungen gemacht, so dass schon Ankündigungen genügten, um Gelächter ausbrechen zu lassen. Etwa die, jetzt folge „Singstimme in Sellerie“ (Domascyna) oder ein „Solo für Backensyntheziser“ (Blonk), das so klang, als würde Donald Duck die Furzorgien aus Heinz Strunks „Fleckenteufel“ imitieren. / Richard Kämmerlings, FAZ 12.3.


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