L&Poe 21 | September 2017

Liebe L&Poe-Leserinnen und -Leser,

img_4431seit Ende 2000 gibt es die Lyrikzeitung, 15 Jahre als Tageszeitung, jetzt als Magazin mit Nachrichten aus der Welt der Poesie und der Poesie der Welt. Poetry is news that stays news, sagt Pound. Heute zwei Schwerpunkte. Vor 150 Jahren starb Charles Baudelaire. Der zweite Schwerpunkt ohne direkten Anlaß, sozusagen immer aktuell. Oder wenn man will: Vor 90 Jahren entdeckten die spanischen Dichter den berühmten, lange Zeit geschmähten Barockpoeten Luis de Góngora wieder und etablierten sich darüber als Gruppe, als die Generation von ’27. Beide „Jubiläen“ haben eins gemeinsam, oder vielleicht mehr als eins. In geschichtlicher Sicht repräsentieren beide die Avantgarde ihrer jeweiligen Zeit. Aktuell aber gehen beide – trotz der zu erwartenden Flut von Jubiläumsartikeln zu Baudelaire – dem gegenwärtigen Literaturbetrieb am Arsch vorbei. Lesen Sie warum. Tagesaktuelles: Traklpreis für Oswald Egger, Erlanger Preis für Dagmara Kraus. Gestorben ist der Maler und Autor K.O. Götz, der Literaturwissenschaftler Peter Bürger und der Verleger Egon Ammann. Um Übersetzen geht es in Dirk Uwe Hansens Flaschenpost ebenso wie in beiden Themenschwerpunkten. Weiter: Jacques Schmitz und wie immer manches andere (auch Jan Wagner). Lesen! Kommen Sie jeden Tag vorbei, täglich um 6 ein nicht immer neues aber frisches Gedicht.

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Die Themen in dieser Ausgabe

  • [Das neue Gedicht]
  • [Hansens Flaschenpost]
  • [Thema: Baudelaire]
  • [Thema: Góngora]
  • [Presseschau]
  • [Neue Zeitschriften]
  • [Nachrichtenstrecke]

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    Das neue Gedicht

    Von Jacques Schmitz

    Das aus dem Niederländischen übersetzte Gedicht des in Berlin lebenden Jacques Schmitz bezieht sich auf das Gemälde aus der Schule von Fontainebleau: Gabrielle d’Estrées und die Herzogin von Villars im Bad (Louvre), hier auf einem Buchumschlag.

    Quatre spitzen

    So zartkleine
    busen, offen entblößt
    im park fontainebleau
    und was dann zwischen den
    damen

    alles nicht…

    passiert im kleinen, so ranke
    händchen, zwischen zeige
    und daum, die töricht zart
    nach trau
    ring, warze
    langen, tasten
    beiden.

    Wie tee trinken, liebkosend
    mit gespitzten lippen und kleinen
    finger gestreckt!

    :

    Wie geile böcke auf ihren
    steifen stöcken blicken alte
    streunemänner auf die beiden
    und strecken tatzen
    testen ihren zitzen-
    gefühl, und knipsen wie
    von jeher ihren
    finger

    : Spitze!

    *

    Quatre spitzen – Verweist auf den französischen König Henri Quatre (1553 – 1610) und die vier Zitzen auf dem berühmten Gemälde mit seiner Geliebten, Gabrielle d’Estrées, und ihrer Schwester, die Herzogin von Villars. Das Werk ist um das Jahr 1594 gemacht worden von einem unbekannten Maler der (zweiten) Fontainebleau Schule, die französischen Renaissance, und hängt im Louvre in Paris.

    Das Gemälde zeigt die Schwester im Bad. Die d’Estrées schwanger, von der Herzogin mit zarten Finger an der Brustwarze angedeutet (Muttermilch). Die Maitresse hält genau so zart einen von Henri versprochenen Trauring. Das Gemälde wurde aber auch oft sexuell interpretiert, als lesbische Liebe oder auch als das Streben der Schwester sich am französischen Hof hoch zu schlafen.

    Gabrielle d’Estrées war viele Jahren lang die Lieblingsmaitresse Heinrich des Vierten und Mutter von vier seiner vielen Kinder. Der bon roi Henri hat die Vaterschaft der drei (das vierte Kind wurde tot geboren) offiziell anerkannt. Henri Quatre, der administrative und wirtschaftliche Reformen durchführte, war unter dem Volk so populär weil er jedem französischen Bauer für jeden Sonntag ein Hühnchen auf dem Tisch versprach. Der König, einst Führer der protestantischen Hugenotten, überlebte die Bartholomeusnacht (1572), wurde im Jahr 1610 dann aber doch noch von einem katholischen Mönch ermordet.

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    Hansens Flaschenpost

    Das vorherrschende Versmaß in der griechischen Anthologie ist das elegische Distichon, eine Kombination aus einem Hexameter und einem sogenannten Pentameter. Ein Versmaß, das sich besonders eignet für Zweizeiler mit Pointe.

    Unglückselige Frösche, die ihr Venedig bewohnet!
    Springt ihr zum Wasser heraus, springt ihr auf hartes Gestein.

    (Goethens Venezianisches Epigramm 129)

    Wird aber länger der Text, ödets den Leser bald an, denn anders, als Schillers berühmter Merkvers nahelegt, entsteht durch die starke Rhythmisierung in der akzentuierenden Metrik eher der Eindruck, als wendete sich jemand auf einem Marsch den Hügel hinauf alle naselang um, um das bisher Geleistete stolz zu betrachten.

    (…)

    In der neugriechischen Lyrik gibt es das quantitierende System nicht mehr. Und doch war für mich der Rhythmus der Gedichte beim Übersetzen von Phoebe Giannisis „Homerika“ der entscheidende Faktor. Nicht die regelhafte Gestalt der einzelnen Verse, aber das gegenüber der Alltagssprache stark abgeschliffene und verlangsamte Fließen des gesamten Textes nachzuahmen, aus dem sich die einzelnen Verse behutsam als Individualitäten herausschälen, ohne sich – wie die Distichen etwa – in den Vordergrund zu drängen, war harte und beglückende Arbeit. Lesen Sie den kompletten Text von Dirk Uwe Hansens neuer Kolumne hier

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    Thema: Baudelaire
    Jürgen Ritte

    Zwei bedeutsame runde Daten. Vor 160 Jahren, im Juni 1857, erschien Charles Baudelaires berühmt-berüchtigter Gedichtband „Les Fleurs du Mal“ / „Die Blumen des Bösen“. Vor 150 Jahren, am 31. August 1867, starb der Dichter. Zum Jubiläum dieser Themenschwerpunkt.

    Jürgen Ritte bespricht im Deutschlandfunk die neue Übersetzung der Blumen des Bösen durch Simon Werle. Ein generelles Zitat:

    Eine solche Kunst in huldvoller Anbetung des triumphierenden wissenschaftlichen Säkulums hielt Baudelaire für genauso lächerlich wie sein Zeitgenosse Gustave Flaubert, der sie 1869 in seinem Roman L’Education sentimentale folgendermaßen persiflierte. Hier geht es um ein Gemälde:

    „Es sollte die Republik darstellen, oder den Fortschritt, oder die Zivilisation. Zu sehen war Jesus Christus im Führerstand einer Lokomotive, die durch den Urwald rauschte.“

    Nein, nicht die neue Technik wird besungen, sondern das, was sie geradezu unbeabsichtigt mit hervorbringt, mit hervortreibt. Die Entdeckung der Geschwindigkeit mittels Dampfkraft und Lokomotive, die Gasbeleuchtung in der Nacht, das Aufkommen anonymer, aneinander vorbei gehender Massen in der Großstadt, die Einladung zum Flanieren, die Erfindung der Stadt als permanentem Spektakel ändert auf ganz entschiedene Weise die Wahrnehmungsmodalitäten. Nicht umsonst spricht Baudelaire vom Transitorischen, vom Ephemären, von dem, was kurz wie ein Versprechen aufleuchtet und wieder verschwindet. Eines der schönsten Gedichte der Fleurs du Mal trägt denn auch den programmatschen Titel A une Passante. „An eine Passantin“ heißt es in der neuen Übersetzung von Simon Werle. Friedhelm Kemp titelte in seiner Prosaversion der Blumen des Bösen aus dem Jahre 1975: „An eine, die vorüberging“.

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    Blumen des Bösen? Ein Zwischenruf

    von Michael Gratz

    1

    Blumen, Pflanzen überhaupt haben immer wieder Konjunktur in der Lyrik; so auch in der Gegenwart. Der erfolgreichste Lyriker der Zeit ist Jan Wagner – in wenigen Wochen wird er mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet, und seit drei Jahren schwärmen Zeitungsschreiber von dem Gedichtband, der alle Romane des Jahres 2014 aus dem Feld schlug und den Preis der Leipziger Buchmesse bekam. „Regentonnenvariationen“ sein Titel, „giersch“ heißt das erste Gedicht des Bandes („nicht zu unterschätzen der giersch“), und allein in den Gedichttiteln kommen außerdem diese Pflanzen vor: Weide, Schlehe, Melde, Maulbeere, Morchel (okay, keine Pflanze), Silberdistel, Blutbuche, ficus watkinsiana, andere Gedichte haben Eukalyptus, Lavendel, Mais, Wacholder, Holunder, die Liste ist sicher unvollständig. Das kommt an bei Kritikern und hoffentlich auch bei Lesern, warum? Vielleicht gibt Wagner selbst die Erklärung, wenn er in seinem Essayband [Vielleicht muß man Wagner vor seinen Interpreten in Schutz nehmen und korrigieren:] gibt die Rezensentin selbst eine Erklärung, wenn sie schreibt: „Eine Moderne, die sich zeitweise dogmatisch gebärdete, hat die alte literarische Gattung im Empfinden «sogenannt normaler» Leute ins Absonderliche und ins Unerreichbare gerückt.“ So weit, daß sogar der Dichter des Giersch Befremden erntet, „wenn er sagt, er sei Lyriker von Beruf“ (hier weiter unten). Giersch, Holunder, Melde: erreicht man so die Lyrikverächter, die Nichtleser? Soll und kann Literatur die potentiellen Leser da abholen, wo sie anscheinend sind, im Regentonnenkleingartenidyll bei Melde und Giersch? Die Verfremdung Brechts und der Formalisten; die furiose Hinwendung Charles Baudelaires zu den Blumen des Bösen; Gottfried Benns Absage an die Krokusse („Mit diesen Gedichten der Gelegenheit und der Jahreszeiten wollen wir uns nicht befassen, obschon es durchaus möglich ist, daß sich gelegentlich ein hübsches Poem darunter befindet“); die Hinwendung der „modernen Lyrik“ zu Dissonanzen und Abnormität, oder die anderer zu Großstadt und Technik, Kriegen, Elend, Klassenkämpfen; bis hin zu dem Ostberliner Waisenjungen und Autodidakten Uwe Greßmann, der das Quietschen der Straßenbahn feiert:

    Der wer die Seitenstraße langgeht, kann ja,
    Sucht er die Eintrittskarte
    In der Manteltasche, auch
    Das Konzert der Fahrzeuge da schon hören,
    Falls er keine Zeit mehr hat,
    Die musische Stätte direkt aufzusuchen.

    Diese alle und noch viel mehr, alles dogmatische Moderne? Die Schuld daran sind, daß „sogenannt normale“ Leute nicht mehr zum Gedicht greifen?

    Das Lamento ist alt. Das Nazireich kannte es wie die DDR; und gab es nicht auch in der alten Bundesrepublik genug konservative Kritiker und Leserbriefschreiber, die es teilten? Schade, daß jetzt auch Jan Wagner Wundert es mich, daß jetzt auch die Schar der Wagnerjubler in den Chor einstimmt?

    Ich schlage jetzt die Blumen des Bösen auf und lese im zweiten Gedicht:

    „Zum Himmel, wo sein Auge herrlich einen Thron erblickt, reckt unverstört der Dichter seine frommen Arme, und seines lichten Geistes weite Blitze lassen ihn das Toben der Völker nicht gewahren („Segen“). Ah ja. Aber Vorsicht. Der hehre Dichterling hat Kontexte. Des Dichters Mutter flucht zu Gott in Lästerungen voll Entsetzen, weil sie „diese Spottgeburt“ von Sohn genährt hat. In ihrem gräßlichen Fluch verschont sie die Zimmerpflanzen und Hinterhofbäume nicht:

    So will ich deinen Haß, der mich erdrückt, auf das verfluchte Werkzeug deiner Bosheit übertragen und dieses ärmliche Bäumchen so verkrümmen, daß es seine verseuchten Sprossen nicht treiben kann.

    So spricht die Mutter des Dichters und so spricht auch sein Weib; aber er, der Dichter, „auf Geheiß der höchsten Mächte“, aber er!

    er spricht:

    Ich weiß, daß du dem Dichter einen Sitz bestimmt hast in den seligen Rängen der heiligen Legionen, daß du ihn einlädst zu dem ewigen Fest der Throne, der Kräfte und Herrschaften.

    So tobt die Schlacht. Baudelaire kannte seine Pappenheimer:

    Dummheit, Irrtum, Sünde, Geiz hausen in unserm Geiste, plagen unsern Leib, und wir füttern unsere liebenswürdigen Gewissensbisse, wie die Bettler ihr Ungeziefer nähren. (…) Der Teufel hält die Fäden, die uns bewegen! Widriges scheint uns verlockend“ etc. pp.

    (…) du kennst es, Leser, dieses zarte Scheusal, – scheinheiliger Leser, – Meinesgleichen, – mein Bruder!

    Bruder Baudelaire. Käme, käme er auf uns, unsre Heucheleien zu zertrümmern, unsern Augiasstall auszumisten… aber es kommt kein Baudelaire. Auftritt Wagner. (Pardon, Jan Wagner, für den Kalauer; ich brauchte eine Überleitung zu Goethe.)

    Die wenigen, die was davon erkannt
    hat man seit je gekreuzigt und verbrannt.

    Sagt Goethes Faust. Benn echot:

    „Die wenigen, die was davon erkannt“ – (Goethe) –
    wovon eigentlich?
    Ich nehme an, vom Satzbau.

    Da haben wir den Formalisten. Sie, Genosse, äh Herr, müssen etwas verständlicher reden… damit sie der normale Leser auch versteht.

    2

    Baudelaire kannte das Problem.

    „Illustre Dichter haben seit langer Zeit schon die blumigsten Provinzen im Reiche der Poesie unter sich aufgeteilt. Es schien mir vergnüglich und umso genehmer als die Aufgabe die schwierigere war, die Schönheiten des Bösen zum Vorschein zu bringen. Dieses wesentlich unnütze und absolut unschuldige Buch ist einzig zu meinem Zeitvertreib entstanden und aus der leidenschaftlichen Lust, mich an Widerständen zu üben (…).“

    An Widerständen üben… wie unzeitgemäß! Einschleimen, den prognostizierten Leser „da abholen, wo er ist“, das ist heute angesagt. Vielleicht ist Baudelaire schuld an unserm Elend.

    3

    „Den Herren Journalisten zu Gefallen hatte ich einigen Unflat eingestreut. Sie haben sich nicht dafür erkenntlich gezeigt.“ (Charles Baudelaire)

    Herr Generalstaatsanwalt,

    Ich habe die Ehre, Ihre Aufmerksamkeit auf ein Buch zu lenken, das Herr Charles Baudelaire soeben unter dem Titel Les Fleurs du Mal veröffentlicht hat. Mehrere Texte dieser Gedichtsammlung schienen mir das Vergehen der Beleidigung der öffentlichen Moral in sich zu schließen, vorzüglich diejenigen, welche ich in dem beifolgenden Exemplar angemerkt habe. (Gustave Bourdin)

    4

    „Es ist sehr viel bequemer zu erklären, dass alles am Gewand einer Epoche hässlich sei, als sich darum zu bemühen, die geheimnisvolle Schönheit, die in ihr enthalten sein kann, zum Vorschein zu bringen, so geringfügig oder leichtfertig sie auch sein mag. Die Modernität, das ist das Vorübergehende, das Flüchtige, das Zufällige, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist. […] Dieses transitorische, flüchtige Element darf man nicht übergehen oder verachten. Wenn Sie es unterdrücken, fallen Sie zwangsläufig in die Leere einer abstrakten, unbestimmten Schönheit zurück.“

    Baudelaire: Le Peintre de la vie moderne (= Der Maler des modernen Lebens), 1863

    5

    Góngora sagt über seine Soledades, daß sie ihm in zweierlei Hinsicht Ehre eingetragen hätten: „Wenn die Gebildeten sie verstehen, wird mir das Autorität einbringen, denn es ist unumgänglich, daß man anerkennt, daß unsere Sprache durch meine Arbeit zur Vollkommenheit und Größe der lateinischen Sprache aufgestiegen ist… Weiter wird es mir zur Ehre gereichen, daß ich für die Ungebildeten dunkel bin, denn darin unterscheiden sich die Gebildeten von ihnen, daß sie so sprechen, daß es jenen wie Griechisch erscheint; man soll seine Perlen nicht vor die Säue werfen.“

    Karlheinz Barck über Luis de Góngora (siehe hier)

    Die Frage geht an die Gebildeten unter ihren, der Lyrik, Verächtern.

    Zitate außer dem letzten nach Baudelaire, Sämtliche Werke / Briefe. In acht Bänden. Hrsg. Friedhelm Kemp und Claude Pichois. Heimeran 1975

    Die Pflanzenornamente harmonieren mit dem Aufkleber des Preises der Buchmesse

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    Schielende Übersetzung

    Jürgen Ritte im Deutschlandfunk über Simon Werles neue Baudelaireübersetzung:

    In die jetzt, pünktlich zu Baudelaires 150. Todestag erschienene Neu-Übersetzung der Fleurs du mal hat Simon Werle, die einzelnen Abteilungen und jeweiligen Zusätze sorgsam trennend, alles aufgenommen, was bis 1868 zu Tage gekommen ist. Was für eine Herkules-Tat! Knapp fünfhundert Seiten Lyrik-Übersetzung, und das in der Nachfolge von Stefan George, Walter Benjamin, Rainer Maria Rilke, Ferdinand Hardekopf, Graf Wolf von Kalckreuth, Wilhelm Hausenstein, Bertolt Brecht oder Friedhelm Kemp. Sie – und einige andere – haben sich längst nicht alle an das Gesamtwerk getraut, aber es bedarf schon einigen Mutes und guter Gründe, sich dieser Aufgabe erneut zu stellen. Simon Werle gibt in seinem klugen, sehr kenntnisreichen und umsichtigen Nachwort reichlich Einblicke in seine Übersetzerwerkstatt. Und doch: Es bleibt eine ganze entscheidende Frage in der Schwebe: Wasübersetzen wir, wenn wir Lyrik übersetzen? Die Form oder den Sinn? Lyrik ist vor allem Form, und es ist die Form, die „spricht“, gerade bei Baudelaire, der bei allen bildlichen Provokationen, oftmals von einer geradezu pedantischen Formenstrenge ist, das klassische französische Versmaß des sechshebigen Alexandriners beherrscht und mit ihm jongliert, wie er auch mit größter Eleganz die sehr rigide Gattung des Sonetts bedient und dabei über ein schier unerschöpfliches Reservoir an Reimen zu verfügen scheint. Grund genug also, es nach George, Benjamin oder dem zu wenig gewürdigten Wolf von Kalckreuth, der 1907 seine Baudelaire-Übersetzung vorlegte, noch einmal zu versuchen?

    (…) Man hört aus diesen vier Versen das Ächzen des Übersetzers gewissermaßen heraus, der sich selbst ein zu schweres und gleich doppeltes Joch auferlegt hat: Die Form zum Teil wahren, und den Sinn zum großen Teil respektieren. Friedhelm Kemp, der 1975 mit Claude Pichois die erste deutsche Baudelaire-Gesamtaugabe veranstaltet hat, nannte diese Art der Übertragung, etwas maliziös, eine «schielende» Übersetzung, schielend, weil sie beides will. Und schlug, wie es inzwischen eigentlich Standard ist, eine Prosa-Übersetzung vor, die zwar auf Reime verzichtet, aber in Vokabular und Rhythmus auch noch etwas von der Form bewahrt. Eigentlich lyrische Übersetzungen, wie etwa Stefan George sie gewagt hat, halten sich, so Kemp damals, am besten, wenn sie sich gleich als Nach- und Neudichtungen positionieren.

    Charles Baudelaire: Les Fleurs du mal / Die Blumen des Bösen. Gedichte. 
    Neu übersetzt von Simon Werle
    Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017
    608 Seiten, 38 Euro

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    Eine Strophe und 15 Übersetzungen

    Die erste Strophe des ersten Gedichts der Fleurs du Mal, An den Leser, lautet im Original:

    La sottise, l’erreur, le péché la lésine,
    Occupent nos esprits et travaillent nos corps,
    Et nous alimentons nos aimables remords,
    comme les mendiants nourrissent leur vermine.

    Eduardo Marquina 1905:

    La necedad, el error, el pecado, la tacañería,
    Ocupan nuestros espíritus y trabajan nuestros cuerpos,
    Y alimentamos nuestros amables remordimientos,
    Como los mendigos nutren su miseria.

    Эллис (Л. Кобылинский) 1908:

    Безумье, скаредность, и алчность, и разврат
    И душу нам гнетут, и тело разъедают;
    Нас угрызения, как пытка, услаждают,
    Как насекомые, и жалят и язвят.

    Walter Benjamin:

    Dummheit Verirrung Sündenstand und Borgen
    Befängt uns geistig und verzehrt den Leib
    Und Reue nähren wir zum Zeitvertreib
    Wie Bettler schmausend ihr Geschmeiß versorgen.

    Therese Robinson 1925:

    In Dumpfheit, Irrtum, Sünde immer tiefer
    Versinken wir mit Seele und mit Leib,
    Und Reue, diesen lieben Zeitvertreib,
    Ernähren wir wie Bettler ihr Geziefer.

    Jaroslav Goll 1927:

    Hle! hloupost, blud a klam, hle! hřích a mor i hlízu,
    čím duch se plní nám, čím těla strádají;
    v nás milé svědomí se výtky střádají,
    jak žebrák k pokrmu své tělo dává hmyzu.

    Carlo Schmid 1947:

    Verirrung, Dummheit, Sünde, Lug erschüttern
    Im Fleisch uns, legen auf den Geist die Hand.
    Wir päppeln unseres Gewissens Brand
    Wie Bettelleute Ungeziefer füttern.

    Carl Fischer 1949:

    Verirrung, Torheit, Geiz und sündiges Begehren
    Bedrängen unsren Geist, belasten unsren Leib;
    Die Reue füttern wir als holden Zeitvertreib,
    So wie die Bettler sonst ihr Ungeziefer nähren.

    Roy Campbell 1952:

    Folly and error, avarice and vice,
    Employ our souls and waste our bodies‘ force.
    As mangey beggars incubate their lice,
    We nourish our innocuous remorse.

    William Aggeler 1954:

    Folly, error, sin, avarice
    Occupy our minds and labor our bodies,
    And we feed our pleasant remorse
    As beggars nourish their vermin.

    Robert Lowell 1963:

    Infatuation, sadism, lust, avarice
    possess our souls and drain the body’s force;
    we spoonfeed our adorable remorse,
    like whores or beggars nourishing their lice.

    Eli Siegel 1968:

    Foolishness, error, sin, niggardliness,
    Occupy our minds and work on our bodies,
    And we feed our mild remorse,
    As beggars nourish their vermin.

    Sigmar Löffler 1973:

    Dummheit und Knauserei, Irrtum und Sünde setzen
    In unserm Geist sich fest, bringem dem Leib Gefahr,
    Und die Gewissensbisse, diese liebe Schar,
    Ernähren wir, wie Bettler ihre Läuse letzen.

    Friedhelm Kemp 1975:

    Dummheit, Irrtum, Sünde, Geiz hausen in unserem Geiste, plagen unsern Leib, und wir füttern unsere liebenswürdigen Gewissensbisse, wie die Bettler ihr Ungeziefer nähren.

    Monika Fahrenbach-Wachendorff 1980:

    Torheit, Sünde, Mißgunst, Irrtum zehren
    An unserm Leib, besetzen unsern Geist,
    Und jeder liebenswerte Skrupel speist,
    Wie Bettelleute Ungefziefer nähren.

    Simon Werle 2017:

    Verblendung, Sünde, Dummheit, Geizes Schwären
    Machen den Geist uns unfrei und den Körper kirr,
    Und unsere traulichen Gewissensbisse päppeln wir
    Wie Straßenbettler ihr Ungeziefer nähren.
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    Sean Bonney: Experimentelle „Übersetzung“

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    Thema: Góngora

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    Die erste Strophe der ersten Soledad im Original und in den Übersetzung Erich Arendts und Àxel Sanjosés

    Erich Arendt übersetzt so:

    Es war des Jahrs die blumenreiche Zeit,
    in der, verkappt, Europas trügender Entführer
    — ein Halbmond seiner Stirne Waffen,
    und die Sonne all die Strahlen seines Haars –,
        leuchtend des Himmels Ehre,
    auf saphirenen Gefilden Sterne weidet;
    als einer, der kredenzen könnte Jupiter
    den Kelch weit besser als vom Idaberg der Jüngling,
    – schiffbrüchig, verschmäht und überdies getrennt,
    Tränen der Liebe, süße Klagen
        hingab dem Meer, in Mitleid
        ward den Wogen, ward dem Wind
        das unglückselige Seufzen
    eine zweite zarte Leier Arions.

    Und hier die Fassung von Àxel Sanjosé 2017:

    Es war des Jahres Zeit der Blüten
    in der Europas lügenreicher Räuber
    – der halbe Mond die Waffen seiner Stirn,
    die Sonne ganz die Strahlen seiner Haare –,
    leuchtende Himmelsehre,
    auf Saphirfeldern Sterne grast,
    da jener, der wohl besser noch den Becher
    Jupiter reichen konnte als der Bursch aus Ida,
    schiffbrüchig, abgewiesen, in der Fremde
    voll Tränen Liebesklagen richtet süße
    ans Meer, bewegt es so,
    dass für die Wogen, für den Wind
    sein jammervolles Seufzen
    ein zweites wurde süßes Arion-Instrument.

    Góngoras Originaltext:

    Era del año la estación florida
     en que el mentido robador de Europa
     (media luna las armas de su frente,
     y el Sol todos los rayos de su pelo),
     luciente honor del cielo, 5
     en campos de zafiro pace estrellas,
     cuando el que ministrar podía la copa
     a Júpiter mejor que el garzón de Ida,
     náufrago y desdeñado, sobre ausente,
     lagrimosas de amor dulces querellas 10
     da al mar, que condolido,
     fue a las ondas, fue al viento
     el mísero gemido,
     segundo de Arïón dulce instrumento.

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    Subtil metaleptisch

    Von Àxel Sanjosé

    Ein Blick auf die erste Strophe von Góngoras »Soledad primera« (Teil 1)

    Es beginnt harmlos:

    »Era del año la estación florida« (Z. 1)

    [Es war vom Jahr die blühende Jahreszeit]

    Lediglich eine kleine Wortumstellung (»del año la estación florida« statt »la estación florida del año«). Gar nicht so schlimm, dieser Góngora.

    Dann aber wird der angegebene Zeitrahmen konkretisiert:

    »en que el mentido robador de Europa,
    media luna las armas de su frente
    y el sol todo los rayos de su pelo,
    luciente honor del cielo,
    en campos de zafiro pace estrellas.« (Z. 2–6)

    Fünf Zeilen, um zu sagen, dass das Geschehen zeitlich zwischen dem 21. April und und dem 21. Mai lag, also während der ca. 30 Tage, in denen die Sonne das Sternzeichen des Stiers durchkreuzt (in der Antike, mittlerweile hat sich der Zeitraum um etwa einen Monat verschoben). Der Text nennt allerdings nicht die Sternkonstellation selbst, sondern das namensgebende Tier, das jedoch ebenfalls nicht wörtlich auftaucht, sondern durch eine mythologische Figur ersetzt wird, die wiederum nicht beim Namen genannt wird, sondern als Nomen agentis der relevanten mythlogischen Handlung: »robador de Europa«. Die Nennung der Geraubten gibt uns erst einen Fixpunkt, um diese komplexe Figur (eine Dreifach-Metonymie mit Paraphrasis und Metapher, fast wie bei Eislaufpirhouetten) aufzulösen – fast, denn dazu müssen wir auf Zeile 6 vorausschausschauen.

    Doch zurück zu Zeile 3: Hatte sich bei der Umschreibung von »Stier« eine extreme vertikale Häufung ereignet (die Ersetzungen liegen quasi übereinander), so vollzieht sich nun eine horizontale Streckung: die drei folgenden Zeilen sind deskriptive Appositionen: der Vergleich der Hörner (als kassische Metapher: »die Waffen der Stirn«) mit Halbmonden (Z. 3), der Vergleich der Nackenhaare mit den Sonnenstrahlen (Z. 4) und als Drittes eine Gesamt-Würdigung besagten Stiers als leuchtende(r) Ehre/Ruhm des Himmels (Z. 5).

    Erst jetzt wird der begonnene Halbsatz beendet mit der Aussage, dass der Stier auf Saphir-Feldern Sterne weidet, und damit ist die Metapher ebenfalls komplett, in welcher der Himmel mit der Weide, die Sterne mit den Blumen und das Sternbild mit dem realen Stier gleichgesetzt sind.

    Ein näherer Blick auf die Verarbeitung sei erlaubt. Da ist z.B. die – subtil metaleptische – Verwebung der lebensweltlichen Bezugsbereiche »Firmament« und »Weide«.

    Einerseits erfolgt eine klassische Allegorisierung mittels durchgehender »Übersetzung« der Elemente:

    • Sternkonfiguration –> Stier,
    • Sonnenstrahlen –> Nackenhaare (allerdings ein komplexer Vergleich: die Sonne steht Anfang Mai im Sternbild des Stieres [das wir wegen der Helligkeit nicht sehen], so dass, wenn wir das Tier imaginieren, die Strahlen wie dessen aufgestellten Nackenhaare wirken)
    • Halbmond –> Horn  und
    • Himmel –> Weide (=Saphir-Felder).

    Gemeinerweise tauchen die Blumen zweimal auf (jeweils implizit): im Wort »florida« (›blühend, voller Blüten‹) und im Bild des Sterne grasenden Stiers. Damit erzeugt der Text eine Art Kurzschluss, ein Zusammenführen zweier ontisch getrennter Ebenen: die des denotierten Referenzbereichs, also die unmittelbare Verweisebene des Texts, und die des per Analogie zu dechiffrierenden »Fremdbereichs«. Das geschieht aber so unauffällig, dass es kaum jemand merkt.

    So wie auch die Apposition »luciente honor del cielo« nur scheinbar ohne Komplikationen (sie bildet ja syntaktisch eine Ruhezone) verläuft. Es steckt mehr darin: Die »leuchtende Ehre des Himmels« ist zum einen wörtlich zu nehmen: das Sternbild leuchtet bekanntlich und ist in der benannten Jahreszeit eben das Ehrensternbild (wie bei der rotierenden EU-Präsidentschaft), zum anderen aber im übertragenen Sinne: Zeus ist als führender Gott sicherlich eine leuchtende Ehre, obgleich er sich in der Europa-Episode nicht eben ehrenvoll benimmt – wie überhaupt fast immer, wenn es um begehrte Frauen geht. Möglicherweise ein ironisches Einsprengsel, ein Augenzwinkern Góngoras, der hier wie Hitchkock aus dem Bus steigt.

    Auf zwei Details will ich noch hinweisen. Einmal auf die Polysemie von »armas«, das ›Waffen‹, aber ebenso »Wappen« bedeutet [im Deutschen erkennt man denselben Zusammenhang in der etymologischen Identität beider Wörter]. Der Stier am Himmel ist also Kreatur und zugleich Ritter/Höfling und dementsprechend mittels »armas« auf die Verteidigung im ersten Fall seines Lebens, im letzteren seiner Ehre (s. »honor«) bedacht: so vereint das Wort Anfang- und Endpunkt eines ganzen zivilisationshistorischen Prozesses, der von der Waffe als Instrument physischer Wehrhaftigkeit zum Wappen als Symbol imaginärer (und zu Góngaras Zeit bereits hochdekadenter) Ehrbesessenheit führt. [Ob der Halbmond hier in irgendeiner Form auf die maurische Welt verweist, die in Spanien zahlreiche, um 1600 noch sehr frische Spuren hinterlassen hat, vermag ich nicht zu sagen; von der Textanlage her scheint mir dies nicht der Fall zu sein].

    Das zweite Detail ist etwas für Freunde der Symmetrie: Mond und Sonne sind nicht nur Elemente des Himmelsbereichs im beschriebenen metaphorischen System, sondern bilden auch das duale Subsystem »Tag-Nacht«. Im Text wird es mit dem ebenfalls dualen System »halb-ganz« verschränkt: einmal durch die chiastisch Anordnung »media luna« / »el Sol todo«, zum anderen durch die logisch-geometrische Gleichung [zwei halbe Kreise] / [ein ganzer Kreis] – eine denkbar verknappte Formel für die Vorstellung der kosmischen Einheit der Gegensätze.

    Zur Erinnerung: Ich war auf Zeile 6 stehengeblieben, wo die einleitende, der Zeitangabe gewidmeten Nebensatzkonstruktion endet, und noch nicht ganz am Äquator der ersten Strophe. Hier mache ich Pause, nutze aber, damit der zweite Teil nicht hinwegtreibt, das vorhandene Zeus/Jupiter-Band als Überleitung: taucht der Göttervater der mediterranen Antike hier im Stiermodus auf, so begegnen wir ihm gleich wieder mit seinem lateinischen Namen in völlig anderem Zusammenhang, aber auf ähnlicher Substitutionsebene in diesen fröhlichen Tropen. Bis dahin.


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    Karlheinz Barck über Góngora

    Auszüge aus dem Nachwort der Ausgabe

    Luis de Góngora y Argote: Soledades. Spanisch und Deutsch. Leipzig: Reclam 1982. Hrsg. Karlheinz Barck. Nachdichtung Erich Arendt

    Góngora wurde grimmig mißhandelt und glühend verteidigt.
    (Federíco García Lorca)

    Góngora gehört zu jenen Dichtern, deren Werk erst im Ergebnis einer radikalen Umwertung überlieferter Urteile zu neuem Leben erweckt wurde. Die faszinierende Wirkung seiner Dichtungen auf die Zeitgenossen, Bewunderer wie Gegner, widerspricht scheinbar dem Bannfluch, den die Nachwelt über sie verhängte. Fast drei ]ahrhunderte hindurch galt sein Werk einer klassizistischen Ästhetik als Inbegriff der „Unnatur und des Schwulstes“, ja sogar als ein für die spanische Dichtung „tödliches Phänomen“ (Menéndez y Pelayo). Auch in Deutschland konnte Góngora lange Zeit nie jene Sympathie finden wie Cervantes, Lope de Vega oder Calderón. Der nachhegelianischen und romantischen Ästhetik, die den Gegensatz von Kunstpoesie und Volkspoesie in die Literaturgeschichte einführte, bot die Dichtung Góngoras ein Beispiel „extremer Verkünstelung“, der „Sprachverzerrung“ und überladenen „mythologischen Gelehrsamkeit“, die seinem Stil eine „Tendenz auf das Hyperoriginelle“ zu verleihen schienen (Karl Rosenkranz), der auf die äußerste Spitze getriebenen „Künstelei in Ausdruck und Sprache“ (F. Schlegel). So mußte die Begegnung mit Góngora sporadisch bleiben oder einseitig den Satiriker und Romanzendichter herausstellen.

    (…)

    Die problemreiche Suche Mallarmés und der französischen Symbolisten nach einer neuen Sprache, die das Wort ernst nimmt („Der Dichter überläßt die Initiative den Worten“, sagt Mallarmé), leitet auch eine Neubegegnung mit Góngora ein. Der Góngora, dessen Namen man sich damals in Pariser Literaturkreisen als einen Geheimtip nannte, war zwar ein anderer, als man ihn bisher kannte: er war aber auch nicht der wirkliche Góngora. So hatte es die spätere bürgerliche Ästhetik und Literaturtheorie nicht allzu schwer, Góngora als einen Formalisten zu integrieren und auch die neue Beleuchtung, in die sein Werk durch diese literarische Moderne geraten war, alsbald wieder zu verdunkeln.

    Die Revision seiner Verketzerung war indessen eine in jeder Hinsicht bedeutsame Voraussetzung für die Neuentdeckung Góngoras. Diese freilich verbindet sich, wirkungsgeschichtlich und ästhetisch weit bedeutsamer, mit der Neuaneignung und Wiedergeburt seines Werkes durch die breite Bewegung der modernen spanischen Lyrik, die Góngora als einen ihrer Väter feierte.

    (…)

    Góngora sagte in einem seiner burlesken Gedichte:

    Ich muß zum Modernen hin,
    will den Stier beim Schwanze packen;
    den Abgenutztesten beißen
    und den Gebissenen begrüßen.

    (…)

    Damals war Góngora neben Lope de Vega die bei weitem umstrittenste Dichterpersönlichkeit Spaniens. Für die einen ein Magier der Sprache, für die anderen der „spanische Homer“ oder der „andalusische Pindar“. Der zweite Herausgeber seiner Werke, Gonzalo de Horces y Córdoba, feierte ihn 1633 als den klarsten und kraftvollsten Geist, den unsere Nation hervorgebracht hat“.Lope de Vega, in gewisser Hinsicht sein ästhetischer Widerpart, bewunderte ihn im stillen ebenso, wie ihn der glänzende Satiriker Francisco de Quevedo schmähte. Man erzählte sich, daß er es war, der das Madrider Haus des verschuldeten Góngora heimlich kaufte, um den gefeierten Dichter von Hofe zu vertreiben. Cervantes gedenkt Góngoras mit lobenden Worten in der Reise auf den Parnaß (1614):

    Diesen Don Luis de Góngora fürchte ich
    zu kränken mit meinem knappen Lob,
    wenn ich es auch am höchsten veranschlage.
    Er ist jener gefällige, jener beliebte,
    jener geistesscharfe, jener klangvolle und ernste
    unter allen Dichtern, die Phöbus sah.

    Francisco de Córdoba, der Góngora vor der Schmähschrift seines größten Gegners Juan de Jáuregui in Schutz nahm, nannte ihn „den heute besten Dichter, den man in Europa kennt. (…)

    (…) Man erkennt, daß Góngora die Bedeutung der Mythen in Sprachbilder verwandelt und sie zur Bezeichnung neuer Bedeutungen, die er den Dingen zuschreibt, verwendet.

    Dahinter steht auch eine Absage an das scholastische Weltbild, das mit den Begriffen das wirkliche Sein der Dinge zu besitzen glaubte. Die Überlieferung als ein Hort der Wahrheit hat ihre Gültigkeit verloren. Die Gelehrsamkeit ist gleichfalls trügerisch (Nicht taub ist sie, die See: GeIehrtbeit trügt, II,172). Was bleibt, ist ihr Phantasiewert, ihre Verwandlung in poetische Bilder.

    Damit war ein Schritt getan auf dem Wege zur Schaffung einer Sprache, die mit der Herstellung neuer Beziehungen zwischen den Dingen — und diesem Zweck vor allem dient die Mythologie in den Soledades — auch neue Möglichkeiten der Verständigung bereitstellte.

    Denn der veränderten Wirklichkeit konnte die Dichtung nur mit einer neuen Sprache beikommen. Góngora schafft eine Sprache, die nicht auf exakte Definitionen abzielt, sondern den Beziehungsreichtum der Dinge, den diese für den Menschen besitzen, sichtbar machen will. So schildert er uns „die Welt im Zustand elementarer Bewegtheit, wie sie sich dem geistigen Auge, vor aller Urteilsbildung, auftut“ (Werner Krauss). Góngoras metaphernreiche, bildliche Sprache zeichnet sich durch ein Verfahren der symbolischen Identifikarton aus, das die Dinge in ihren stofflich-materiellen Ursprung zurückverwandelt. Góngora sucht ihr Geheimnis im Naturhaften und Substantiellen. So sehen wir zum Beispiel Schiffe als Pinien und Buchen, Flotten als Bäume und Wälder die Ozeane durchfurchen. Immer aber führt die Metaphorik von den verschiedenen assoziativen Ebenen auf den realen Ausgangspunkt – nun in neuer Beleuchtung – zurück. Das metaphorisch Prinzip der Vergleichung zwischen einer realen und einer bildlichen Ebene mittels einer Sinnübertragung erzeugt bei Góngora nicht nur eine neue Qualität der Erscheinungsformen und des Wesens der Dinge, sondern auch eine ursprüngliche Sensibilität gegenüber der natürlichen und vergegenständlichten Welt. Der Honig ist flüssiges Gold, das die Biene aus dem Tränentau der Morgenröte zusammengetragen hat; die geschorene Wolle der Schafe ist ein Fluß aus weißem Schaum.

    Das allgemeine Wesen der Metapher ist die Sinnübertragung. Metaphern sind ein Bestandteil jeder Sprache. Oft erkennen wir sie gar nicht mehr als solche (zum Beispiel Stiefelknecht, Löwenmaul, blitzschnell). In der Metapher ist die Bedeutung eines Wortes auf eine andere Bedeutung übertragen durch einen Vergleich der Obiektbeziehungen. Allein dieser Vergleich konstituiert die Metapher in ihrer sprachlichen Gestalt und bildlichen Aussage. Ein im metaphorischen Sinn gebrauchtes Wort verliert seine ursprüngliche Bedeutung und erhält eine neue, die nur erkannt wird, wenn man sie mit der ursprünglichen vergleicht. Dabei ist es ganz entscheidend zu wissen, daß die Metapher zwar immer auf einem Vergleich beruht, aber die verglichenen Dinge oder Eigenschaften in einer neuen Bedeutung zusammenfaßt. Die Metapher ist also kein verkürzter Vergleich, der ja die verglichene Sache immer ausdrücklich als verglichen durch den Terminus „wie“ kennzeichnet. Rot wie Feuer ist ein Vergleich; feuerrot eine Metapher, die durch die Übertragung der Anschauung aus einem Bereich auf den anderen der Farbenwerte zugleich eine neue Farbqualitiit bezeichnet.

    Für die Funktionsbestimmung der Metapher ist die Beziehung ausschlaggebend, die sie zwischen der verglichenen und der vergleichenden Sphäre herstellt.

    (…) Die verschränkte Wortstellung, deren góngorinische Eigenart zu bewahren die Übersetzung in glücklicher Weise sich bemüht hat, ist nämlich keineswegs willkürlich, sondern entspricht einer bestimmten Anordnung der Bilder. Góngora zeigt uns die Dinge und ihre Eigenschaften in der Reihenfolge, wie sie sich den Sinnen darbieten und wie sie auf den Leser wirken sollen.

    (…) Das ist nicht die idealisierende Beschreibung, wie sie die Schäferidylle kennt. Góngora erweist sich als ein genauer Kenner der bäuerlichen Welt, die er mit der ursprünglichen Freude am Genuß gestaltet. Diese charakteristische Auflösung eines Bildes oder eines Gedankens, ihre Entfaltung in die verschiedenen Aspekte der Erscheinungen, die stilistisch in überraschender Weise zusammengefaßt werden – das ist das eigentliche stilistische Grundprinzip Góngoras. Es ist die sogenannte suspensión (das Innehalten), eine spannungsvolle, überraschende Erregung der Erwartung des Lesers. Dieser Suspensionseffekt ist in dieser Form Góngoras erfinderische Auslegung der aristotelischen Forderung an den Dichter, Belehrung und Vergnügen zu erzeugen. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt Góngora das ganze Arsenal seiner Kunst ein. Dabei erhalten die Bildsymbole und Metaphern oft einen rätselhaften Schein. Wenn der Leser diese Rätsel aufgelöst hat, tritt dahinter eine durch die poetische Arbeit des Dichters und die Mitarbeit des Lesers erschlossene Realität hervor. Góngora greift hier auf das Interesse an der Verschlüsselung und Entzifferung der Welt zurück, das sich in der Renaissance u. a. mit der Entstehung einer emblematischen Gattung (einer Bildersprache, die Sinnspruch und grafisches Sinnbild vereint) verbindet und in einem etymologischen Denkstil der Humanisten in Erscheinung trat.

    (…) Die Vorstellungen vom Buch der Welt und von der Welt als einem zu entziffernden Buch liegt auch den zahlreichen Schriftmetaphern in den Soledades zugrunde. Kraniche schreiben im Flug Buchstaben, geformt aus der Bewegung der Flügel, an das Papier des Himmels (…)

    (…) Man kann die Soledades eine Dichtung über das Dichten nennen, in der der Dichter, die Welt erkennend, die Möglichkeiten ihrer Beherrschung in seinem Werk erprobt. Die gespannte Aufmerksamkeit, mit der Góngora die sprachlichen Mittel handhabt, gilt nicht nur der Schönheit der Sprache. Sie zeugt von der ganz sinnlichen Freude des Dichters, sich die Welt und die Natur verfügbar zu machen.
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    Ein frühes Sonett Góngoras
    An Córdoba (1585)
    
    O erhabene Mauer! O Türme bekränzt
    mit Ehre, mit Majestät und mit Kühnheit!
    O großer Strom und König du Andalusiens,
    mit Sanden edel, wenn auch von Golde nicht!
    
    O fruchtbare Ebne, o hochaufragend Gebirg,
    die euch der Himmel schirmt, euch der Tag umgoldet!
    O allzeit ruhmreiche Vaterstadt mir,
    durch Federn erhöht, wie durch Degen auch!
    
    Wenn vor den Trümmern und Überresten,
    die Darro umspült, die Genil bereichert,
    Labung mir nicht dein Erinnern wär,
    
    nie verdienten abwesend die Augen mein
    deine Mauern zu sehn, deine Türme, den Strom,
    dein Gebirg und die Ebne, Vaterstadt du!
                           O Blüte von Spanien!

    (Deutsch von Roland Erb)
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    Presseschau

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    Dichter der „normalen Leute“?

    (…) es gehört zu den Hauptanliegen dieses Autors, die Grenze zwischen Kunst und Leben «porös» zu halten. Gedichte verdichten in seiner Sicht Erfahrungen mit den Dingen dieser Erde. Auch wenn Lyrik immer mehrdeutig ist, sei sie nicht zum vornherein unzugänglich. Eine Moderne, die sich zeitweise dogmatisch gebärdete, hat die alte literarische Gattung im Empfinden «sogenannt normaler» Leute ins Absonderliche und ins Unerreichbare gerückt.* Der Autor erwähnt denn auch das Befremden, das er selber gelegentlich auslöst, wenn er sagt, er sei Lyriker von Beruf.

    Die Dichtkunst soll also aus einer Zone des Abgehobenen zurückgeholt werden auf die Erde und in konkrete Umstände. Das unternimmt Jan Wagner hier gleich zu Beginn, indem er die Namen von Mörikes zahlreichen schwäbischen Wohn- und Bezugsorten nicht nur aufzählt, sondern in eine rhythmische Schwingung versetzt.

    (…)

    Dichter der Tiere

    Unter dem Titel «Schamane mit verbranntem Fuchs» ist dem kraftvollen Dichter der englischen Countryside [Ted Hughes] ein eindrücklicher Text gewidmet. Die Tragödie seiner Frau, der grossen amerikanischen Lyrikerin Sylvia Plath, hatte man lange Zeit Hughes allein angelastet, was die Sicht auf seine Werke verstellte. Jan Wagner feiert vor allem den «unübertroffenen Tierdichter», der schreibend die Erforschungen seiner Kindheit im ländlichen Yorkshire weiterführt: «Stier, Schwein, Otter, Dachs, Habicht, Drossel, Krabben, Bär, Pferd, Möwe, Schnecke, Mücke, Katze, Maus, Lerche, Makrele, Schaf, Schnake, Ente, Taube, Käuzchen» – man werde kaum ein Tier finden, an das Hughes sich nicht lyrisch angepirscht hätte.

    / Beatrice von Matt, Neue Zürcher Zeitung 18.8. über

    Jan Wagner: Der verschlossene Raum. Beiläufige Prosa. Hanser Berlin, Berlin 2017. 269 S., Fr. 31.90. Deutschland 22,00 €. Österreich 22,70 €

    *) Wieviel davon Matt und wieviel Wagner ist, ist in der Rezension nicht zu unterscheiden. M.G.

    Weitere Rezensionen: Manuela Reichart, kulturradio / Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 21.3. / Oliver Jungen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4., Eberhard Geisler, taz 12.6.  / Dirk Hohnsträter, WDR / Marcus Neuert, Fixpoetry / Dietmar Jacobsen, literaturkritik.de /

    Leseprobe

    Zur Münchner Rede Wagners unter dem Titel „Der verschlossene Raum“ von 2012

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    Kurze Geschichte der Tyrannei

    Diese Wiedergeburt eines rechtsgerichteten Illiberalismus beschäftigt auch die amerikanische Dichterin und Übersetzerin Ellen Hinsey: Anfang März 2017 erschien ihr Band „Mastering the Past“, eine Sammlung persönlicher Reportagen und Interviews.

    Schon lange verfolgt Hinsey – 1960 in Boston geboren, seit 1987 in Paris beheimatet – die schwierigen und unwegsamen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa, auch als Lyrikerin. Immer gilt ihr Augenmerk einer doppelten Versehrung: der traumatischen Bereitschaft zur Gewalt, die sich womöglich als des Menschen ureigenste Disposition erweist – und den Spuren dieser Gewalt bis in die Sprache hinein, wo das Trauma als Unsagbares wiederkehrt. Ellen Hinseys Suche gilt deshalb stets auch einer Sprache, die imstande wäre, von diesen Traumata Kunde zu geben.

    Ihr aktueller Gedichtband „Des Menschen Element“ kreist um diese beiden Pole – in einer Sprache und einer Form, die ihresgleichen suchen. Denn Hinsey ist als Lyrikerin immer auch Philosophin: Noch dort, wo sie zurückgreift auf Zeugenvernehmungen vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, also Szenen von menschlicher Grausamkeit evoziert, überführt sie diese mithilfe einer dialogischen Struktur in die Sphäre der lexikalischen Reflexion: ‚Historien‘, ‚Annalen‘, ‚Notizbuch‘ lauten die Überschriften dieser streng durchkomponierten Lyrik, die Notizen genauso enthält wie Aphorismen und – das ist das Glanzstück des Bandes – eine kurze Geschichte der Tyrannei. / Claudia Kramatschek, DLF Kultur

    Ellen Hinsey: Des Menschen Element. Gedichte
    Aus dem Amerikanischen Englisch von Uta Gosmann
    Mit einem Nachwort von Robert Chandler
    DAAD Spurensicherung. Bd. 29, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017
    156 Seiten, 22,00 Euro

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    Gedichte wider das Patriarchat

    Man könnte Rupi Kaur Aufmerksamkeitshascherei unterstellen, wäre das Thema nicht so ernst und das Patriarchat nicht immer noch allgegenwärtig. Nein, es sind nicht die schönen Dinge, die die junge Frau aus Toronto für gewöhnlich anspricht. Auch nicht in ihrem Gedichtband „Milch und Honig“. Wochenlang war er in den USA auf der Bestseller-Liste der „New York Times“. Auf 204 Seiten geht es darin um Verlust, Traumata, Heilung und immer wieder um Liebe. Schwierige Themen, für die Kaur glasklare Worte findet, wie im ersten Kapitel „der schmerz“: „ich habe mit ihm geschlafen sagte sie/ aber ich weiß nicht/ wie sich das anfühlt/ wenn man liebt“.

    Ebenso auffällig wie ihre klare Sprache ist der Verzicht auf jegliche Satzzeichen sowie die rigorose Kleinschreibung. Reime gibt es nicht. Die Schönheit ihrer Lyrik liegt dabei in ihrer Einfachheit. Komplexe Gefühle, Traumata, bittere Momente und Tabus – für alles scheint Kaur die richtigen Worte, den richtigen Ton zu finden. Unaufgeregt, ja fast nüchtern wirken die Zeilen, und doch schwingen so viele Emotionen mit.

    (…) Nicht zuletzt ist der Gedichtband eine berührende Hommage an die Weiblichkeit – nicht die sexualisierte, aus Männerfantasien geborene, sondern die, die um ihrer selbst Willen existiert. / Isabel Sand, Saarbrücker Zeitung

    Rupi Kaur: Milch und Honig. Münchner Verlagsgruppe, 204 S., 14,99 Euro.

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    Am Ende steht immer das Grab,

    da kann sich keiner loskaufen, niemals. In Atlanta wohnte ich mal für 1 Dollar 25 Miete die Woche. Oder für 8 Dollar im Monat. und schrieb Gedichte auf den Rand von alten Zeitungen, die dort auf dem Boden herumlagen. kein Licht, keine Heizung. Keine Ahnung, was aus den Zeitungen wurde. Ich weiß nicht mal genau, was aus mir wurde. aber das ist normal, selbst wenn es abnormal wird. / Charles Bukowski, aus einem Brief an Henry Miller. Hier der komplette Brief – und hier viel mehr, soeben erschienen:

    Charles Bukowski: Über das Schreiben. Briefe an meine Weggefährten und Gönner. Hrsg. v. Abel Debritto, a. d. Amerikanischen v. Marcus Ingendaay, Kiepenheuer & Witsch, 288 S., 18 €

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    Kurz gesagt
    • “When I read a translation, the experience is often similar to reading an Oulipan text—it follows unknown rules, held up by a hidden central axis.” An interview with translator Megan McDowell. | The Paris Review
    • But the places where they go in this book are places I have never seen any poet go before. “Giving Godhead” blows several giant craters out through the walls of our inherited and now somewhat cowed Western selves. It is a bomb with an angel behind it. / Thomas Simmons über GIVING GODHEAD by Dylan Krieger, New York Times 3.8.

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    Neue Zeitschriften
    • Bella Triste [47] 2017. Beiträge von Johanna Hühn, Lisa Goldschmidt, Maja-Maia Becker u.a.
    • Daphnis 44-2016 H. 1-2. Überschreitungen / Überschreibungen. Zum literarischen Werk von Sibylla Schwarz (1621-1638)
    • Drecksack 3. Gedichte von Robsie Richter, Silke Vogten, Fotos von Christian Borchert, Sprüche und Notizen von Florian Günther, Erinnerungen an Norbert „Knofo“ Kröcher
    • Lettre International 117 (2017): Celan bei Heidegger. Essays von Bora Ćosić, Hannes Böhringer, Priya Basil, Régis Debray. Gespräch mit Bernd Cailloux. Euopas genetischer Code. Was wird aus Europa? Brasiliens lange Reis. Panther in Algerien. Frauen in Nagaland. 100 Jahre russische Revolution.
    • Mütze #16. Beiträge von Robert Kelly, Jerome Rothenberg, Svein Jarvoll (Besprechung)
    • Risse 38. Beifang. Beiträge von André Hatting, Bertram Reinecke, Kai Pohl, Irmgard Senf, Peter Wawerzink, Kathrin Pöthke, Dorothea Reinecke, Dietmar Spitzner, Silke Peters, Hans Braam, Anne Blaudzun u.a. Rezensionen zu Titus Meyer, Thomas Melle, Peter Rühmkorf
    • [SIC] 6, 2017: Lyrik von Felix Schiller, Anna Federova, Martin Piekar, Alexander Graeff, Jochen Körber, Prosa von Mario Osterland, Gregor Babelotzky u.a.
    • Sprache im technischen Zeitalter 222, März 2017: Die Vielfalt des Deutschen. Essays von Jens Bisky, Shida Bazyar, Ulrike Draesner u.a. Auf Tritt Die Poesie: Hemant Divate / Volker Sielaff; Beate Tröger, Interview mit Nico Bleutge. Annelen Kranefuss, Paul Muldoon. Jan Volker Röhnert, Laudatio auf Orsolya Kalasz zum Huchelpreis. Thomas Lehr: Dasnde Europas? Ingo Schulze u.v.a.
    • Die Wiederholung. Zeitschrift für Literaturkritik Nr. 4-07/2017. Zum Werk von Werner Söllner. Werner Söllner im Gespräch mit Alexandru Bulucz. Texte von Werner Söllner, Paul-Henri Campbell, Alexandru Bulucz, Sascha Anderson, Marcus Roloff, Björn Kuhligk, Peter Neumann, Rainer René Mueller, Hans Thill, Paulus Böhmer, Kerstin Preiwuß, Alban Nikolai Herbst, Tom Schulz u.a.

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    Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung

    Übersetzerpreis der Kulturstiftung Erlangen für Dagmara Kraus

    Anlässlich des 37. Erlanger Poetenfests (24. bis 27. August 2017) vergibt die Kulturstiftung Erlangen zum siebten Mal den „Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung“. Der mit 5.000 Euro dotierte Preis wird in diesem Jahr an die Lyrikerin und Übersetzerin Dagmara Kraus verliehen. Dagmara Kraus nimmt die Auszeichnung am Donnerstag, 24. August 2017, 18:00 Uhr in der Erlanger Orangerie entgegen, die Laudatio auf Dagmara Kraus hält die Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf.

    „Dagmara Kraus ist eine der erstaunlichsten lyrischen Stimmen der neuen Literatur. Die in Wrocław (Polen) geborene Autorin übersetzte u. a. die polnischen Dichter Miron Białoszewski, Joanna Mueller und Edward Stachura. Ihre mehrsprachige Lyrik – „kummerang“ (2012), „kleine grammaturgie“ (2013), „das vogelmot schlich mit geknickter schnute“ (2015) und „wehbuch (undichte prosage)“ (2016) – oszilliert virtuos zwischen den Formen und Sprachen, ihre poetische Erkundung der Plansprachen („wechselreden auf langue bleue“) eröffnet neue Möglichkeiten der lyrischen Rede. Dagmara Kraus erhält den Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung für ihr lyrisches und übersetzerisches Werk.“ (Aus der Begründung der Jury)

    Dagmara Kraus, geboren 1981 in Wrocław (Polen), studierte Komparatistik, Kunstgeschichte und Literarisches Schreiben in Leipzig, Berlin und Paris. Sie lebt in Carpentras (Frankreich) und Berlin. Dagmara Kraus schreibt Lyrik und übersetzt aus dem Polnischen, Englischen und Französischen, u. a. Werke von Miron Białoszewski, Joanna Mueller, Edward Stachura und Frédéric Forte. Für das Hörstück „Entstehung dunkel“ erhielt sie zusammen mit Marc Matter 2015 den Förderpreis zum Karl-Sczuka-Preis für avancierte Radiokunst und 2016 den Heimrad-Bäcker-Förderpreis. Im Herbst erscheint bei kookbooks ihr erstes Kinderbuch, „alle nase derdiedase“, illustriert von Andreas Töpfer.

    Deutschland besitzt über tausend Literaturpreise, aber noch immer auffallend wenige Übersetzerpreise. Dieses Missverhältnis hat vor allem etwas mit dem nach wie vor mangelnden Bewusstsein dafür zu tun, dass der internationale Erfolg eines Buches wesentlich von der Qualität seiner Übersetzungen abhängt. Das Erlanger Poetenfest hat sich die Förderung von Poesie als Übersetzung zur Aufgabe gemacht. In diesem Jahr findet im Rahmen des 37. Erlanger Poetenfests die vierzehnte Erlanger Übersetzerwerkstatt statt. Mit Übersetzerwerkstatt und Übersetzerpreis wollen die Kulturstiftung Erlangen und das Erlanger Poetenfest gemeinsam die Wahrnehmung dafür schärfen, wie sehr gerade Übersetzungen und Einflüsse aus fremden Sprachen und Kulturen die deutschsprachige Gegenwartsliteratur bereichern.

    Die Jury des Erlanger Literaturpreises für Poesie als Übersetzung besteht selbst aus Übersetzerinnen und Übersetzern. Dieses bislang einzigartige Konzept verbürgt die sprachschöpferische Qualität der ausgezeichneten Arbeiten. Der Jury gehörten in diesem Jahr an: Annette Kopetzki (Hamburg), Adrian La Salvia (Oranienbaum-Wörlitz – Jury-Sprecher), Benedikt Ledebur (Wien), Ilma Rakusa (Zürich), Yoko Tawada (Berlin), Peter Waterhouse (Wien) und Uljana Wolf (Berlin, New York). Der Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung wurde bisher an Felix Philipp Ingold (2005), Georges-Arthur Goldschmidt (2007), Barbara Köhler und Ulf Stolterfoht (2009), Elke Erb (2011), Yoko Tawada (2013) sowie an Uljana Wolf (2015) verliehen.

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    Traklpreis für Oswald Egger

    Anlässlich des 130. Geburtsjahres von Georg Trakl geht der mit 8.000 Euro dotierte Georg Trakl Preis für Lyrik 2017 an den in Südtirol geborenen deutschsprachigen Schriftsteller Oswald Egger.

    Der Preis wird jeweils anlässlich runder und halbrunder Geburts- oder Todestage des Dichters Georg Trakl seit 1952 vergeben. Die Vergabe erfolgt über Vorschlag einer dreiköpfigen Jury. 2017 gehörten der Jury Eleonore de Felip (Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Universität Innsbruck), Holger Pils (Lyrik Kabinett München) und Norbert Christian Wolf (Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg) an. Sie sprachen sich einstimmig für den 54-jährigen Lyriker Oswald Egger aus, gab Kulturlandesrat Heinrich Schellhorn kürzlich bekannt.

    „Seine umfangreichen, kunstvoll komponierten Gedichtbücher beeindrucken, durch die außerordentliche evokative Kraft, Kühnheit, Originalität und Musikalität der Sprache“, so die Jurybegründung.

    „Der Georg-Trakl-Preis 2017 ist eine der bedeutendsten Auszeichnungen für Lyrik im deutschsprachigen Raum. Es freut mich, diesen Preis heuer an den namhaften Lyriker Oswald Egger für sein bisheriges Gesamtwerk überreichen zu können. Mit Oswald Egger wird nicht nur das hohe Niveau des Georg Trakl Preises für Lyrik aufgezeigt, sondern auch das der kulturellen Preislandschaft in Salzburg“, so Schellhorn.

    „Ich freue mich ausgesprochen, den Georg Trakl-Lyrikpreis zu bekommen, in einer bemerkenswerten Reihe von großartigen Lyrikerinnen und Lyrikern, die mir sehr vertraut sind und zuallererst natürlich der Namenspatron, mit seinem von sporadischen Zeitgeistverstrickungen unbeirrten poetischen Tun, welches mich seit meiner Jugend begleitet, irgendwie sogar unentwegt. Ich, ein freudiger Zwerg auf den Schultern des Riesen, bedanke mich namentlich bei der Jury sehr herzlich für die Ehre und den Ansporn“, so Preisträger Oswald Egger.

    Die Preisverleihung findet am 3. November in Salzburg statt. /
    Land Salzburg
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    Kurz berichtet
    • Heinrich Breloer dreht in Prag einen ARD-Zweiteiler über das Leben Bertolt Brechts Mehr
    • Die Literaturzeitschrift „Das Gedicht“ feiert ihr 25-jähriges Bestehen. Der Weßlinger Verleger, Herausgeber und Lyriker zelebriert das Jubiläum ganz groß im Oktober. Auf dem Marienplatz in München ist eine Demo gegen die Verfolgung von Autoren geplant / Süddeutsche Zeitung
    • Vom 17.-22.8. fand der 37. „World Congress of Poets“ in der Mongolei statt. Unter dem Titel „Der Geist der Natur und die Natur der menschlichen Seele“ kamen mehr als 200 Dichter u.a. Kulturschaffende aus über 40 Ländern zusammen. In der Provinz Dornogov, wo im 19. Jahrhundert der Dichter D. Danzanravjaa geboren wurde, fand zugleich das Internationale Lyrikfestival „Danzanravjaa“ statt. / HsinhuaFacebookseite des Kongresses
    • Für die Zerstörung von Weltkulturerbe im westafrikanischen Mali ist ein inhaftierter Dschihadist vom Internationalen Strafgerichtshof zur Wiedergutmachung in Höhe von 2,7 Millionen Euro verurteilt worden. Das Urteil gegen den Islamisten Ahmad Al Faqi al Mahdi gab der Gerichtshof in Den Haag bekannt. Die Richter hatten Al Mahdi bereits Ende September 2016 für seine maßgebliche Rolle bei der Zerstörung Jahrhunderte alter religiöser Bauwerke in der Oasenstadt Timbuktu zu neun Jahren Haft verurteilt. Er hatte eingeräumt, die Angriffe geleitet zu haben und persönlich an der Zerstörung von fünf Monumenten beteiligt gewesen zu sein. / n-tv Mehr: bote.ch /
    • unesco.deBei der Wesleyan University Press im US-Bundesstaat Connecticut erscheint eine zweisprachige Ausgabe des Gesamtwerks des karibisch-französischen Dichters Aimé Césaire (1913-2008), übersetzt von A. James Arnold und Clayton Eshleman. mehr « The Complete Poetry of Aimé Césaire », édition bilingue, traduction par A. James Arnold et Clayton Eshleman – Wesleyan University Press (Connecticut, Etats-Unis), 962 pages, 2017

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    Gestorben
      • Am 22.8. Bernhard Theilmann, Dresdner Autor (68) [15]
      • Am 21. August der peruanische Lyriker Arturo Corcuera, (81)
      • Am 20. August der Komponist Wilhelm Killmayer, einen Tag vor seinem 90. Geburtstag. Bekannt auch für Vertonungen (Texte von Racine, Tasso, Lorca, Shakespeare, Sappho, Hölderlin, Mallarmé, Härtling, Eichendorff u.v.a.
      • Am 19. August der Maler und Lyriker K.O. Götz im Alter von 103 Jahren. Sein Schaffen war mit Surrealismus und Informel verbunden. / Tagesspiegel
      • Am 17. August die finnische Lyrikerin Sirkka Selja (97)
      • Am 11. August der Literaturwissenschaftler Peter Bürger (80). Am bekanntesten „Theorie der Avantgarde“. Mehr
      • Am 10. August der tschechische Lyriker Jiří Kuběna (81) 
      • Am 10. August der englischsprachige indische Lyriker Vijay Nambisan (54)
      • Am 9. August der Schweizer Verleger Egon Ammann, in dessen Ammann Verlag u.a. Fernando Pessoa, Ossip Mandelstam, Les Murray, Wole Soyinka, Alejandra Pizarnik, Dostojewskis, Abraham Sutzkever und Manfred Peter Hein erschienen.
      • Am 8. August der französische Lyriker Jean-Marie Berthier (77)
      • Am 6. August der britische Lyriker und Musikwissenschaftler Arthur Boyars (92)
      • Am 6. August der mexikanische Lyriker Víctor Manuel Cárdenas Morales (65)
      • Am 29. Juli die englischsprachige indische Schriftstellerin Eunice de Souza (76)
      • Am 28.Juli der norwegische Schriftsteller Stein Mehren (82)
      • Am 23. Juli der nigerianische Schauspieler und Schriftsteller Adebayo Faleti (95)
      • Am 22. Juli der pakistanische Lyriker undLexikograph Akbar Makhmoor (61). Er veröffentlichte einen Thesaurus von 115.000 Wörtern seiner Muttersprache Saraiki.
      • Am 21. Juli der indische Schriftsteller Hasan Akbar Kamal (71)
      • Am 20. Juli der amerikanische Lyriker Peter Sears (80

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    Lyrikkalender

    Vom 24. bis 27. August 2017 findet das 37. Erlanger Poetenfest statt.

    Am 25. August National Poetry Day 2017 in Neuseeland.

    Geburtstage von Herder, Apollinaire, Hamann, Hegel, Goethe, Maeterlinck u.v.a.

    Todestage von Friedrich Nietzsche, Nikolai Gumiljow, Mussa Dschalil, Franz Werfel, Wolfgang Bauer, Lope de Vega, Peter Hacks u.v.a.

    Vom 1. bis 2. September Buchmesse der unabhängigen Verlage in Mainz

    Mehr im Immerwährenden L&Poe-Lyrikkalender (ganz oben im Menü)

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    Neu im L&Poe-Bücherregal
    • Christoph Buchwald, Ulrika Almut Sandig (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2017. Frankfurt/Main: Schöffling, 2017
    • Paul-Henri Campbell: nach den narkosen. Gedichte. Heidelberg: Wunderhorn, 2017
    • Peter Engstler: Manzanita. Cut up.  Berlin: brüterich, 2017
    • Martín Gambarotta: Pseudo. Aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger. Berlin: brüterich, 2017
    • Hadayatullah Hübsch: Schau zurück in Liebe. (Verstreute Gedichte 1).  Mainz: Gonzo, 2012
    • Hadayatullah Hübsch: Marock’n’Roll. Beatgedichte. Mainz: Gonzo, 2010
    • Kaleidoskopidschi. Erinnerungen an Hadayatullah Hübsch. 2 Bd.  Mainz: Gonzo, o.J.
    • Felix Philipp Ingold: Niemals keine Nachtmusik. Gedichte. Klagenfurt u. Graz: Ritter, 2017
    • George Koehler, Ray Rubeque: Poems you see before you die. Mainz: Gonzo, 2012
    • Marcus Roloff: Waldstücke. (Verstreute Gedichte 16). Mainz: Gonzo, 2017
    • Clemens Schittko: der Aufstand kommt so oder so. (Verstreute Gedichte 15).  Mainz: Gonzo, 2017
    • Enno Stahl: irische couplets.  Mainz: Gonzo, 2016
    • Florian Vetsch & Hadayatullah Hübsch: Eis bricht leis. 6 Gedichte.  Mainz: Gonzo, 2013
    • Markus R. Weber: Vor Augen.  Berlin: brüterich, 2017

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    Poetopie

    Von Hansjürgen Bulkowski, der jeden Sonntag einen Aphorismus versendet.

    Am 23. Juli

    wegfahren – wie kommen wir an, wie kommen wir wieder?

    Am 30.Juli

    Ferien vom Wahlkampf – fehlt uns was?

    Am 6. August

    weit verstreut über dem halben Erdteil nehmen wir voneinander Urlaub

    Am 13. August

    warum aus Konserven – Zeit, von frisch gepflückten Früchten zu leben

    Am 20. August

    woher stammt das Rohöl, das mein Wagen in Form von Benzin so gierig schluckt?

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    Ein paar Lesetips zum Schluß
    • Revision helps me envision other possibilities for the language on the page: Eduardo C. Corral, Marie Howe, Billy Collins, Jenny Zhang, Robert Pinsky and Mary Jo Bang share their hand-annotated drafts. | The New York Times
    • Springsteen and Dylan speak to our current condition, and so do Boethius and Sappho: On Michael Robbins’s Equipment for Living: On Poetry and Pop Music and “advanced-pop criticism.” | The New Yorker

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1 Comments on “L&Poe 21 | September 2017

  1. eine anmerkung zu den deutschsprachigen baudelaire-übersetzungen der eingangsstrophe von »les fleurs du mal«

    La sottise, l’erreur, le péché la lésine,
    Occupent nos esprits et travaillent nos corps,
    Et nous alimentons nos aimables remords,
    Comme les mendiants nourrissent leur vermine.

    was auffällt: alle reimen den reinen reim. nur friedhelm kemp verweigert sich und übersetzt in kaum merklich rhythmisierter prosa.

    beim näheren hinschauen sieht man: nur c. fischer und s. löffler bleiben sechshebig und somit dem alexandriner nah, die anderen sind fünfhebig, meist jambisch, hier und dort ein trochäus.

    es scheint also einigkeit zu herrschen, dass der reim die struktur ist, die um jeden preis zu bewahren ist. besonders krass bei s. werle, der auf metrische regelmäßigkeit verzichtet, am reim aber festhält (was einen holpernden effekt hat, der dem fließenden klang des originals diametral entgegensteht). oder man muss – siehe f. kemp – auf klangliches verzichten und sich ganz auf die syntax und semantik konzentrieren.

    warum nicht einmal versuchen, dieses entweder-oder zu überwinden? und vor allem die irrationale fixierung auf den reim?

    ein möglicher weg scheint mir, die form des originals – den auf französisch lässig sitzenden alexandriner (weil der reim dort deutlich weniger anstrengung erfordert) – durch eine im deutschen lockerer zu bewerkstelligende form zu ersetzen. anders gesagt: gebundenheit zu bewahren, aber form nicht sklavisch zu reproduzieren. denn abgesehen davon, dass es zum scheitern verurteilt ist, weil spätestens die reimwörter andere sind (und sich z.b. die tiefe abgründigkeit von lésine/vermine schlicht nicht nachahmen lässt), ist der französische alexandriner nun einmal was anderes als der deutsche. schlicht und einfach, weil die abfolge der hebungen und senkungen dort (fast) keine rolle spielt, bei uns aber sehr wohl. bei uns stellt sie sich leichter ein, und das lässt sich nutzen.

    ich versuche es mit einer (von mir verschiedentlich auch schon im zusammenhang mit katalanischen und spanischen texten vorgeschlagenen) vorgehensweise: gebundenheit im deutschen primär durch versmaß wiederzugeben (nicht unbedingt durch die gleiche silbenzahl, auch wenn es in diesem falle klappt), reimschema lediglich durch abwechseln von männlichen und weiblichen kadenzen möglichst oft anzudeuten. und wenn auch noch großzügig verstandene assonanzen mit dabei sind, umso besser. (eine spezialregelung hat sich mir mittlerweile als sinnvoll erwiesen: drei jambisch organisierte hebungen können je durch zwei daktylisch organisierte ersetzt werden).

    das erhoffte ergebnis: durch die gewonnene bewegungsfreiheit mehr semantische treue im sinne kemps zu erreichen, dabei aber durch die formalen analogien trotzdem auch ein wenig mehr vom klanglichen eindruck herüberzuretten (also: etwas entspannter zu schielen).

    auf die schnelle kommt bei mir heraus:

    Die Dummheit, der Irrtum, die Sünde, der Geiz
    besetzen unsren Geist, befallen unsren Körper;
    wir füttern unsre liebenswürdigen Bedenken,
    genauso wie die Bettler nähren ihr Gewürm.

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