Slave to the rhythm

Hansens Flaschenpost

Kolumne von Dirk Uwe Hansen. Er unterrichtet an der Universität Greifswald. Zuletzt erschien: wolkenformate. Frankfurt/Main: gutleut, 2016

„It’s all in the rhythm” — oder so ähnlich, ich zitiere aus dem Gedächtnis: Dieser Satz von Edith Sitwell gehört zu meinem großen Fundamentalwahrheiten. Es ist immer zuerst der Rhythmus eines Gedichtes, der meinen Zugriff auf den Text bestimmt, noch bevor ich mir überhaupt Gedanken über die Wörter, Worte, Formulierungen und deren Interaktionen mache. Sollte mir also auch als Übersetzer der Rhythmus eines Gedichtes und seine angemessene Wiedergabe im Deutschen vorzüglich am Herzen liegen. Allein, Rhythmus lässt sich häufig sowenig 1 zu 1 übertragen wie einzelne Wörter und hat in jeder Sprache seinen eigenen Hallraum, seine Geschichte und sonst noch einiges im Gepäck.

Schier unüberbrückbar zum Beispiel ist der Graben zwischen der quantitierenden (d.h. nach langen und kurzen Silben organisierten) altgriechischen und der akzentuierenden deutschen Metrik. Wenn wir also, wie es üblich ist, die langen Silben eines griechischen Verses mit betonten, die kurzen mit unbetonten Silben „übersetzen”, legen wir den Vers in ein Korsett an (bisweilen spannen wir ihn auch auf ein Streckbrett) und nehmen ihm die Beweglichkeit, die er im griechischen dadurch bekommt, dass eben nicht automatisch die langen Silben betont, die kurzen unbetont sein müssen.

Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὃς μάλα πολλὰ
πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσε·
πολλῶν δ‘ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω,
πολλὰ δ‘ ὅ γ‘ ἐν πόντῳ πάθεν…

Der bekannte Anfang von Homers Odyssee. Zu Beginn des ersten Verses fallen betonte und lange Silben tatsächlich zusammen, die Verse 3 und 4 dagegen beginnen zwar mit einer langen, aber unbetonten Silbe; die Betonungen können die Längen und Kürzen umspielen, dem quantitierenden System sogar zuwiderlaufen. Dadurch entsteht eine Klangflexibilität, die bei einer Übertragung im Versmaß des Originals verlorengeht:

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,
vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat
und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet…

So übersetzt Johann Heinrich Voß.

Abgesehen davon, dass das Korsett der Versmaßübertragung uns so großartige Formulierungen wie das „Gehege der Zähne” und das „lecker bereitete Mahl” beschert hat, ergibt sich hier ein Problem schon dadurch, dass jeder Hexameter mit einer langen Silbe beginnt. Jeder deutsche also mit einer betonten. Das aber heißt: Keine Artikel am Anfang eines Verses — anders als durch die Erfindung einer Kunstsprache ist das nicht zu machen.

Das vorherrschende Versmaß in der griechischen Anthologie ist das elegische Distichon, eine Kombination aus einem Hexameter (weitgehend nach den homerischen Regeln gebaut) und einem soganannten Pentameter, der in Wirklichkeit aber nicht aus fünf Daktylen (—vv) besteht, sondern aus drei, wobei dem dritten die Doppelkürze fehlt (—vv —vv —) (Hemiepes heißt dieser Versteil in der Fachsprache). Ein Versmaß, das sich besonders eignet für Zweizeiler mit Pointe.

Unglückselige Frösche, die ihr Venedig bewohnet!
Springt ihr zum Wasser heraus, springt ihr auf hartes Gestein.

(Goethens Venezianisches Epigramm 129)

Wird aber länger der Text, ödets den Leser bald an, denn anders, als Schillers berühmter Merkvers nahelegt, entsteht durch die starke Rhythmisierung in der akzentuierenden Metrik eher der Eindruck, als wendete sich jemand auf einem Marsch den Hügel hinauf alle naselang um, um das bisher Geleistete stolz zu betrachten.

Ἀμβαίνων Ἑλικῶνα μέγαν κάμες, ἀλλ‘ ἐκορέσθης
Πηγασίδος κρήνης νεκταρέων λιβάδων·
οὕτως καὶ σοφίης πόρος ὄρθιος· ἢν δ‘ ἄρ‘ ἐπ‘ ἄκρον
τέρμα μόλῃς, ἀρύσῃ Πιερίδων χάριτας.

Ein Epigramm (und auch wieder eine Fundamentalwahrheit) des Dichters Homestos aus dem neunten Buch der Anthologia Graeca. Beckby, den ich als Pionier der Anthologieübersetung nicht genug loben kann, auch wenn ich ihm nicht immer folgen mag, übersetzt im Versmaß:

Mühsam klimmst du empor zu Helikons Höhen, doch gibt dir
an des Pegasos Quell Nektar den Sättigungstrunk.
So ist steil auch der Weg zur Dichtkunst; doch kommst du zum Gipfel,
o, dann schöpfst du am Born der Pieriden die Lust.

Auffällig sind hier natürlich auch das „O” am Beginn der letzten Zeile (Zwang zum betonten Anfang), das unnatürlich zu betonende „der” der Pieriden und der überflüssig altmodische „Born”.

Ich habe in meiner Übersetzung auf das Versmaß verzichtet, um dem Fließen des Originals näher zu kommen:

Auf den hohen Helikon bist du gestiegen mit Mühe, aber gesättigt
hast du dich dort an den Nektarströmen aus der Quelle des Pegasos;
so ist es auch mit dem steilen Pfad der Weisheit: Wenn du bis zum höchsten
Ziel gelangst, dann schlürfst du dort von der Grazie der Pieriden.

Anders als der Hexameter, der ja aus einer sechsfachen Wiederholung eines Daktylus’ (—vv) besteht, bei der die Doppelkürze an den meisten Stellen auch durch eine Länge ersetzt werden kann, die Zahl der Silben pro Vers also variiert, folgt die Metrik der äolischen Lyrik einem anderen System. Hier werden einzelne Verse mit festgelegter Silbenzahl zu Strophen organisiert. Die verschiedenen Verse lassen sich dabei mehr der weniger gut als Erweiterungen oder Verkürzungen des Glykoneus (—x—vv—v—) deuten (ich vereinfache hier natürlich stark).

Das Sappho (wohl zu Recht) zugeschriebene Fragment 168b besteht aus vier akephalen Hipponakteen (die haben vorne eine Silbe weniger, hinten eine mehr als der Glykoneus). Die Doppelkürze — im Deutschen also zwei unbetonte Silben hintereinander — rückt dadurch weit an den Anfang. Im Griechischen sind in keinem Fall beide kurze Silben unbetont. v1 betont die zweite, v2 die erste, v3 wieder die zweite, v4 gleich beide:

δέδυκε μὲν ἀ Σελάννα
καὶ Πληίαδες,μέσαι δὲ
νύκτες, παρὰ δ’ ἔρχετ’ ὤρα,
ἔγω δὲ μόνα κατεύδω

Schickel übernimmt das Versmaß und muss den letzten Vers künstlich auffüllen:

Hinabgetaucht ist der Mond und
mit ihm die Plejaden; Mitte
der Nächte, vergeht die Stunde;
doch ich lieg allein danieder.

Gerade bei den äolischen Versmaßen zeigt sich, wie Korsett und Streckbrett der akzentuierenden Metrik den einzelnen Versen ihre Individualität nehmen.

Hier ein anderer Versuch, bei dem ich mir Klopstocks wandernden Daktylus angeeignet habe, um die Verse voneinander zu unterscheiden und zugleich das in dem Gedicht beschworenen Vergehen der Zeit sichtbar zu machen:

Unter der Mond gegangen
gegangen Pleiaden aus
aus die Stunde geblieben
geblieben wieder allein

Lassen wir den Mond zum Abschluss noch einmal aufgehen. In der neugriechischen Lyrik gibt es das quantitierende System nicht mehr. Und doch war für mich der Rhythmus der Gedichte beim Übersetzen von Phoebe Giannisis „Homerika” der entscheidende Faktor. Nicht die regelhafte Gestalt der einzelnen Verse, aber das gegenüber der Alltagssprache stark abgeschliffene und verlangsamte Fließen des gesamten Textes nachzuahmen, aus dem sich die einzelnen Verse behutsam als Individualitäten herausschälen, ohne sich — wie die Distichen etwa — in den Vordergrund zu drängen, war harte und beglückende Arbeit. Hier der griechische Text, gelesen von Phoebe selbst am Ort seiner Entstehung, im Anschluss meine deutsche Version.

https://soundcloud.com/phoebegiannisi/vii-nostos-vii?in=phoebegiannisi/sets/homerica#t=0:00

(Heimkehr VII)

Wir gingen
alles um uns herum war antik
die Steine
das Meer der Wind die Sonne
der Fluss – ohne Wasser
der Fluss – mit Wasser
der Fluss war alt
der Tanis die Bäume
die Schafe mit ihren blauen Augen
dein Bauch deine Hände
deine Augen deine Stimme
dabei ging der Mond
auf aus dem Meer
wieder und noch einmal zum tausendsten Mal
Gott schaute aus der Höhe
auf die zwei ersten Menschen.

2 Comments on “Slave to the rhythm

  1. Pingback: L&Poe 21 | September 2017 – Lyrikzeitung & Poetry News

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