Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Veröffentlicht am 27. Januar 2017 von lyrikzeitung
Liebe L&Poe-Leserinnen und -Leser,
seit Ende 2000 gibt es die Lyrikzeitung, 15 Jahre als Tages-, jetzt als Wochenzeitung. Jeden Freitag neu mit Nachrichten aus der Welt der Poesie. Poetry is news that stays news, sagt Pound. In der heutigen Ausgabe: Hefter, Shakespeare, Huygens, Close vs. Far Reading, 1 Million und Zehntausend Dichter, Das Volk in Greifswald steht auf, der Sturm im Wasserglas bricht los; das Verb koeppen (wie jazzen oder rocken) und manches andere. Lesen!
Die Themen in dieser Ausgabe
Martina Hefter
Pflegeheimkatze Lucy spaziert durch die Gänge des Pflegeheims
Die Klänge kenn ich: Scherz,
Bluff, Schwärze, Pech, Kram,
Muff, Schmutz, Rotz, Kotz,
Krach, Cäsch, Träsch, Zeug, Kois, Gong,
Pfiff, Korsett, Kammer, Kapern.
Kennen heißt, man weiß unterscheiden,
Furunkel und Delle, dunkel und hell.
Man kennt, dass man stirbt.
Stirbt heißt, auf einem Kissen driftet man
raus aus seinem Schnauf.
Weiß nicht, was beim stirbt passiert,
aber kenn den Ton, er verästelt sich,
klatscht hin und rück und zu und auf,
da liegt wer zwischen Kloß und Klotz,
Stick und Sick.
Was ich wirklich weiß, weiß nicht.
Irgendwas wird stimmen.
Davon werd ich dann wissen.
Zum Beispiel, Wind ist, wenn Pfiff durch Spalte fizt.
Wind fitzt durch vieles, das ergibt einen Griff,
er packt mich babyleicht.
Überall rein quetscht er mich.
Überall ist alles,
aber ich hab gelernt
unterscheiden,
wo was nah an mir
und wo s fern ist.
Wie sie was weiß
sieht anders aus als
wie sie was nicht weiß.
Wie sie was nicht weiß: Sie schrumpft
ein Stück in sich zurück, steht dann hölzern in eim Eck.
Wenn sie was weiß, siehts aus, als strample sie
lange Zeit auf einem Fleck, pfeile dann durchs Fenster.
Sie weiß von was.
Ich spürs, als spürte ich in Höhlen
nur Luft, nicht den dunklen Druck.
Ich sprüh seltsamen Duft
unter die Leute, sie sitzen hier, was wissend
was ich vom Schnuppern her weiß,
sie driften auf Kissen, und sie umgibt: Ich.
Ich spinne. Ich spinne nicht.
Ich pritschle in einer Pfütze
mit Nass in Wanne. Da kommt die Frau, streichelt mich,
ihre Hand langt an Dings, wo Nass raus,
ich fang an, nach was zu fangen,
fang, fang, fang, fang, fang.
Ein Tag fasst viel Gefangenes.
Sie säuselt manchmal, sie verstehe, was ich sage.
Was verstehen ist: Nachts hör ich
draußen diese stachligen Tiere, sie schuffeln zum Müll,
ich versteh, ich muss nicht hin, nicht in ihren Kreis springen.
Die Tierchen, nicht mein Friss.
Spalten mich nicht in lieb sein oder Biss.
Ich bin so ein Tierchen nicht.
Jedoch die Frau – auf flachen Füßen
sie schlängelt sich um was,
das es in den Zimmern hier gibt,
nicht als Ding, es ist eine Luft.
Immer denkt sie an das, von dem ich weiß,
es ist ein Wort, das in jede Luft einen Kasten stellt.
Es klingt kloßig, wie Brot.
Keine Borte ziert den Topf, in dem was kocht,
das Tod bringt.
Da ist es schon.
Das ist alles.
Aber was ist alles? Ich weiß, wie sie eine Schleife um den Tisch geht.
Ich weiß, wie sie ein Rund um diese Stelle dreht.
Wo jeder Mittag anhält,
der Sittich im Käfig umfällt.
Sie umrundet dieses Rund.
Tut ihr das gut, wie mir guttut ausgedehntes Dehnen
mitten in der Nacht? Ist das Love, in der sie immerzu tobt?
Ich krieg mit, dass sie mich lobt,
weil ich Whiskas runterschlinge,
Bildchen bin für das,
wovor sie allmählich wegpennt.
Wach doch auf. Schluck was!
Immerzu döst du auf Kissen.
Wie könnt ich dich erfrischen,
soll ich Tupfer setzen auf dein Kinn?
Hallo, mein Mim-Mim, wollen wir ausloten
die Kraft unserer Pfoten?
So dumm dachte ich, als ich klein war.
Mein Flausch, er zog aus meinem Denken
den letzten Biss.
Und der Tag ploppte in seine Blüten,
man musste nur nach Fliegen springen,
bisschen spielen.
Spielen aber tat man sowieso.
Und spielen hilft nichts.
Ich setz mich jetzt auf jemands Bauch,
spende einen guten Blick.
Ich bin mehr als ein Tierchen, weiß ich.
Und jemand stirbt auch.
Der Mittag rast viel schneller voran, als ich dachte.
Wie alt ich bin? Dreihundertachtzig.
Wie alt die andern hier?
Wie sie so liegen auf ihren Pritschen,
sind keine Anfänge zu sehen.
Fährt ein LKW vorbei,
wirbelt kein Lärm sie auf,
sie nehmen alle Geräusche hin.
Sie sind so alt wie Wind.
Mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. Aus einem 2018 bei Kookbooks erscheinenden Buch.
Augentrost – das ist mal ein Buchtitel! Dabei ist es gar keine Neuschöpfung, denn Constantijn Huygens schrieb seine Euphrasia schon 1647. Der Titel ist übrigens schnell erklärt: Der Augentrost (Euphrasia officinalis) ist eine Wiesenpflanze, seinen Namen hat er aufgrund seiner angenommenen Heilwirkung. Das muss uns aber nicht weiter beschäftigen, denn hier geht es ja um Literatur. Um ein Trostgedicht, das aus eher privatem Anlass entstand (und zunächst auch noch nicht über 1000 Verse umfasste): Huygens, der selbst (manchmal) eine Brille trug, schrieb es als Trost für eine Freundin (die im Text als „Parthenine“ auftaucht) und offenbar den Verlust eines Auges zu beklagen hatte. Aber, wie das Nachwort wiederum ganz richtig bemerkt, es ist mehr als ein Trostgedicht (ich würde sogar sagen: Es ist gar kein Trostgedicht mehr …), es ist ein richtiger Narrenspiegel, der die ganze Gesellschaft – die Dichter übrigens ausdrücklich eingeschlossen – aufspießt. / mehr bei mathiasmader.de
Constantijn Huygens: Euphrasia. Augentrost. Übersetzt und herausgegeben von Ard Posthuma. Leipzig: Reinecke & Voß 2016. [ohne Seitenzählung]. ISBN 9783942901222
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Reading may be passé, what about Close reading?
Close reading ist Bad old days, beziehungsweise, schreibt Marjorie Perloff, heutige Studenten wissen vielleicht gar nicht mehr, was das ist. Ihre Lehrer mögen eine ferne Erinnerung haben. Und fährt fort:
But would a far reading, then, be better than a close one? Well, not exactly, but perhaps reading is itself passé, what with the possibility that a given poem or novel could serve as an exemplar of this or that theory, in which case one might only have to focus on a particular passage. In the case of T. S. Eliot’s “Gerontion,” for example, one need only discuss the speci¤cally anti-Semitic passages so as to demonstrate Eliot’s racism.
Perloff, Marjorie.
Differentials : poetry, poetics, pedagogy / Marjorie Perloff. (Modern and contemporary poetics) 2004
The University of Alabama Press
Tuscaloosa, Alabama
geht weiter mit Sonett #22: MY glasse shall not perswade me I am ould, deutsch von Stefan George: Nicht glaub ich meinem spiegel ˙ ich sei alt. Im übrigen bin ich der Meinung, Shakespearejahr hin oder her, daß wir experimentelle Übersetzungen von Shakespeares Sonetten, oder von Gedichten Puschkins Byrons Shelleys Mickiewicz‘ Villons usw. usf. … brauchen. Àxel Sanjosé hatte im vergangenen Mai darauf hingewiesen. Ich weiß ja nicht, ob jemand diese Sonette in Wochenhäppchen mitliest, jetzt wo das Shakespearejahr 2016 passé ist. Am liebsten experimentelle Übersetzungen mit mehreren Varianten einzelner Gedichte: wie es sie von Chlebnikow (Ausgabe Peter Urbans bei Rowohlt 1985), Petrarca (Poesiealbum 178/ 1982) oder Gertrude Stein (bei Arche 1993) gab. Aber das ist lange her, wen interessiert sowas heute?
Hier die aktuelle und alle bisherigen Folgen
Patrick Kavanagh estimated that the standing army of Irish poets at any one time is least 10,000 strong; I was aware that while I might make nine friends among the ranks for my inclusion of their poems with my own, I would surely make 9,991 enemies. / Paula Meehan über den Auftrag, 10 Gedichte aus Irland auszusuchen, The Irish Times
Rechnet man die geschätzte Gesamtzahl der gegenwärtig in China schreibenden und veröffentlichenden Lyrik-Autoren auf die Gesamtpopulation des Riesenreiches hoch, so kommt man auf ein frappierendes Ergebnis: Momentan gibt es mehr als eine Million lyrischer Dichter unter den ungefähr 1,3 Milliarden Chinesen, ein stupender Prozentsatz, der vermutlich von keinem anderen Lyrik-Land der Welt oder nur noch von Island erreicht wird. / Benjamin Rossi, Neue Zürcher Zeitung
Chinabox. Neue Lyrik aus der Volksrepublik. Hrsg. Lea Schneider. Edition Polyphon. Verlagshaus Berlin, 2016. 390 S., Fr. 32.90.
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Haft wegen Kritik an Erdoğan
Der türkische Dichter Yılmaz Odabaşı wurde am Mittwoch zu 20 Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt, weil er in einer Kolumne im Jahr 2015 den Präsidenten beleidigt haben soll. Mehr
Koeppen kannte ich von Kindesbeinen, im Elternhaus wurde er vorgelesen, und für die Prosaverse gab’s dort ein Flügelwort: „Koeppen“. Koeppen wie Jazzen wie Rocken.
Wenn die Uni stur bleibt und die Landesregierung nicht vor organisiertem und selbstinduziertem Volkszorn einknickt, können sie ja ihre Stadt in Ernst-Moritz-Arndt-Stadt umbenennen, damit ihre „Identität“, von der auf einmal alle posaunen, gewahrt bleibt. Deutschland 2017. Wohin auswandern. / Kommentar von Michael Gratz zu Diskussionen um den Namen der Universität Greifswald hier.
Kalendarium heißt ab jetzt Lyrikkalender und ist prallvoll hier. Viel passiert Ende Januar/ Anfang Februar: Serendipity wird erfunden, Dichter sterben und werden geboren, Hölderlin schläft mit geladener Pistole unterm Kopfkissen. Adolf Hitler nutzt die ersten Tage nach der „Machtergreifung“, um Fakten zu schaffen. George Forestier wird bejubelt und fallengelassen. Der Dichter Schickele pfeift darauf, ob er deutscher oder französischer Staatsangehöriger ist.
Anfang des Monats starb Thomas Brasch, Ende George Harrison. Große Verlage setzen auf Mainstream. Celan paßte nicht nach Wien. Der heutige Leser? Alles soll sofort kapiert werden, leicht verstanden, flüchtig aufgenommen, rasch vergessen. Wer Gedichte schreibt, hat ´nen Stich (Annerose Kirchner). Wenn Erich Fried vom „Bumsen“ schreibt, so übersetzt sie es mit „elste nüe Woort“ (das eklige neue Wort). Friedrich Rückerts Liedertagebuch ist das größte geschlossene Poesiewerk des Neunzehnten Jahrhunderts. Türkische Literatur, Suaheliliteratur und noch viel mehr hier.
Kategorie: Deutsch, Deutschland, Englisch, Irland, Niederlande, Rußland, RussischSchlagworte: Alice Salomon Poetik Preis, Barbara Köhler, Benjamin Rossi, Close Reading, Constantijn Huygens, Eisenach, Geoffrey Chaucer, Gudrun Ensslin, Harry Mathews, Hedwig Brenner, Hubert Lucot, Ingeborg Gleichauf, Machmud Darwisch, Marjorie Perloff, Martina Hefter, Nora Bossong, Paula Meehan, Roswitha-Preis, Sinn und Form, Walle Sayer, William Shakespeare, Wolfgang Koeppen
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