Ghetto und neue Subversivität

Babelsprech übernimmt den Essay „Vorsichtige Vitalität. Neue Entwicklungen in der gegenwärtigen tschechischen Poesie“ von Karel Piorecký aus Displey (Koproduktion von Randnummer  und psí víno). Hier Anfang und Schluß:

Wo fängt eigentlich die Gegenwart der tschechischen Poesie an? Für viele ihrer LeserInnen und KennerInnen ist das Ereignis, das die Gegenwart imaginär von der Vergangenheit trennt, der Sturz des Kommunismus im November 1989. Ein zweiter derart grundlegender gesellschaftlicher, politischer und kultureller Wandel hat im tschechischen Kontext seit Ende der achtziger Jahre tatsächlich nicht stattgefunden. Jedoch ereigneten sich unauffälligere Veränderungen, weniger revolutionär, als vielmehr evolutionär.

In den gerade posttotalitären neunziger Jahren war die tschechische Poesie in erster Linie gezeichnet von präzedenzloser Verwirrung durch die (literatur)geschichtliche Situation. In einem unübersichtlichen Wirrwarr durchwoben sich hier optimistische Gegenwart, unrühmliche und darum leidenschaftlich negierte unmittelbare Vergangenheit der sog. Normalisierung und eine ganze Reihe oft sehr archaischer literarischer Traditionen, die plötzlich öffentlich zugänglich gemacht, übereilt herausgegeben und gierig, wenn auch einigermaßen oberflächlich rezipiert wurden. Als eine der attraktivsten erwies sich die Tradition der spirituellen Lyrik, wiederbelebt einerseits in Anknüpfung an barocke Poesie, andererseits an die moderne katholische Lyrik (Pavel Petr, Petr Čichoň, Miloš Doležal u.a.). Ebenfalls anziehend, aber in neuen Werken weniger präsent war die Tradition der imaginativen oder (neo)surrealistischen Poesie, die auch den Reiz von bis vor Kurzem verbotenen Früchten hatte (Jaromír Typlt, Pavel Ctibor, Tomáš Přidal u.a.). Zur stärksten und man kann wohl sagen normbildenden Traditionslinie aber wurde die sachliche, deskriptive Lyrik, die sich insbesondere aus der zuvor ebenfalls verbotenen Poetik der Dichter der Gruppe 42 speiste sowie aus dem Erbe einer sog. Alltagspoesie. Der sachliche, von ästhetischen Deformationen und expressiven Haltungen befreite Ausdruck in den Gedichten von Petr Hruška, Petr Borkovec oder Petr Motýl passte gut zum starken Bedürfnis nach so genannter authentischer Literatur, die sich viel weniger auf ihre Literarizität als auf eine (Ahnung von) direkter Verbindung von Text und Lebensrealität stützte, für die voll und ganz der Autor selbst mit seinem charakterlichen und moralischen Profil bürgte. Ein allgemeiner Konsens bestand auch bezüglich der Frage, welche Beziehung die Poesie zur außerliterarischen, gesellschaftlichen und politischen Realität habe. Eine selbstverständliche und nur sehr selten gebrochene Norm war die Trennung des Politischen von der Literatur, präsentiert als ihre Befreiung von den von außen aufgezwungenen Funktionen (die es in der Zeit der Normalisierung gab sowie vor 1968) und damit als Möglichkeit, endlich sie selbst zu sein.

In dieser typologischen Unterteilung und diesen Bewertungsrahmen überschritt die tschechische Poesie das Jahr 2000 und verharrte so noch einige Jahre. Ihre Stabilität, Unveränderlichkeit und Ruhe verwandelten sich langsam in eine Art Leichenstarre. Kurz nach der Jahrtausendwende wurde jedoch klar, dass die freiwillige, ja sogar intendierte und programmatische Abwendung von der gesellschaftlichen Funktion der Poesie nur eine illusorische Freiheit brachte und sie in Wirklichkeit in eine neue Form der Isolierung zurückgeworfen wurde, nämlich das tiefe Desinteresse der lesenden und kulturellen Öffentlichkeit. Die Suche nach dem Ausweg aus diesem „Ghetto“, wie der Zustand damals oft bezeichnet wurde, wurde zu einem der Hauptthemen literarischer Diskussionen und Polemiken.

(…)

Die Tendenzen der Engagiertheit, des Konzeptualismus und der Neoavantgarde sind selbstverständlich verknüpft und durchwirken die gesamte gegenwärtige tschechische Poesie. Mit den langen neunziger Jahren endete auch die radikale postmoderne Pluralität nicht zu verbindender Einzelner – Teilströmungen und Teiltendenzen hängen zusammen, sind aufeinander bezogen und lassen eine Gesamtbewegung der Poesie als künstlerischer Gattung erahnen. Vielleicht auch deswegen ist die Poesie in Tschechien heute ein Bereich mit großem Potential und Vitalität, mit einem großen Vorrat angesammelter Energie, die die Schreibenden allerdings nur vorsichtig an sich heranlassen. Sie wollen Veränderung, aber möglichst ohne das Risiko, durch Experimente mit neuen Herangehensweisen Explosionen zu verursachen. Gemeinsamer Nenner der beiden Richtungen ist die Subversion, der Wille, erstens das herrschende sozio-ökonomische System, zweitens die ausgetretenen literarischen Pfade infrage zu stellen. Zusammen bilden sie demnach die Strömung der neuen literarischen Subversivität.

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