69. Randzeichnungen

Modernen Autoren fällt das Schreiben gewöhnlich schwerer als mittelalterlichen Kopisten, schwerer auch – wie Thomas Mann einmal festhielt – als anderen Menschen. Deshalb sind sie die meiste Zeit ihres Wirkens gar nicht mit Schreiben, sondern mit Nicht-Schreiben befasst. Für die Nachwelt blieben davon neben ausgerissenen Haaren keine bedeutenden Zeugnisse zurück, legten die zu beschriftenden Blätter selbst nicht oftmals selbst Zeugnis ab vom dramatischen Ringen um Einfälle und deren sprachliche Formung. Mit diesen Randgeschehnissen des Schreibens, unter denen sich die begrenzte Oberfläche des zu beschriftenden Papiers in einen schier unbegrenzten Raum der Phantasie – oder auch der Phantasielosigkeit – zurückverwandelt, befasst sich eine launige Marbacher Ausstellung. Erstaunlich, gerade im Vergleich mit den Zeugnissen mittelalterlicher Vorgänger, über welch begrenzte und stereotype Zeichen- wie Formenvorräte die dort ausgestellten Autoren verfügen und wie selten semantische Bezüge zwischen dem an den Rand eines Blatts Gekritzelten und dem in seinem Zentrum Geschriebenen erkennbar sind. …

Auch der kritzelnden Hand Paul Celans ist gut über die Blätter zu folgen, wenn drei Ansichten eines gezeichneten Frauenkopfs – eines mit einer geschwärzten Zone um das rechte Auge – das Manuskript des Gedichts „Von Dunkel zu Dunkel“ flankieren. Hier ist nichts Tiefsinniges über die wörtliche Bedeutung eines Verses hinaus zu enträtseln, man braucht nur dem schwarzen Tintenstrich zu folgen: „Du schlugst die Augen auf – ich seh mein Dunkel leben.“

Dokumente eines randständigen Surrealismus avant le lettre aus den Klebealben des mit scharfem Papiermesser und mit Schere bewaffneten schwäbischen Schriftstellers und Arztes Justinus Kerner, der den Bildnissen seiner Hausgäste auch gerne mal Hörner aufsetzte, beschließen den Kreis. / VOLKER BREIDECKER, SZ 8.4.

„Randzeichnungen“. Bis 18. April. Deutsches Literaturarchiv / Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar. Begleitend zur Ausstellung sind drei „Marbacher Magazine“ zum Preis von je 9 bzw. 10 Euro erschienen. Info: www.dla-marbach.de

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