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Und als die Naturwissenschaft die Esoterik preisgab, als sie sich zumindest an der Oberfläche von der Gespensterkunde löste, zog der Okkultismus mit umso größerer Entschlossenheit in die Kunst ein. Sicherlich, August Strindberg mag ein halb verrückter Einzelgänger gewesen sein, als er im Jahr 1897 in einem schäbigen Pariser Hotelzimmer versuchte, Gold herzustellen. Aber was ist mit William James, dem Bruder des Schriftstellers Henry James und Begründer der amerikanischen Psychologie? Auch er wollte mit den Toten sprechen. Warum widmete sich Arthur Conan Doyle in seinen späteren Jahren ganz dem Spiritismus und stand einer ganzen Reihe okkulter Vereinigungen vor? Was veranlasste Robert Musil, im „Mann ohne Eigenschaften“ von einem „anderen Zustand“ zu schwärmen, und was bewegte Franz Kafka, als er Rudolf Steiners Vorlesungen in Prag für „sehr anregend“ hielt? Warum hielten die „Meister“ des frühen Bauhauses Séancen ab, als sie auf den Gedanken kamen, der „neue Mensch“ müsse in absolut reinen Formen wohnen? Maurice Maeterlinck meinte, in Arnold Schönbergs reinen Klängen „gegenstandlose Vibrationen“ zu finden, Georg Trakl beschäftigte sich mit den „drei Stufen der Erotik“, und Wassily Kandinsky strebte nach einer „neuen Ausdrucksform“, nach einer alles überstrahlenden Wahrheit, nach dem innersten Wesen der Dinge. In der ästhetischen Avantgarde jener Zeit sind nur wenige Künstler nicht, mehr oder weniger, von esoterischen Überzeugungen affiziert, und die radikalsten sind es ganz besonders. / THOMAS STEINFELD, SZ 24.11.
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