Georg Herwegh
(* 31. Mai 1817 in Stuttgart, heute vor 205 Jahren; † 7. April 1875 in Lichtental)
Den Naturdichtern. Titan und Zwerg, das Große, wie das Kleine, Ist Poesie, und Poesie im Halme, Wie in des Orientes stolzer Palme, Und Poesie noch in der Weisen Steine; Und Poesie die Mück' im Sonnenscheine, Und Poesie in eines Dampfschiffs Qualme, Und Poesie auf einer Schweizeralme, Und Poesie vor Allem auch im Weine. Wo Euch des Himmels heil'ge Luft umweht, Da rauscht die Poesie mit ihren Schwingen; Sie fehlet nie, oft fehlt nur der Poet. Wie Gott, ist sie zuletzt in allen Dingen: Doch wenn einmal ein Löwe vor Euch steht, Sollt Ihr nicht das Insekt auf ihm besingen.
Aus: Georg Herwegh, Gedichte eines Lebendigen (1841)
L&Poe Journal #02 – Tabu
Der erste Abschnitt meiner Ulysses-Lektüre hier
der zweite hier
Das Rasieren nimmt viel Raum im ersten Kapitel ein. Wahrscheinlich das erste Mal in der westlichen Literatur (sage ich, ohne es beweisen zu können) wird diese Alltagshandlung derart liebevoll und detailgetreu beschrieben. Vor ein paar Wochen fragte jemand auf dem Wissensnetzwerk Quora, wie man sich am besten auf die Lektüre des Ulysses vorbereiten sollte. Ich wollte ihm antworten, bin aber dann davon abgekommen. Ich hätte ihm ungefähr gesagt: am besten gar nicht vorbereiten. Auf keinen Fall vorher die Biografie des Autors lesen und auch keine Interpretationen oder Handreichungen. Die sind für Anglistikstudenten und Schüler von Leistungskursen gut, wenn sie einen Vortrag halten müssen, aber sonst? Oder wenn man den Roman zum drittenmal lesen will, kann ja noch kommen. Wenn man das vorher liest, kann man sich das Lesen eigentlich gleich sparen, und das geschieht ja wohl auch oft. Susan Sontag meinte überhaupt, mal hemdsärmlig zusammengefasst, Interpretation sei dazu da, die Begegnung mit dem Text zu ersetzen. (Da gibt es ja jetzt diese App, die vielbeschäftigten Leuten die kurze Zusammenfassung von (Sach-)Büchern gibt, damit sie wissen, worum es geht und darüber reden können, ohne es zu lesen. Gibt es bei Belletristik und Dichtung schon längst, heißt Sekundärliteratur.)
Nichts vorher lesen, Papier und Stift danebenlegen und einfach abwarten, was passiert. Hilfreich kann sein, nach jeder Seite ganz knapp aufzuschreiben, wovon sie handelt. Da würde etwa für das 1. Kapitel stehen:
7: Buck Mulligan legt Rasierzeug zurecht und redet dabei.
8: Stephen Dedalus kommt dazu und beobachtet Mulligan. Sie sprechen über Haines, den dritten Bewohner des Turms. Rasieren beginnt.
9: Mulligan rasiert sich und leiht sich das schmutzige Taschentuch Stephens aus. Weiter geht: Reden über Haines, Monologe Mulligans.
10. Weiter geht die Rasur. Sie reden über den Tod von Stephens Mutter und schauen auf das Meer.
11: Rasiert sich weiter, reden weiter.
12: Sie reden über den zerbrochenen Spiegel des Dienstmädchens, er rasiert sich.
13: Reden, rasieren.
14: Sie reden. Stephen hat Probleme mit Mulligans ruppiger Art.
15: Haines ruft von unten. Mulligan geht runter und fordert Stephen auf, mitzukommen.
16: Innerer Monolog Stephens über seine Mutter.
17: Mulligan ruft noch einmal zu Stephen: Frühstück ist fertig. Reden über Geld.
18: Stephen geht runter und nimmt das Rasierzeug mit.
19: Frühstück. Die Milchfrau kommt gleich.
20: Sie essen und reden.
21: Milchfrau bringt die Milch.
22: Sie plaudern mit der Frau.
23: Mulligan will die Milch bezahlen, aber er ist blank.
24: Sie reden über das Waschen und das Geld.
25: Sie bereiten sich auf einen. Spaziergang am Meer vor.
26: Sie gehen nach draußen.
27: Sie reden über Hamlet.
28: Mulligan trägt ein Gedicht vor.
29: Stephen und Haines reden über Gott und rauchen.
30: Weiter über Gott.
31: Über Gott und Vaterland. Männer an der Klippe.
32: Im Meer ein Bekannter Mulligans. Sie plaudern.
33: Mulligan und Haines baden im Meer. Stephen geht zurück, sie verabreden sich für später.
Das ist das ganze erste Kapitel. Rasieren, Frühstück, Spaziergang zum Strand und das Reden und die Gedanken dabei.
Nach Joyce‘ eigenem Kapitelschema ist der Titel des Kapitels: Telemachos, Schauplatz der Turm, die Zeit 8 Uhr, die „Kunst“ die Theologie. „Erklärungsbedürftig“ daran wäre nur der Titel. Diese Titel sind wahrscheinlich so etwas wie ein Bauplan des Romans, die 18 Kapitel in Parallele zu den (23!) Gesängen der Odyssee. Ich mag die Parallele nicht ausreizen, nur die vage Idee, dass der Kapitelheld in Beziehung zu Stephen Dedalus gesetzt wird, die Gemeinsamkeit wäre der Konflikt mit der Mutter (die bei Homer den Freiern ausgesetzt ist / sie gewähren lässt). Eine Interpretation müsste dann hier ansetzen, aber im Moment brauche ich sie gar nicht. Die Reise (durch den 16. Juni 1904 in Dublin) beginnt hier.
Wird fortgesetzt
Boris Pasternak
(Борис Леонидович Пастернак, * 29. Januar jul./ 10. Februar 1890 greg. in Moskau; † 30. Mai 1960 in Peredelkino bei Moskau)
Das heutige Gedicht spricht von Moskau 1941, es könnte auch Kyjiw 2022 sein, ein schreckliches Märchen.
Schreckliches Märchen Es wird sich alles ändern rings, Neu wird die Hauptstadt werden. Die Kinderangst, vom Schlaf noch blind, Wird nie verziehen werden. Vergessen nie des Schreckens Mal, Das tief sich eingegraben. Die Feinde werden hundertmal Dafür zu büßen haben. Vergessen die Beschießung nie, Die grause Zeit des Todes, Als er im Lande hauste wie Zu Bethlehem Herodes. Die neue, beßre Zeit beginnt. Wenn auch die Zeugen schwinden – Die Qualen jedes Krüppelkinds Wird keiner je verwinden. 1941
Deutsch von Günther Deicke, aus: Boris Pasternak, Initialen der Leidenschaft. Berlin: Volk und Welt, 1969, S. 127
Страшная сказка Всё переменится вокруг. Отстроится столица. Детей разбуженных испуг Вовеки не простится. Не сможет позабыться страх, Изборождавший лица. Сторицей должен будет враг За это поплатиться. Запомнится его обстрел. Сполна зачтется время, Когда он делал, что хотел. Как Ирод в Вифлееме. Настанет новый, лучший век. Исчезнут очевидцы. Мученья маленьких калек Не смогут позабыться. 2022
Reinhard Döhl
(* 16. September 1934 in Wattenscheid; † 29. Mai 2004 in Stuttgart)
sätze das haus der sprache ist eine frage der statik schönheit ist ein satz der wahrscheinlichkeitsrechnung die welt ist durch die tatsachen bestimmt und dadurch daß es alle tatsachen sind exkurs weiße schimmel spielen auf weiten weiden und spielen weiße flächen sind auf weißen flächen verborgen große worte schwärzen weiße flächen und wiehern sätze das haus der sprache ist eine metapher die klappert es ist ein axiom der schönheit daß zwei mal zwei fünf ist die beste der möglichen welten ist statistisch beschreibbar
reinhard döhl: fingerübungen. 50 texte. 3 grafiken von georg karl pfahler. Wiesbaden: limes, 1962, S. 25
die texte wurden 1960/61 geschrieben. sie enthalten zitate.
Aus dem zitierten Buch
Guntram Vesper
(* 28. Mai 1941 in Frohburg / Sachsen; † 22. Oktober 2020 in Göttingen)
Am Horizont die Eiszeit IV Als ich damals den Viehzug verließ, vor der Morgenmilch eindrang in das Provinznest, waren die frühesten Proleten noch zwischen glauchen Betten. Ich ging, wie später bekannt wurde, zum Lager und verlangte da mein Recht und auch Einlaß. Vor dem Stacheldrahtzaun stand ich, mit einer Pappkiste — weiß Gott, sie trug die Aufschrift Persil am Deckel — stand ich, keine Zigarette, Geld nicht, nur Dreck in der Tasche; den hatte ich vorm Vaterhaus gekratzt aus dem Pflaster.
Aus: Guntram Vesper, Tieflandsbucht. Die Gedichte. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Frankfurt/Main: Schöffling, 2018, S. 14
Richard Schaukal
(* 27. Mai 1874 in Brünn; † 10. Oktober 1942 in Wien)
Der Unausweichliche Kennt ihr den patentierten Patrioten mit steifer Hemdbrust, Brustton, Frack, Zylinder und Balkanorden? Bald beglückt er Kinder mit Flammenworten, bald gilt es den Roten, die er zerschmettert, um dann den Devoten zu mimen als inbrünstiger Erfinder von blechernen Depechen; Überwinder der Feinde hie, dort Herold Friedensboten. Er huldigt, labt, vertritt, enthüllt, begegnet, erscheint zur Leichen-, Hochzeits-, Siegesfeier, er sendet ein, ruft auf, beglückwünscht, segnet begrüßt, drückt aus, eröffnet, sammelt, legt Schlußsteine, Rechnung, Hand an, Ostereier: kurz, wird als Kehricht immer mitgefegt.
Aus: Richard Schaukal, Gedichte. München: Georg Müller, 1918, S. 335
Srečko Kosovel
(* 18. März 1904 in Sežana, Österreich-Ungarn, heute Slowenien, † 26. Mai 1926 in Tomadio / Tomaj, Italien, heute Slowenien)
Das Lachen des Königs Dada Verordnung Nummer 35: Wie unerwartet zur Gewißheit wurde, gefährdet das Abendrot die Staatssicherheit. Deshalb kommt das Abendrot, sobald es sich zeigt, ins schwarze Meer in Arrest. Das goldne Mosaik des Friedhofs erstrahlt im Leuchten der Dämmerung. Ein einsames Pferd trottet im Felde. Magie der Dämmerung! Das Pferd in Melancholie.
Deutsch von Uwe Kolbe, aus: Srečko Kosovel, Ahnung von Zukunft. Gedichte. Leipzig: Reclam, 1986, S. 8
SMEH KRALJA DADE Ukaz številka 35: Nenadoma se je izkazalo, da je rdeča večerna zarja državi nevarna. Zato se zapre večerna zarja vsakokrat, ko se bo prikazala, v črno morje. Na zlat mozaik grobišča sije bleščeče rdeča zarja. Samoten konj se sprehaja po polju. Magija zarje! Konj je melanholičen.
DAS LACHEN DES KÖNIG DADA Befehl Nummer 35: Plötzlich hat es sich erwiesen, das Abendrot gefährdet den Staat. Deshalb wird das Abend- rot jedesmal, wenn es sich zeigt, ins schwarze Meer gesperrt. Aufs goldene Mosaik der Grabstatt strahlt die leuchtend rote Abenddämmerung. Ein einsames Pferd trabt herum im Feld. Zauber der Abenddämmerung! Das Pferd ist melancholisch.
Deutsch von Ludwig Hartinger. Originaltext und Fassung von Hartinger aus: : Srečko Kosovel, Gedichte. Slowenisch/ Deutsch. Klagenfurt: Wieser, 1988, unpaginiert.
Eine weitere deutsche Fassung des Gedichts findet sich in: Srečko Kosovel, Integrale. Klagenfurt: Drava, 1999, S. 26 (übersetzt von Erwin Köstler).
Paul Kraft
(* 28. April 1896 Magdeburg, † 17. März 1922 Berlin)
Grauen O Zeit! O Zeit! O Feuer im Gehirn! Feuer, von dem Unglaublichen entzündet! Die Güte fiel. Die Dichter stehn erblindet. Bekränzt mit Kraut und irrem Laub die Stirn. Gott! Tausend stehn und tausend Tote stürzen. Schrei mir den Grund, der die in Stücke bricht. Und wenn der stark genug ist, Leben zu verkürzen. Dann laß uns zitternd knien vor dem Gericht. Nicht trunkne Lieder werfen in die Welt: Die Tat ist klein und jedes Wort ist klein, Und wenn die groß ist, stürzt dies ganz zusammen. Schrei mir den Grund! Gott! der den Tod erhellt. Zu dem sich rasend Mensch und Mensch entflammen Und Stich und Stich in Herz und Herz hinein.
Aus: Versensporn 49. Paul Kraft. Jena: Edition Poesie schmeckt gut, 2022, S. 14
Annemarie Bostroem wurde heute vor 100 Jahren geboren. Ihr Gedichtband „Terzinen des Herzens“ gefiel den Ideologen in der Ostzone und der späteren DDR nicht, wohl aber den Lesern (sensationelle 100.000 verkaufte Exemplare). Sie hat (mit Hilfe von Interlinearversionen) aus vielen Sprachen, darunter Russisch, Polnisch, Tschechisch, Serbokroatisch, Englisch, Armenisch und Hindi, übersetzt – insgesamt 100.000 Zeilen, lese ich. Hier zum Fest ein Gedicht aus den „Terzinen des Herzens“.
Annemarie Bostroem
(* 24. Mai 1922 in Leipzig; † 9. September 2015 in Berlin)
O dass es Augen wie die Deinen gibt und Hände, die so viel zu schenken wissen! Mir ist, als hätte ich noch nie geliebt, als öffnete sich unter Deinen Küssen die Aussicht in ein nie geschautes Land. Ich musste Dich ein Leben lang vermissen und weiß es nicht mehr, was ich je empfand für andere, und wie ich lachen konnte und weinen, Liebster, eh ich Dich gekannt, bevor ich mich in Deinem Feuer sonnte und sich der Strahl in meine Seele stahl, der ihren Grund bis heute noch verschonte … Mir ist, als liebte ich zum ersten Mal.
Neuausgabe Boppard : Edition Razamba, 2015 / Boppard : Verl. Razamba Ebbertz, 2012 (mit Nachwort von Nora Gomringer)
Ceija Stojka
(Margarete Horvath-Stojka, * 23. Mai 1933 in Kraubath an der Mur, Steiermark; † 28. Januar 2013 in Wien)
e kamesgi luludschi – die sonnenblume die sonnenblume ist die blume des rom. sie gibt nahrung, sie ist leben. und die frauen schmücken sich mit ihr. sie hat die farbe der sonne. als kinder haben wir im frühling ihre zarten, gelben blätter gegessen und im herbst ihre kerne. sie war wichtig für den rom. wichtiger als die rose, weil die rose uns zum weinen bringt. aber die sonnenblume bringt uns zum lachen.
Aus: Die Morgendämmerung der Worte. Moderner Poesie-Atlas der Roma und Sinti. Gedichte versammelt und ediert von Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki. Berlin: Die Andere Bibliothek, 2018, S. 71
Zbyněk Havlíček
(22. Mai 1922 in Jilemnice, heute vor 100 Jahren – 7. Januar 1969 in Prag), tschechischer Dichter, Literaturtheoretiker, Psychoanalytiker und Übersetzer
Die stalinistische Epoche »Ich weiß sehr wohl, daß solch intime Prozesse auf einen hinzustoßenden Herrn, der zuschaut beziehungsweise assistiert, äußerst bezaubernd wirken, besonders – an dieser Stelle will ich ganz offen sprechen – wenn ich selbst mich zu solchen Gelegenheiten sehr bequem anziehe. Wohlan, es schadet nicht – selbstverständlich verlange ich absolute Selbstbeherrschung von den Mädchen.« Aus dem Brief einer Sadistin Wenn ein elastischer Rohrstock oder eine kleine Peitsche In memoriam der Geschichte zuschlägt Blättert der Kopf eines weiblichen Zöglings zwischen deinen Schenkeln Unartig in den Bibliotheken In der Hirnrinde der Städte Der Kopf eines weiblichen Zöglings zwischen deinen Schenkeln Die Beine in absoluter Ruhe nie übereinandergeschlagen Absätze aus Eis mit geangelten Sternen Beginnen gen Island zu laufen Wenn du den Ursprung des Kusses In der Müdigkeit der Mineralienwelt wiederholen läßt In irgendeiner Altamira des Schlafs Wenn du die Figuren sozialer Tänze wiederholen läßt Stalinistische Reihenübungen Schön und militaristisch Wenn du meinen Kopf böhmischer Dörfer In memoriam der Geschichte aufschlagen läßt Singe ich ein altes Lied aus der Zeit der Inquisition Als ich zur »Irrenanstalt« ging Die Apfelbäume blühten als ich zur »Irrenanstalt« ging [1951]
Übersetzt von Dominique Fliegler, Martin Hrádek, Tereza Uteseny, aus: Höhlen tief im Wörterbuch. Tschechische Lyrik der letzten Jahrzehnte. Ausgewählt u. kommentiert von Urs Heftrich und Michael Špirit. München: Dt. Verl.-Anst., 2006, S. 134f
Emile Verhaeren
(* 21. Mai 1855 in Sint-Amands bei Antwerpen; † 27. November 1916 in Rouen)
DIE BRENNENDEN SCHOBER (Auszug) Glut in des Abends Tiefe die Ebene hellt. Aufspringend Sturmgeläut bellt und gellt, Stößt wund sich am starrenden Firmament; – Ein Schober brennt! Die Menge, in Wegschleusen drängend, heult! Die Menge, durchs Dorf sich zwängend, heult! Ein Hund in der Hofenge heult und heult! – Ein Schober brennt! Die Flamme rasselt und prasselt und malmt. Entreißt sich flatternde Fetzen, verqualmt, Aufzüngelnd grell in gewundenen Schleifen, Verweht sie in rasend gepeitschten Schweifen. Ganz plötzlich listig dann eingerollt, Sie in sich sinkt – Doch hoch wieder springt Sie, Schmutz bald, bald wieder lauteres Gold. Da plötzlich ein anderer Schober, entzündet. Ein Flammenbündel, sich jenem verbündet, Wirft hoch die langen Schwefelschlangen! Und siehe: die Feuer wandern und wandern Als Schein von einem Hofe zum andern, Und in die Fenster düstere Glut Hinrinnt wie rotes geronnenes Blut. – Ein Schober brennt!
Deutsch von Max Rieple, aus: Das französische Gedicht des 19. und 20. Jahrhunderts. Französisch-Deutsch. München: Goldmann, o.J. (Goldmanns Gewlbe Taschenbücher Band 965), S. 139
LES MEULES QUI BRÛLENT (Extrait) La plaine, au fond des soirs s’est allumée, Et les tocsins cassent leurs bonds de sons, Aux quatre murs de l’horizon. – Une meule qui brûle! Par les sillages des chemins, la foule, Par les sillages des villages, la foule houle Et dans les cours, les chiens de garde ululent – Une meule qui brûle! La flamme ronfle et casse et broie, S’arrache des haillons qu’elle déploie, Ou sinueuse et virgulente S’enroule en chevelure ardente ou lente, Puis s’apaise soudain et se détache Et ruse et se dérobe – ou rebondit encor: Et, voici, clairs, de la boue et de l’or. – Quand brusquement une autre meule au loin s’allume! Elle est immense – et comme un trousseau rouge Qu’on agite de sulfureux serpents, Les feux — ils sont passants sur les arpents Et les fermes et les hameaux, où bouge, De vitre à vitre, un caillot rouge. – Une meule qui brûle!
Kuno Raeber
(* 20. Mai 1922 in Klingnau; † 28. Januar 1992 in Basel)
Warten Kannst du nicht warten, bis das Grab über dir einstürzt, was klopfst du, was schreist du? Kannst du nicht warten, bis dir der Ball hart gegen die Brust stößt, was klopfst du, was schreist du? Kannst du nicht warten, bis dir das Kind mit dem schmutzigen Finger erstaunt übers Kinn streicht, was klopfst du, was schreist du? Kannst du nicht warten aufs feuchte Frühjahr, auf Kinder, auf Spiele, die dich zufällig befreien, was klopfst du, was schreist du? Kannst du nicht warten? (1962)
Aus: Kuno Raeber: Lyrik (Werke in 5 Bänden, Band 5). München, Wien: Nagel & Kimche im Hanser Verlag, 2002, S. 165
Ada Christen
(* 6. März 1839 in Wien; † 19. Mai 1901 in Inzersdorf)
»Dein Vers hat nicht das rechte Maaß,« So will man mich verweisen, »An Fluß und Glätte fehlt es ihm« – Und wie sie's sonst noch heißen. Sie zählen an den Fingern ab, Verbessern wohl zehnmal wieder; Ich leg' die Hand auf mein blutendes Herz: Was das sagt, schreib' ich nieder.
Quelle:
Ada Christen: Lieder einer Verlorenen, Hamburg (2. Aufl.) 1869, S. 20f
Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20004651839
Vor 60 Jahren, am 17. Mai 1962, wurde Matthias Holst geboren, der sich als Autor/Performer „Matthias“ BAADER Holst nannte. Er wurde nur 28 Jahre alt. Er schrieb, textete, sang und performte in Halle und Ostberlin. Auf dem Rücktitel des von Tom Riebe herausgegebenen Bandes „hinter mauern lauern wir auf uns“ steht über ihn:
Wenn der Wunsch nach angstfreiem geistigen Leben so gewachsen ist, dass er den Raum einnimmt, den sonst Resignation, Furcht oder Zaudern ausfüllen, dann kann eine unverwechselbare Literatur entstehen, die nicht die Anbetung von Schönheit, sondern das Anschreiben gegen den Zerfall des Subjekts zum Ziel hat. Die Texte von „Matthias“ BAADER Holst sind Überlebensrationen, sie sind Auffanglager und Archen für alles Diskriminierte und Ausgestoßene. Das einzigartig Rauschhafte, Schrille und Bedrohliche, das zutiefst Verstörende und doch hochgradig Bezaubernde seiner Wortkaskaden, Metapherngestöber und Assoziationsgeschwader, die ihnen eingeschriebene Verwüstung jeglicher Gewissheit und Ordnung – all dies lässt die Texte … auch heute noch unvermindert lebendig und aktuell erscheinen.
„Matthias“ BAADER Holst
(* 17. Mai 1962 in Quedlinburg; † 30. Juni 1990 in Berlin)
heavy metal/makarenko
acht jahre nach unserer gemeinsamen inhaftierung (hauptquartier golgatha-makarenko: gelitten gestorben auferstanden in den toten eines brennenden kaufhauses: des banats im jahr der panzer und barrikaden an meinem 6. geburtstag dem beginn eines u-boot kriegs zwischen mir und meiner seele der gesellschaft und dem einzelnen im verlies der familie) brach elvira mortadella ein in mein leben war die günderrode einer flasche grubenfusel zum einheitlichen verkaufspreis von 1,17 m eh wir einfuhren uns eingruben die stellung wechselten im sturz: auf den müllhalden der geschichte weiter halstücher trugen feten feierten unterm strich im traum: giftskandale eines sommers der torero werden will und aufgrund von todesangst als kfz-schlosser ausblutet ein bettnässer in carmens armen den hyänen betören: lamborghinis der mohr und die raben von london für eine bigband batistas und die „märchen aus 1001 nacht“ für de sades hyperion hält der sich verliebt in elvira mortadella diese heiraten will aber seinen ahnenpaß vergessen hat: im exil und wir trugen keine mütze im schulhaus unsre kahlgeschorenen köpfe leuchteten jedem freier einer unangemeldeten säuberung: heim
Aus: „Matthias“ BAADER Holst: hinter mauern lauern wir auf uns. Hrsg. Tom Riebe. Halle: Hasenverlag, 2010, S. 37
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