Frau

Josep Palau i Fabre

(* 21. April 1917 in Barcelona; † 23. Februar 2008 ebenda)

Frau

Ich kann dieses Feuer –
diese Rose in meinen Händen – nicht löschen.
Ich selbst hab sie gesucht,
und nun gebricht's mir an Wasser.

(ca. 1942)

Nachdichtung von Uwe Grüning, aus: Ein Spiel von Spiegeln. Katalanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Mit 7 Farbzeichnungen und 3 Collagen von Antoni Tápies. Katalanisch und Deutsch. Hrsg. von Tilbert Stegmann. Leipzig: Reclam, 1987, S. 127

Dona

No puc apagar aquest foc
– aquesta rosa entre les mans.
Jo mateix l'he cercat,
i ara no tinc prou aigua.

Ebd. S. 126

Lange Briefe

Judith Herzberg

(* 4. November 1934 in Amsterdam)

Briefe

Wir wussten nicht, als wir noch lange Briefe schrieben
auf Papier, dass wir die Letzten wären
die einander noch auf diese Weise liebten
mit sorgsam überlegten Worten
die wir meinten.

Aus: Judith Herzberg, Gedichte 1999-2024. Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby. Berlin: Rugerup, 2024, S. 47

Brieven

Wij wisten niet, toen wij nog lange brieven schreven
op papier, dat wij de laatsten waren
die nog op die manier van elkaar hielden
met langzaam overdachte woorden
die we meenden.

Ebd. S. 46

200. Todestag

Schon wieder ein klassischer Todestag, und ein runder dazu. Heute vor 200 Jahren starb George Byron. Ich weiß nicht, ob es eine aktuelle deutsche Werkausgabe des englischen Dichters gibt. Ich besitze nur verschiedene Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert. In einer fand ich diese launige und zugleich bissige Literaturkritik in Versen: 7 Werke der zeitgenössischen Literatur um 1816, „besprochen“ in 12 Wörtern.

Versicles

I read the “Christabel;”
Very well:
I read the “Missionary;”
Pretty – very;
I tried at “Ilderim;”
Ahem!
I read a sheet of Marg’ret of Anjou;”
Can you?;
I turned a page of Webster’s “Waterloo;”
Pooh! Pooh!
I looked at Wordsworth’s milk-white “Rylstone Doe;”
Hillo!
I read “Glenarvon,” too, by Caro Lamb;
God damn!

Das Gedicht entstand am 25. März 1817. Erstmals gedruckt wurde es 1830. Die „besprochenen“ Werke sind:

  1.  Christabel, etc., by S. T. Coleridge, 1816.
  2.  The Missionary of the Andes, a Poem, by W. L. Bowles, 1815.
  3.  H. Gally Knight’s Ilderim
  4.  Margaret Holford’s Margaret
  5.  Waterloo and other Poems, by J. Wedderburn Webster, 1816.
  6.  The White Doe of Rylstone, or the Fate of the Nortons, a Poem, by W. Wordsworth, 1815.
  7.  Glenarvon, a Novel [by Lady Caroline Lamb], 1816.

Zwei von den sieben Werken werden gelobt, der Rest ist schlecht, langweilig oder schrecklich. Der Knackpunkt des Gedichts ist das siebte Werk, der Roman Glenarvon von Lady Caro (Caroline) Lamb. Auf Lamb reimt Goddam. Caro Lamb schrieb das Buch nach dem Ende ihrer Affäre mit Byron – Glenarvon soll ein Porträt Byrons sein. Offensichtlich fand er es nicht gut getroffen. Hier die deutsche Version von 1856.

Lektüre bei einem Fieber. 

Ich las den "Christabel" –
Amüsabel!
Ich las auch alsdann den "Missionär,"
Nicht ganz vulgär!
Ich versuchte zu lesen den "Iilderim,"
Sehr schlimm!
Dann las ich in "Margarete von Anjou,"
Kannst Du?
Ich blickt' in "Scott's Briefe von Waterloo,"
So, so!
Ich las auch in Wordsworths Reimerei,"
Ei, Ei!

Aus dem Englischen von Franz Kottenkamp, aus: Lord Byron’s sämmtliche Werke. Ins Deutsche übersetzt von Mehreren. In 12 Theilen mit 11 Stahlstichen. Dritte, gänzlich umgearbeitete, verbesserte und vervollständigte Auflage. Vierter Teil. Stuttgart: Rieger, 1856 , S. 270

Wie man sieht, übersetzt Kottenkamp eine zensierte Fassung (die sich auch im Original im WWW findet), sie endet dort nach „Hillo“ in der drittletzten Zeile mit „&c. &c. &c.“ Die doppelte Affäre mit Lady Lamb und ihrem Buch wurde offenbar aus „Rücksichten“ auf lebende Personen (oder einfach auf Klatsch) weggelassen.

Aus der Ausgabe von 1856

Heftige Sehnsucht

Der japanische Dichter Fujiwara no Atsutada (906-943) gilt als einer der „36 unsterblichen Dichter“ Japans. Heute vor 1081 Jahren ist er gestorben. Eines seiner (zumindest in Deutschland) bekanntesten Gedichte ist in mehreren Anthologien japanischer Lyrik als einziges von ihm vertreten. Die Unterschiede sind so groß, dass man Mühe hat, sie für ein und dasselbe Gedicht zu halten. Ja, in der Sammlung „Japanischer Frühling“ von Hans Bethge (1911) sind zwei seiner Gedichte vertreten. Bei näherer Betrachtung komme ich zu dem Schluss, dass er zwei Versionen desselben Gedichts „nachgedichtet“ hat. Er übersetzte wahrscheinlich nicht aus dem Japanischen, sondern benutzte vorhandene deutsche Fassungen (er nennt Florenz, Enderling, Hauser, Kurth und Lange, die er „verwertet“ habe). Dabei hat er offenbar nicht bemerkt, dass es nur verschiedene Interpretationen desselben Textes sind.

Ich beginne mit einer neueren Ausgabe von 2009, die mit Originaltext und Kommentar ausgestattet ist. Danach die 2 Versionen von Bethge und eine von Manfred Hausmann (1951/1960).

Aimite no / nochi no kokoro ni / kurabureba / mukashi wa mono mo / omowazarikeri

Wenn ich mein Herz 
nachdem wir uns vereint
mit früher vergleiche
wie seicht waren doch alle
meine Liebesgedanken

Aus: Gäbe es keine Kirschblüten … Tanka aus 1300 Jahren. Japanisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Yukitsuna Sasaki, Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2009, S. 61. (Mehr über die Anthologie im Lyrikwiki). Kommentar:

Entstehungszeit: 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts. Gedichte mit ähnlicher Aussage gibt es viele, aber dieses ist wohl das berühmteste. Es wurde auch ins Hyakunin isshu aufgenommen.

Die Interpretationen weichen leicht voneinander ab. Die einen fassen den Hauptgedanken so: Verglichen mit früher ist mein Liebeskummer noch viel größer. Die andern so: Verglichen mit früher weiß ich erst jetzt, was wahre Liebe ist.

SEITDEM ICH DICH LIEBE

Seitdem ich dich liebe,
Vergleiche ich meine Gefühle
Und meine kühnen Gedanken
Mit jenen, die ich früher hegte.

Und ich erkenne,
Daß ich früher
Ganz gedankenlos
Und, ach, ganz fühllos war.

Hans Bethge: Japanischer Frühling. Nachdichtungen japanischer Lyrik. Leipzig: Insel, 1911, S. 63

GESTEIGERTE SEHNSUCHT

Sehr groß war meine Sehnsucht, eh ich zur
Geliebten kam. Doch jetzt, da ich bei ihr
Glückselige Zeit verbringen durfte, bin ich
Wohl ganz beschwichtigt und gestillt? O nein!
Viel mächtiger ist meine Sehnsucht nun,
Viel ungebändigter als je zuvor!

Ebd. S. 64

Was denkt meine Seele nun, 
da ich eine Nacht lang
bei der Geliebten war?
Noch nie hab ich mich so gesehnt,
denkt sie, wie jetzt. Noch nie.

Aus: Liebe, Tod und Vollmondnächte. Japanische Gedichte. Übertr. v. Manfred Hausmann. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1.-4. Tsd. 1951 – 46.-55. Tsd. 1960, S. 16

ich will gut werden in dieser Arbeit

Danae Sioziou

(Geboren 1987, lebt in Athen)

EINBRUCH

während ich meine Haustür aufschließe
denke ich, dass Dichtung ein Privileg ist
wie die viel zu teuren Spielsachen der Kindheit
oder deinen Lieblingssong zu hören, zum hundertsten Mal
unter optimalen akustischen Bedingungen
wie ein Kuss von der Liebe deines Lebens
wie Millionen glitzernder Ponys
wie Leben auf anderen Planeten
wie Scharen von Blitzen in der Ferne
wie der Honig, der sich gänzlich im Tee auflöst
und ich schreibe gerne Gedichte
wie ich gerne im Gras liege
Pudding mit Aprikosen esse, Hunde streichle
und auch wenn die Menschen nicht gerne Gedichte hören
ich mag diesen Klang
die Art, Wörter aneinander zu reihen
die Art, eine Tür aufzuschließen mit Schlüsseln
für ein einbruchsicheres Haus
ich schreibe gerne Gedichte
wie Katzen sich gerne in der Sonne lecken
und ich will gut werden in dieser Arbeit
will gut werden in dieser Arbeit

Aus: Danae Sioziou: Mögliche Landschaften. Gedichte. Aus dem Griechischen von Elena Pallantza und Peter Holland. Köln: parasitenpresse, 2024 (die nummernlosen Bücher), S. 55

Blind

Zum Welttag der Stimme (World Voice Day) ein Gedicht von Norbert Lange, gelesen mit der Stimme von Valeri Scherstjanoi.

>> BLIND<<

für ihre schönheit blind, muss blind gewesen sein;
vor leidenschaft fast blind, ich müsste denn blind sein!
der blind dem trieb zu bösen taten folgt, dass ich taub und blind,
bin ich denn blind? da wart und guck ich blind mich!
plutos, alt und blind. so ist er denn wirklich blind?
dann blind in der irre, zeus selber ist blind.

blind soll er wieder werden, der auf einem auge blind war.
dass du blind wärest, für seine eigenen angelegenheiten blind.
wenn schon, dann nur blind.
schwachsinnig ist der maulwurf von natur und blind.
blind entfährt die waffe der hand, blind in ihrer liebe zu iason;
dein unglück macht dich blind.

der stab ist blind, wo ich doch schwach nur sehen kann,
der ich blind mich bewege am stock, wart ihr blind.
jawohl, der soll blind sein! tritt auf, blind, wenn auch blind
blind gegenüber allen erfordernissen. nicht ich mache den jungen dir blind,
wenn auch blind, blind gewesen war. dass du blind bist:
da du so blind bist? blind, so blind, sie müssten denn selbst alle blind sein?

nicht eben blind; nicht viel besser als blind.
du bist blind an deinem seelenauge, ich hingegen sehe sehr gut.
wie ich höre, auch blind und taub? bin ich dir so blind als du mich siehst?
und zu allem dem noch lahm und beinahe blind.
du sollst blind gewesen sein, sagt man.
du bist, wenn ich nicht sehr blind bin, aus einem weißen stein

Aus: Norbert Lange: Das Schiefe, das Harte und das Gemalene. Kunstkammer. Wiesbaden: luxbooks, 2012, S. 68

ich sehe aus wie Thomas Bernhard

Clemens Schittko

ich sehe aus wie Thomas Bernhard 
aber ich bin nicht Thomas Bernhard
ich sehe lediglich so aus wie er
doch wie gesagt: ich bin es nicht
obwohl ich so aussehe ...
und deshalb auch Thomas Bernhard sein könnte
doch wie gesagt: ich bin es nicht
warum sollte ich auch Thomas Bernhard sein?
das ergibt doch überhaupt keinen Sinn
Thomas Bernhard ist schließlich tot
während ich noch am Leben bin
dieser Text ist der Beweis
und deshalb kann ich auch nur immer wieder sagen,
dass ich zwar wie Thomas Bernhard aussehe,
aber letztlich nicht Thomas Bernhard bin
ja, so ist das
ich bin nicht Thomas Bernhard
obwohl ich so aussehe wie er
doch wie gesagt: ich bin es nicht
ich sehe lediglich so aus
das ist aber auch schon alles
ansonsten gibt es nämlich keine Gemeinsamkeiten
THOMAS BERNHARD UND ICH. 
Thomas Bernhard ist Thomas Bernhard
und ich bin ich
so war es immer gewesen
und so wird es auch immer sein
deshalb sollte man jetzt gar nicht erst versuchen,
irgendwelche Zusammenhänge herzustellen
denn ich sehe zwar aus wie Thomas Bernhard
doch wie gesagt: ich bin es nicht
das ist doch eigentlich ganz einfach
ich vers[t]ehe daher nicht,
wie es Leute geben kann,
die das nicht verstehen
doch wie dem auch sei
die Hauptsache ist
dass ich zumindest weiß,
dass ich nicht Thomas Bernhard bin
obwohl ich so aussehe ...
ja, ich sehe so aus wie Thomas Bernhard
doch wie gesagt: ich bin es nicht
mehr ist zu dem Thema nicht zu sagen

Aus perspektive #118, 1/2024, S. 82

Kaum habe ich die Lampe ausgelöscht

Christine Lavant 

(* 4. Juli 1915 in Großedling bei St. Stefan im Lavanttal; † 7. Juni 1973 in Wolfsberg)

Kaum habe ich die Lampe ausgelöscht 
gehn meine beiden dummen Augen über
und eine Maus nagt unter meinem Bett.
Doch greift dann niemand, wie bei meinen Schwestern,
durchs Dunkel her und fragt: Bist du denn traurig? –
Und niemand stellt mir Mäusefallen auf.
Da wundern sich die Leute, daß mein Fenster
oft bis zum Morgenrot erleuchtet ist.

Aus: Christine Lavant, Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte (Werke in vier Bänden, Band 1). Göttingen: Wallstein, 2014, S. 527

Förderung / Fosterage

Seamus Heaney 

(* 13. April 1939, heute vor 85 Jahren, in Tamniaran bei Castledawson nordöstlich von Magherafelt, County Londonderry, Nordirland; † 30. August 2013 in Dublin)

Das Gedicht, das ich zum Anlass ausgesucht habe, berichtet, wie der ältere Dichter den Jungspund fördert. „Geh deinen eigenen Weg und denke an das, was ich dir erzählt habe.“

Schule des Gesangs 5. Förderung

Für Michael McLaverty

»Beschreibung ist Enthüllung!« Royal
Avenue, Belfast 1962,
Ein Samstagnachmittag; erfreut,
Mich, den Grünling der Sprache, zu treffen, packte er
Meinen Ellbogen. »Hör zu, geh deinen eigenen Weg.
Mach deine eigene Arbeit. Denk an
Katherine Mansfields Ich will erzählen
Wie der Wäschekorb knarrte ... jenen Ton des Exils.«
Aber zum Teufel mit Übertreibungen:
»Laß deinem Kugelschreiber nicht die Adern schwellen.«
Und dann, »Armer Hopkins!« Ich habe die Tagebücher,
Die er mir gab, mit Unterstreichungen, sein verbognes Selbst
Gehorcht ihrem Schmerz. Er bemerkte
Überall die Umrisse der Geduld,
Förderte mich und entließ mich mit Worten,
Die sich auf meine Zunge legten wie Oblaten.

Deutsch von Richard Pietraß, aus: Seamus Heaney: Die Amsel von Glanmore. Gedichte 1965-2006. Herausgegeben von Michael Krüger. Zweisprachig. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2011, S. 111

Singing School 5. Fosterage

For Michael McLaverty

›Description is revelation!‹ Royal
Avenue, Belfast, 1962,
A Saturday afternoon, glad to meet
Me, newly cubbed in language, he gripped
My elbow. ›Listen. Go your own way.
Do your own work. Remember
Katherine Mansfield – I will tell
How the laundry basket squeaked ...
that note of exile.‹
But to hell with overstating it:
›Don't have the veins bulging in your biro.‹
And then, ›Poor Hopkins!‹ I have the Journals
He gave me, underlined, his buckled self
Obeisant to their pain. He discerned
The lineaments of patience everywhere
And fostered me and sent me out, with words
Imposing on my tongue like obols.

Ebd. S. 110

Sonnengräber

Apti Bisultanov (* 1959 in Goitschu, Tschetschenien) ist ein tschetschenischer Dichter.

Seit Herbst 2002 lebt er im Exil in Berlin. Sein 5000 Einwohner zählendes Heimatdorf wurde im März 2000 von der russischen Invasionsarmee dem Erdboden gleich gemacht.

Er studierte Philologie und arbeitete als Philologe und Dozent. In der Zeit der Unabhängigkeit war er Vizepremier von Tschetschenien. Gegen die russische Armee kämpfte er als Partisan.

1992 erhielt er für sein Poem „In Chaibach verfasst“, das den Opfern der Deportation unter Stalin gewidmet ist, den tschetschenischen Nationalpreis. 

(…)

Ende März 2007 wurde sein Asylantrag zunächst abgelehnt. Als Grund hierfür wurde Rücksichtnahme auf die deutsch-russischen Beziehungen vermutet. Nach öffentlichen Protesten wurde Bisultanov schließlich doch noch Asyl gewährt. 

( https://de.wikipedia.org/wiki/Apti_Bisultanov )

Tod eines Freundes im Krieg

Das Licht der Lampe zittert
Ein Skalpell verletzt mein Ohr

Es zittern meine Wimpern
Ein Vogel zuckt und stirbt

Es zittern Stein und Asche –
Still wie im Sonnengrab *)

2001

Übersetzer Ekkehard Maaß. Mit freundlicher Genehmigung von der Facebookseite des Autors übernommen, wie auch der nachfolgende Originaltext.

*) Erinnernd an den Sonnenkult werden Gräber im Gebirge Sonnengräber (malkhasch keschnasch) genannt.

ДОТТАГӀА КХЕЛХИНЧУ ДИЙНАХЬ

меттахъхьов лампанан серло
лазадо цуо сан лерса

меттахъхьов сан цӀоцкъамаш а
тохалой чудужу олхазар

меттахъхьоь тӀулгаш а чим а
дуьне ду маьлха-каш санна

2000

Die tschetschenische Sprache wurde ursprünglich mit einer Version des arabischen Alphabets geschrieben. Zwischen 1925 und 1938 wurde ein lateinisches Alphabet benutzt, das 1938 durch ein kyrillisches ersetzt wurde. In der Phase der Unabhängigkeit in den 90er Jahren wurde erneut ein lateinisches Alphabet benutzt und nach Niederschlagung des Unabhängigkeitskampfes wieder das kyrillische.

Deutsches Roulette

Barbara Köhler

(* 11. April 1959, heute vor 65 Jahren, in Burgstädt; † 8. Januar 2021, heute vor 3 Jahren, 3 Monaten und 3 Tagen, in Mülheim an der Ruhr)

News

all diese halben lieben im nacken die vergangenheiten und deine hand warm sanft und wirklich wie ein traum die mich nicht beugt die mich nicht würgt die die angst nimmt vor aller hand zukunft wandel und handel im radio tanzt der tod über die kontinente während wir einen neuen erdteil entdecken die geographie unserer leiber voller verborgenheiten eine neue sprache kindlich und fromm nachrichten von uns und auf allen wellenlängen herz und kilohertz eine hymne von liebe und sterben der wetterbericht sagt kälte voraus und katastrophen du versprich mir nichts halbes versprich keine zukunft ich sage dir gegenwart

Aus: Barbara Köhler: Deutsches Roulette. Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991, S. 73

Das ist die Bienenstrophe

Margret Kreidl 

(* 2. Jänner 1964 in Salzburg) 

Strophen

Mund kommt von munden. Du schmeckst
den Duft von Holunderblüten. Honig tropft,
ein süßer Name liegt dir auf der Zunge.
Das ist die Bienenstrophe.

Aufschäumender Traum, ich schwimme
oben. Der Schaumschläger ist ein Tenor,
er trägt die Arie von den Zitronen vor.
Das ist die Seifenstrophe.

Immergrün ist die Farbe der süßen Erinnerung.
Du weißt, was das Blatt Papier will, es will
weiß sein. Wiederhole dich nicht.
Das ist die Schlüsselstrophe.

Der Vogel wird ins Spaltholz geschoben.
Es zwitschert. Der Vater liebt die Tochter.
Die Mutter ist tot. Erde im Ohr, Sarg ohne Chor.
Das ist die Holzstrophe.

Hier liegt das Fleisch in Dunkelheit. Wer
treibt es ins Licht? Lunge, Herz, Leber.
Die Nieren fehlen. Du isst dich selber.
Das ist die Fleischstrophe.

Ein Loch oben und eines unten. Ich suche
im Spiegel meinen Nabel. Der Satz hat
keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende.
Das ist die letzte Strophe.

Aus: Jahrbuch österreichischer Lyrik 2022/23. Bernhardt, Alexandra (Herausgeber). Wien: Edition Melos, Dezember 2023, S. 199

Polyglotten-Panik

Mátyás Dunajcsik

Aus: POLYGLOTTEN-PANIK ODER DIE SPRACHE DER VÖGEL

Fáj
A fülemüle fáj
A fülemüle füle fáj

Fáj
A fülemüle füle fáj
A fülemüle feje fáj
Foga fáj füle fáj
Wenn man eine Fremdsprache nicht versteht, 
wird es zum Vogelgesang für die Ohren.
Und wenn man langsam beginnt, sie sich anzueignen,
dann ist die Melodie schnell verloren.

Nur die Fremdsprachenlernenden haben
Zugang zu diesen beiden Welten.
Nur sie wissen, dass die Vögel nicht singen,
sondern kreischen vor Schmerzen.
Meine Damen und Herren, was Sie aus den Lautsprechern hören, bedeutet Folgendes auf Ungarisch:
Weh
Die Nachtigall tut weh
Die Ohren der Nachtigall tun weh

Weh
Die Ohren der Nachtigall tun weh
Der Kopf der Nachtigall tut weh
Ihre Zähne tun weh, ihre Ohren tun weh
Weh ist ein Wort, das ich aus den Opern von Wagner 
gelent habe. Man sagt es, wenn man gleichzeitig singen 
und kreischen muss, wenn in einer weiblichen Stimme, die 
in den Weltgeist abfließende Männerhysterie ihren
Höhepunkt erreicht. Wenn die Sprache fehlschlägt und
kaputt geht. Aber wie schön das Kaputtgehen ist, wenn
man endlich ein Vogel werden kann.
Oder?

Lexical anxiety occurs when the subject lacks the vocabulary resources for satisfactory self-expression, causing a discrepancy between the individual’s abilities and the internal image of the self. On these occasions, the subject can experience in a first-hand, almost corporal manner the famous statement of Ludwig Wittgenstein, that die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Language, and therefore the world, becomes a straitjacket one size too small, as the subject feels as if be or she has been unrightfully reduced to a lesser life-form, like that of a toad, a serpent, or a bird.

                    Wovon man nicht sprechen kann, 
darüber muss man kreischen.
Guten Morgen, liebe Studenten und Studentinnen, 
ich heiße Frau Rheingold und ich bin eure neue
Sprachlehrerin! Wir beginnen mit ein paar
sehr einfachen Diskussionsthemen,
damit wir uns ein bisschen besser kennenlernen können.

(…)

– Erkläre, warum deine Muttersprache
in deiner jetzigen Lebenssituation völlig nutzlos ist!
– Úúúúúúúúú, úúúúúúúú, úúúúúúúú, úúúúúú...

Die Muttersprache weint in der Ecke, während die neuen Gäste
die Betten machen. Az anyanyelv a sarokban sír, amíg az új
vendégek megágyaznak.

Mein Volk ist ein Gespenst, das in Europa umgeht.
Es ist nie wirklich da, wo es ist.
Dans ma bouche, il y a cing langues qui tournent.
Quelle surprise, que j'ai malà parler.
In meinem Mund drehen sich fünf Zunge.
Kein Wunder, dass es mir beim Sprechen wehtut.
Weh
Die Nachtigall tut weh
Die Ohren der Nachtigall tun weh
Der Kopf der Nachtigall tut weh
Der Hals der Nachtigall tut weh

Weh ist ein Wort, das ich aus den Opern von Wagner gelernt
habe. Das andere Ding, dem ich in Wagners Opern begegnet
bin, dass es der beste Weg ist, Vogelgesang zu verstehen,
Drachenblut zu kosten, so wie Siegfried, nachdem er Fafner
erschlagen hat.

Ei, bist du ein Thier, 
das zum Sprechen taugt,
wohl liess' sich von dir, was lernen?
Hier kennt einer das Fürchten nicht:

kann er's von dir erfahren?
Aber ich bin kein altnordischer Held, 
sondern ein Intellektueller aus Osteuropa:
das einzige, was mich die Jahrhunderte
erfahren lassen haben, ist gerade das
Fürchten. Wir haben so viele Synonymen
dafür, wie die Isländer für Schnee.

Félelem – snjór. Rettegés – sna. Iszonyat – mjöll. Ijedtség – fönn.
Aggodalom – drífa. Rémület – skafl. Ijedelem – glæra. Riadalom –

fjúk. Reszketés – bálka. Szorongás – hörsl. Borzalom – bjarn. Félsz –
svell. Majré – bylur. Para – hregg. Pánik – él.

Jede Sprache ist zwangsjackenschön und
schneeballblütenschwer.
Jede Sprache ist ein anderer Planet,
und man muss um den Sauerstoff kämpfen, um zu atmen.
I've seen things you people wouldn't believe.
Attack ships on fire off the shoulder of Orion.
I watched C-beams glitter in the dark
near the Tannhäuser Gate.
I have heard trolls sing poetry
on faraway glaciers.

(...)

Aus: Mátyás Dunajcsik: Verlorene Gedichte. Mit Zeichnungen von Krizbo. Köln, Leipzig, Olsztyn: parasitenpresse, 2023 (Die nummernlosen Bücher), S. 35-41

Mátyás Dunajcsik. Polyglott. Punk. Poet. Ex-ungarischer und neudeutscher Autor. Geboren 1983 in Budapest und lebt seit 2023 in Berlin. Wanderdichter in Emigration seit 2074. MA in Ästhetik (Kunsttheorie) und französischer Literatur. (Ebd.)

An eine Stadt, die schlief

Camill Hoffmann 

(auch: Kamil Hoffmann; geboren 31. Oktober 1878 in Kolín, Österreich-Ungarn; gestorben Oktober 1944 im KZ Auschwitz) war ein böhmisch-tschechoslowakischer Journalist und Schriftsteller. https://de.wikipedia.org/wiki/Camill_Hoffmann

Drei kleine Balladen, III

Ein Tor schlug zu, der Mond hing schief,
Der Brunnen schlief, die Stadt war tot,
Der Ringplatz schlief, die Gasse schlief,
Der Mond hing schief und rot.

Ein Schrei zerriß die tiefe Ruh,
Ein Mensch, der heiß um Hilfe rief.
Der Mond hing rot, ein Tor schlug zu,
Die Stadt war stumm und schlief.

Der Schlaf der Stadt war tief und gut.
Ein Mensch in Not um Hilfe rief.
Vom Monde fiel ein Tropfen Blut
Auf eine Stadt, die schlief.

Aus: Camill Hoffmann (1878-1944). Zuflucht. Späte Gedichte und Erzählungen. Mit einem Nachwort herausgegeben. von Dieter Sudhoff (Vergessene Autoren der Moderne XLVIII. Herausgegeben von Marcel Beyer und Karl Riha). Universität-Gesamthochschule Siegen, Siegen 1990, S. 8

lösungsansatzweise

Tanja ‚Lulu‘ Play Nerd

"Es ist nicht meine Sache, zu beschönigen oder zu provozieren, sondern meinen Teil 
an Erfahrungen und Einsichten zu liefern. Aber man entgeht weder sich selbst noch
der Zeit. Noch vor dreißig Jahren habe ich mehr Leidenschaft in meine Schriften
gelegt, vor fünfzig Jahren mehr Hoffnung oder auch Naivität. Heute weiß ich, daß
vom Menschen und seiner Geschichte nichts zu erwarten ist."
Claire Goll: Ich verzeihe keinem, 1976


Tanja 'Lulu' Play Nerd, 3.4.2024
© kunstyoga.de & weltlyrik.de

lösungsansatzweise

das allergrößte und allerletzte rätsel
der literatur lautet: warum...
wurden bis heute noch keine genialen
reime verfasst durch deren lektüre
die welt gerettet werden kann? oder
anders gefragt: worüber...
muss eine dichterin schreiben damit
es die herzen der leser derart berührt
dass sie sich alle sofort und für immer
umarmen wollen und in jedem
mitmensch die antwort auf
die ultimative sinnfrage sehen?
handelt ein solches gedicht von
der luft die alle atmen? oder
vom reis den alle kochen? oder
müsste ich über die wohnungen
schreiben in denen alle
auf bessere zeiten warten? die autos
in denen alle zur arbeit fahren?
die bücher die alle (nicht) lesen?
und die liebe die alle machen? oder
den tod den alle verdrängen?
alle menschen sind tun denken
glauben & erhoffen zu 99% dasselbe!
trotzdem ist mir kein gedicht bekannt
das alle menschen so begeistert
dass sie es auf ihre schilder schreiben
und bei demonstrationen für
"mehr menschheit" skandieren
sind wir womöglich unfähig?
einfach schlechte dichter? oder
fallen uns die richtigen worte
noch nicht ein weil die zeit noch
nicht dafür gekommen ist? aber
wie viele jahrhunderte soll es noch
dauern bis der erlösende reim über
uns kommt? wie viele autoren müssen
noch über die 1% hürde springen um
etwas brauchbareres zu formulieren
als all die schöne poesie die in den
zerbombten bibliotheken verstaubt?

Erscheint in der Gesamtwerkausgabe "LYRIKVIRUS - NEUE WELTLYRIK ENGAGIERTER EMOTIONALITÄT", BoD 2024