Du übertreibst

Mirela Ivanova 

(Мирела Иванова, geboren am 11. Mai 1962 in Sofia)

Nein

–  Immer mehr wird die Vernunft zur Erdbebenzone, 
die Risse im Denken sind keine Metapher.

–  Du übertreibst.

–  Die Haut reißt auf in gräßlichen Schrunden, 
wenn die Verzweiflung keinen anderen Ausweg findet.

–  Was jammerst du!

–  Ausgeschlossen vom Leben – das ist die Wahrheit – 
erschlagen wir einander um ein Stückchen Brot.

–  Hör auf.
Ruf die Wahrheit nicht zum Zeugen an.
Begreif doch – 
sie mag die Lebendigen nicht.

Aus dem Bulgarischen von Norbert Randow, aus: Mirela Ivanova: Einsames Spiel. Gedichte. Heidelberg: Wunderhorn, 2000, S. 13.

In eigener Sache

Wenn Sie diesen Text nicht vollständig lesen können, bitte Nachricht an info@michaelgratz.de. Seit gestern erreichen mich Berichte, dass die Mail an Abonnenten dieser Seite nur aus einer oder zwei Zeilen besteht. Ich muss dazu sagen, dass ich das nicht sehen kann und auch nicht wissen kann, wen und wie viele es betrifft. Ich verschicke keine Mails. Ich schreibe nur die täglichen Nachrichten auf http://lyrikzeitung.com, und das System, also WordPress, verschickt die automatisch an Abonnenten. Abonnementanfragen gingen nicht an mich, sondern direkt an WordPress, ich kenne die Mailadressen nicht. WordPress sagt mir nur, dass 2573 Personen diese Seite abonniert haben. Alle Nachrichten gehen außerdem automatisch an Twitter (@gratz13) und theoretisch an die Lyrikzeitungseite bei Facebook. Letzteres funktioniert seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr, obwohl ich täglich die Meldung erhalte, der Link sei an Twitter und Facebook gesendet worden. Sieht für mich so aus, als stecke eine Politik von WordPress dahinter, aber welche? Wollen sie ihre Kunden vergraulen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die Reichweite der Lyrikzeitung durch diese kafkaesk unsichtbaren Maßnahmen (oder irgendwelche technischen Änderungen) drastisch eingeschränkt wird. – Bis heute habe ich keine Nachricht erhalten, ob sie irgendwelche neuen Bezahlmodelle anbieten wollen oder die technischen Bedingungen ändern. Es wäre hilfreich, wenn alle, die es betrifft und die weiterhin ein tägliches Gedicht per Mail erhalten wollen, mir das per Mail anzeigen.

Das Gedächtnis und die Hand

Edmond Jabès 

(* 14. April 1912 in Kairo; † 2. Januar 1991 in Paris)

Mit beiden Händen

IV

    Der liebkoste Leib läßt die Hand 
erblühn. Der Faust fehlt die Kosung; fehlt    auch 
die Feder.
    – Die Feder lockert die Hand.




    Die Hand öffnet sich der Vokabel, öffnet 
sich der Distanz.

V

   Die Feder ist der Dolch. Die Hand läßt 
bluten;
    blutet.



    Schreibt man mit dem Blut der Vokabel, das 
mit dem eignen vermengt ist?

Aus: Edmond Jabès, Das Gedächtnis und die Hand. Aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold. Münster: Kleinheinrich, 1992 (unpag.)

Edmond Jabès wurde 1912 in einer frankophonen jüdischen Familie in Kairo geboren. Er studierte in Paris und kehrte nach Ägypten zurück. 1956 wurde er während der Suezkrise als Jude aus seinem heimischen Ägypten ausgewiesen und ging nach Frankreich. 1987 wurde er mit Frankreichs Grand Prix national de la poésie ausgezeichnet.

Maelstrom

Alexandra Bernhardt

maelstrom

geh dein selbst dich 
tragen auf dein boot 
die planken bespringe 
die bohlen trage die 
rahen fasse die winde 
fange zieh ein dich 
ins gestern den alten 
nimmerfisch zieh ein 
an land die gedärme 
nimm aus dich nimm 
ein das werg verfüg 
dich kalfater dich matt 
verhol und vertäu dich 
dann kreuz und schere 
die segel laß killen die 
kimm sich krümmen 
bis auf sich neigt die 
welt am abschott

Aus: Alexandra Bernhardt, Schwellenzeit. Von Honig und Mohn. Wien: Edition Melos, 2022, S. 71

ISBN 978-3-9505384-3-4.

Auf dem Zeilensprung

Richard Pietraß

Hundewiese

Tag um Tag gehe ich mit meinen Hunden, den Gedichten.
An loser Leine tragen sie den pendelnden Maulkorb
Den ich ihnen verpasse, erlasse, jagen sich im aufgewirbelten 
Staub. Reiten, streiten um Liebesknochen. Versuche ich 
Mein Sinnsüppchen zu kochen, wedeln sie mit den Endreimen.
Vers bei Fuß, halte ich sie auf dem Zeilensprung. Sie lecken 
Mir den Wurstmund, betteln um jeden Bissen. Heben sie 
Nicht gerade das Bein, graben sie mir Löcher in den Bauch
Parieren aufs Wort.

Aus: Ostragehege. Zeitschrift für Literatur und Kunst. Heft 100 (II/2021), S. 79

Illusion

Richard Anders

(* 25. April 1928 in Ortelsburg, Ostpreußen; † 24. Juni 2012 in Berlin)

Illusion

Das Martinshorn
bringt mir die Straße ins Zimmer

Ich halte mitten in der Zeile an 
und lasse Blaulicht
an meiner Poesie vorbei

So nähre ich die Illusion 
sie nütze etwas
wenn es irgendwo brennt

Aus: Richard Anders, Über der Stadtautobahn und andere Gedichte. Berlin: Oberbaum, 1985, S. 9

Karl Lappe 250

Wer kennt Karl Lappe? Schiller hat ihn gedruckt, wer kennt Schiller? – Der erfolglose Dichter fällt nach seinem Tode in die Gegend seiner Herkunft zurück. Das gilt sogar für so manchen, der in den Metropolen Erfolg hatte und schnell vergessen wurde. Wie viel mehr noch für den, der die heimische Gegend gar nicht erst verlassen hat.

Karl Gottlieb Lappe wurde am 24. April 1773 in Wusterhusen bei Greifswald geboren, er studierte in Greifswald, lebte in Pütte bei Stralsund und starb am 28. Oktober 1843 in Stralsund. Ein pommerscher Heimatdichter. Zum Vierteljahrtausend habe ich ein paar Stückchen aus den Prosagedichten ausgesucht.

Was ich singe und nicht singe.

(Frei nach Baggesen.)

Ich singe nicht von Kampf und Krieg, nicht von den Heldenthaten des Schlachtfeldes. Meine Muse wird leichenblaß und verkriecht sich vor Schwert und Schild. Wann der Säbel klirrt und die Lanze pfeift, wann der Tod über zerstörtem Leben wandelt, dann schweig‘ ich.

(…)

Ich singe nicht den Preis der Monarchen. Auf meinem niedrigen Standpunkte kenn‘ ich sie kaum, kann über ihren hohen Beruf keines Urtheils mich erdreisten. Ihre Weisheit und Güte wird des Ruhmes nicht ermangeln; meines Weihrauchs begehren sie nicht, darum schweig‘ ich.

(Karl Lappes sämmtliche poetische Werke. Fünfter Theil. Rostock: Oeberg, 1836, S. 67/69)

Für das Vaterland

(…)

Für das Vaterland leben, ist auch Verdienst; doch ist es dunkel und schwer, ein langer bitterer Kampf: täglich und stündlich will der Kelch getrunken sein. Mühe dich ab in herber Pflicht, Tag aus, Tag ein, wie das knechtische Uhrwerk; nimm, was am Lichte dich mühte, mit in die Träume der Nacht; strebe mit redlichem Eifer, fruchtlos, verkannt, verspottet, vergessen. – Wenn dann das Ruhmgeschrei dich umwirbelt, das dankbare Vaterland seine Helden vergöttert, seine großen Männer belohnt: Da lege ruhig die Hand auf dein Herz, und stimme neidlos mit ein, in reiner Liebe deines Vaterlandes.

(Karl Lappes sämmtliche poetische Werke. Vierter Theil. Rostock: Oeberg, 1840, S. 59)

An einen Kritiker

David Martin

(Australischer Schriftsteller, geboren am 22. Dezember 1915 als Lajos oder Ludwig Detsinyi in einer jüdischen Familie in Budapest, gestorben am 1. Juli 1997 in Beechworth, Victoria)

TO A CRITIC

You love to play God, 
To toy or to praise, 
To brandish your rod, 
To destroy and to raise.
But the Lord took the dust
And made it a man,
While you earn your crust 
By the opposite plan.
AN EINEN KRITIKER

Du spielst gerne Gott, 
Du tändelst, du lobst, 
Du schwingst deinen Stock, 
Du erhebst oder tobst.
Doch Gott nahm den Staub 
Und macht' ihn zum Mann.
Aber du, mit Verlaub, 
Machst's umgekehrt dann.

Deutsch von Curt und Maria Prerauer aus: Zeitgenössische australische Lyrik. Englisch-Deutsch. München: Hueber, 1961, S. 128.

(Ich habe mir erlaubt, in der letzten Zeile „Machest’s“ zu „Machst’s“ zu verkürzen.)

David Martin war ein australischer Romanautor, Dichter, Dramatiker, Journalist, Herausgeber, Literaturkritiker und Dozent. Er benutzte auch die Namen Louis Adam und Louis Destiny und nahm nach seinem Umzug nach England den Namen David Martin an.

Martin wurde in Budapest geboren, erhielt seine Ausbildung aber in Deutschland. Er verließ Deutschland 1934 und verbrachte einige Zeit in den Niederlanden, Ungarn und Palästina. Im Jahr 1937 reiste er nach Spanien, wo er während des Spanischen Bürgerkriegs als Freiwilliger im Sanitätsdienst der Internationalen Brigaden der Spanischen Republikanischen Armee diente.

1938 ging Martin zu seinem Vater nach London und arbeitete in dessen Bekleidungsfabrik, bevor er 1941 nach Glasgow zog, wo er als Korrespondent für den Daily Express arbeitete. Im Jahr 1941 heiratete Martin Elizabeth Richenda Powell, Urenkelin der Quäkerin Elizabeth Fry. Sie bekamen einen Sohn, Jan. Martin kehrte nach London zurück und arbeitete bis 1944 für die BBC. Von 1945 bis 1947 war er Literaturredakteur von Reynold’s News. Im Jahr 1948 reiste er als britischer Korrespondent für den Daily Express nach Indien.

Ab 1950 ließen sich Martin und seine Familie in Australien nieder, in Melbourne, wo er als freier Journalist und Redakteur der Australian Jewish News zu arbeiten begann. Er trat 1951 der Kommunistischen Partei bei, war bis 1956 aktiv und blieb bis 1959 Mitglied, als er aufgefordert wurde, auszutreten. Er hatte wöchentliche Kolumnen zu aktuellen Themen in der Free Press (1951-52) und dem Sunday Observer (1969-71) und war Auslandskorrespondent für die indische Zeitung Hindu (ca. 1946-67) und für die kanadische Zeitung Montreal Star (ca. 1966-69). Darüber hinaus verfasste er eine Vielzahl von Artikeln, Kurzgeschichten und Rezensionen für Zeitungen und Zeitschriften, darunter Overland, Meanjin, Southerly und Quadrant, die ein breites Spektrum von Themen abdeckten.

1988 wurde Martin für seine Verdienste um die australische Literatur zum Mitglied des Order of Australia ernannt. 1991 wurde er mit dem Patrick White Award ausgezeichnet und 1996 erhielt er den Emeritus Award des Literature Fund of the Australia Council.

Einer seiner Enkel, Toby Martin, ist der Gitarrist und Frontmann der Rockband Youth Group.

Übersetzt mit http://www.DeepL.com/Translator aus der englischsprachigen Wikipedia.

Wohin ist der Krieg gegangen

Ursula Maria Wartmann

In Stellung

Wohin ist der Krieg 
gegangen fragt das Kind
der Himmel schäumt seit Tagen 
in ruhigem milchigem Weiß und 
das Kind schaut über 
das blühende Feld legt
den Armstumpf über die Stirn 
zum Schutz vor hellem Himmel
kneift es die Augen zu Schlitzen
zu so ruhig sagt das Kind aber wo ist er 
der Krieg liegt im Graben in Stellung 
die Stiefel gewichst die Bajonette
geschärft doch das sagt niemand 
dem Kind hat genug gesehen 
und erlebt soll nun glücklich sein.

Aus: Ursula Maria Wartmann: Am Ende der Sichtachse. Gedichte. Dortmund: edition offenes feld, 2021, S. 88

Pure Geometrie

William Totok 

(* 21. April 1951 in Comloșu Mare, deutsch Groß-Komlosch, Rumänien)

notizen zu einem eventuellen gedicht

heuduftend liegen die felder vor uns 
und atmen wind
darauf wachsen blumen in den tag 
lange zeit hinkten die beispiele nach 
dann wurden wir durch das immer 
täglicher werdende brot 
mehr und mehr vergewaltigt

späte stimmen reisen durch
junge wunden
unsere ideen sind
pure geometrie

Aus: die bewegung der antillen unter der schädeldecke. junge rumäniendeutsche lyrik zwischen 1975 und 1980. Eine (historische) Anthologie herausgegeben von Walter Fromm. Erweiterte, kritische Neuauflage 2022 mit einem einleitenden Essay von Prof. Dr. Waldemar Fromm und einer soziokulturellen Kontextualisierung von Prof. Dr. Anton Sterbling. Ludwigsburg: Pop, 2022, S. 113

William Totok war Gründungsmitglied der „Aktionsgruppe Banat“ (1972–1975). Wegen „Verbreitung staatsfeindlicher Gedichte“ war er 1975 bis 1976 inhaftiert. Seit 1987 lebt er in Berlin.

Stimme der Ochsenheit

Er galt in der DDR als Klassiker, wurde rezitiert in Schulen und Festsälen. Aber der größte Teil seines Werks wurde vor der Gründung der zwei deutschen Staaten geschrieben. Es ist ein Stück nach 1945 auf zwei Staaten aufgeteilte Geschichte. Heute vor 70 Jahren ist Erich Weinert gestorben.

Erich Weinert 

(* 4. August 1890 in Magdeburg; † 20. April 1953 in Ost-Berlin) 

Ein Ochse meldet sich zum Wort

Verehrte Anwesende, lassen Sie mich 
Ein bescheidenes Wort in die Waagschale werfen!
Ich finde es unverantwortlich, 
Die Gegensätze im Volk zu verschärfen.

Ich bin nicht von der modernen Art, 
Ich habe noch meinen deutschen Glauben 
Und schlichten Ochsenverstand bewahrt.
Den kann man mir Gott sei Dank nicht rauben.

Sie vertreten heute so radikal
Umsturz und Auflehnung gegen das Schlachten.
Ich meine, man sollte die Dinge mal 
Von einer höheren Warte betrachten.

Den Schlächterstand und den Ochsenstand
Gab es zu allen Zeiten auf Erden:
Sie sind geschaffen, fürs Vaterland 
Zu schlachten und geschlachtet zu werden.

Und wenn der Schlächter sein Banner entrollt, 
Dann müssen wir Ochsen zu sterben wissen!
Das hat die Vorsehung so gewollt,
Vor der auch wir Ochsen uns beugen müssen.

Nur eine gottverlassene Partei
Bezeichnet die heilige Sache mit Morden.
Und außerdem ist die Schlächterei
Doch heute wirklich human geworden.

In dieser zivilisierten Zeit
Hat jeder Schlächter seinen Betäuber.
Was tun die nicht für die Ochsenheit!
Und so was nennen Sie Mörder und Räuber?

Nein, freiwillig gehen wir in den Tod!
Sie treffen mich nicht mit Ihrem Gelächter.
Ich bin ein Ochse von altem Schrot 
Und stehe in Treue zu meinem Schlächter!

1932

Aus: Poesiealbum 5. Erich Weinert. Berlin: Neues Leben, 1968, S. 4f

Der Turm

Alexandra Dust-Wiese

(* 15. April 1923 in Rostock, † 25.5.1981 in Schneverdingen)

Der Turm

Zwei schmale Bäume winden sich zum Licht.
Mit Gitteraugen starrt das Zellenhaus 
auf harten Kies, der durch den Asphalt bricht.
Die Mauern löschen jeden Seufzer aus.

Der Hof kennt keine Weite. Wolkenfetzen 
zerreißen in den Pfützen wie in Tränen.
Sie gleichen armen Seelen, die sich hetzen, 
um zu verwehen. Matt, mit blassem Gähnen,

hat sich die Sonne hinters Dach gelegt.
Die Hoffnung stirbt wie ein zertretener Wurm.
Da ragt aus Stein und Gittern, unbewegt 
von Sturm und Stille, strebend auf der Turm!

Er hat Geheiß, hinauf ins Licht zu steigen 
und einen weiten Blick ins Land zu tun.
Er macht sich alle Schwere ganz zu eigen, 
um dann erlöst in Klarheit auszuruhn.

Auf Wolkenwacht weiht er dem Blitz sein Haupt, 
steil überragend Enge, Angst und Stein.
Er ragt, wenn man ihn auch zerschmettert glaubt, 
denn er ward hingestellt, um Turm zu sein!

Zuchthaus Hoheneck, Oktober 1950

Aus: Alexandra Dust-Wiese: … und schreie in den wind … Gedichte aus Hoheneck. Böblingen: Tykve, 1987, S. 7

Am 18. Oktober 1949 wurde Alexandra Wiese mit ihren zwei Brüdern im Zuge von Massenverhaftungen unter politischen Opponenten von den sowjetischen Besatzungsbehörden verhaftet. Am 1. April 1950 wurden sie und ihr Bruder Ottfried zu dreimal 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, ihr anderer Bruder Friedrich Franz zum Tode. Sie kam in das berüchtigte Frauenzuchthaus Hoheneck im Erzgebirge. 1951 wurde ihre Mutter wegen »Spionagetätigkeit« verhaftet (sie hatte sich hartnäckig nach dem Verbleib ihrer drei Kinder erkundigt), sie wurde wie auch ihr von der Todesstrafe »begnadigter« Sohn Friedrich Franz für 25 Jahre nach Sibirien deportiert. Alexandras weitere Stationen waren die Zuchthäuser Brandenburg und Halle/Saale. Am 15. November 1956 wurde sie plötzlich auf Grundlage eines Präsidiumserlasses des Obersten Sowjets der UdSSR freigelassen. Auch die Mutter und die anderen Kinder kamen in der »Tauwetterperiode« zwischen Stalins Tod und der ungarischen Revolution vom Herbst 1956 frei. Im Januar 1957 durfte sie in die Bundesrepublik ausreisen. Am 25. Mai 1981 verstarb Alexandra Dust-Wiese in Schneverdingen. Erst am 29. Juni 1996, mehr als 15 Jahre nach ihrem Tod, wurde sie von den nunmehr russländischen Behörden rehabilitiert.

Ort statt Ich

L&Poe Journal #03 | Betrachtung und Kritik

Konstantin Ames

Schweizer Können bei Elisabeth Wandeler-Deck und Walter Fabian Schmid

Die Idee eines Schreibens, das das Denken aufzeichnet – statt nur gediegene Resultate abzubilden – war bereits vor hundert Jahren dem mittlerweile wieder als Skandalkünstler geltenden Hugo Ball einen Eintrag wert in sein später unter dem Titel ‘Sturz aus der Zeit’ publizierten Diarium, nämlich als „Kunst und den Kunstgesetzen untergeordnet zu sein: falls man seine Aufmerksamkeit dahin lenkt, gewisse Gedanken und Gedankenreihen aufzuschneiden; Grenzen zu ziehen; nur gewissen Wahrnehmungen Raum und Stoff zu geben, andere zu vermeiden.“ (Eintrag vom 7. September 1917)

Vom Stadtrand Zürichs aus setzt Elisabeth Wandeler-Deck diese Überzeugung Balls um. Soviel vorweg: Das Ergebnis, aller dekonstruktiven Eristik zum Trotz, ist etwas, das oberhalb des Arbeitsjournals und des Vorlasses angesiedelt werden kann; eine Selbsteinordnung vermeiden Verlag und Autorin. Mit ‘Antigone Blässhuhn’ wurde ein neues Genre kreiert: Das Werkbuch. Die Affinität zu sprachlichen Suprasegmentalia ist betrieblicherseits spätestens mit den zahlreichen Würdigungen für Ulf Stolterfohts „fachsprachen“-Serie erkennbar salonfähig. Über der Heroisierung wurde ein bisschen vergessen, dass neben der normierenden Kraft des faktischen Vokabulars auch eine viel zentralere Normalisierung in Angriff genommen werden kann, Wandeler-Deck lässt es im barockisierenden Titelzusatz „Alphabet so nebenher“ anklingen.

Es handelt sich allerdings nicht um writer’s literature, wie das 2018 vorgelegte Inselbuch ‘Visby infra-ordinaire’. Schon die Grabbeigabe für Wandeler-Decks Antigone, das Blässhuhn, zeigt die Verbundenheit mit einer oft unterschätzten Tradition, für die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Christian Morgenstern wichtig war, dessen Poem ‘Das Huhn’ in der Bahnhofshalle den Wert des Störfaktors unterstreicht. Auch Antigones Blässhuhn ist ein Anti-Prinzip zu verdrängender „Kommunikationsvermeidungskommunikation“ (Luhmann), und obendrein eine Ausgestaltung der Morgensternschen Sinnfiguren ‘Golch und Flubis’. All das steht im Zeichen der Ritualkritik: „Weil die Schrift,“ wie es bei Wandeler-Deck heißt, „ständig nach dem Pentimento sich sehnt.“ Was wie eine Entschuldigung für Genre-Mixturen klingt, ist nichts weniger als die Rechtfertigung für eine großangelegte Revision eines Grundpfeilers des uns prägenden Kulturraums. Das Alphabet und die mit der Alphabetisierung verbundene Zurichtung des Kindes steht für Konformitäten aller Art, denen die Autorin, laut Klappentext „ursprünglich Architektin und Soziologin“  durch „Grenzüberschreitungen“ begegnet.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sind diese vom Wohnort Affoltern ausgehenden Affronts direkt an eine gedachte Leserschaft adressiert und kommentieren das auktoriale Tun. Zum ersten ist ein ausgiebiges Namedropping festzustellen, inklusive Widmungen (würdigend wie äffend) und Selbstzitaten; damit in Verbindung steht eine randomness als Lese- und Lebensprinzip, d.h. manche Zitate werden nachgewiesen, manche Erwähnungen werden als Loops und Iterationen eingespeist, und angereichert (und in einer mitlaufenden poetologischen Reflexion überprüft). Wiederum andere, ebenso einschlägige, Zitatpassagen stehen vereinsamt da. Gegenüber Lesern wird ein oversharing geübt, das als Entprivatisierung legitimiert wird.

Die geschichtsphilosophische Denkfigur der Theodizee, und deren Brisanz nach dem Erdbeben von Lissabon (1755), werden angetippt, und sofort kontrastiert mit einem vergleichbaren außereuropäischen Ereignis, aber nichts davon wird explizit verhandelt. Über den Verweis auf kollektive Poetiken, entwickelt in Zusammenarbeit mit Li Mollet und Wolfram Malte Fues unter dem Titel ‘Erzählen macht Sinn’, kommt dann doch wieder so etwas wie begründeter Stolz aufs Werk, aufs Eigene, inmitten der Ent-Werkung, zum Vorschein. Das wirkt passagenweise kokett („man ist ja immer irgendwie elf, Elke Erb“), schnell wird aber klar, dass man Teil eines Klischee-Voodoos ist. Neben der tragisch missverstandenen Antigone finden sich eine Reihe weiterer anzuprobierender Misfits-Kostüme: „ich liegt da und wird zu einer Oblomow. Da liege ich, ich kann nicht anders.“ Und wenige Seiten nach diesem Luther-Gontscharow-Rimbaud-Mashup, findet sich ein Hinweis auf die Bearbeitung des Antigone-Stoffs von Jean Anouilh. In dessen Drama (EA: 1944) besteht die Protagonistin auf dem Vollzug der Todesstrafe an ihr gegenüber dem verbürgerlichten Gewaltherrscher Kreon. In ähnlicher Weise scheint es der Autorin um die zuverlässige Erzeugung von Reaktanz bei den Lesenden zu gehen, etwa wenn es heißt:

r-02/ umgarnen, d.h. was hier als Folge von Notizen erscheint, kann Gerüst zu einem grösseren Text werden, indem ich Teile herauskopiere und aber mit dem Ort, wo sie ihren Anfang nehmen, verknüpft lasse. Ich fand keine Zeit. Beliebig einen ganzen Ablauf hernehme und allmählich erweitere, dehne. […] Gibt es da einen Trick, den ich nicht kenne.

Wer meint, mehr situationistischer Eifer – der vollständige Titel des Buchs knüpft direkt an ein Filmexperiment Guy Debords an – wider den Pappkameraden Konsumismus gehe kaum: „Warum. Worum. Ob sich das Buch von mir schreiben lassen wird, ob ich dieses Buch schreiben werde, ein Einschreiben in ein Keinbuch. Soll. Eben. Schrei eben.“ – – – Weit triftiger als die Zitat-Masken („einfach mal horchen ausprobieren“) sind die Orte, die das architektonisch höchst kundige Ich erläuft, um dabei die blutigen Stummel ödipaler Narrative mit den brutalen Normalisierungen (Klasse, Gender, Gattung) des Heute gegenzuschneiden. Als basso continuo lässt sich der Femizid, auf allen Stufen von körperlichen und mentalen Brutalitäten, ausmachen. Ästhetisch überzeugt vollends, dass diese Gewaltgeschichte gegen weibliches Sein nicht psychologisiert wird, sondern von den Mustern theatraler Handlungssimulationen auf der Bühne (Sophokles, Euripides, Seneca, etc.) abstrahiert und qua figurae etymologicae wieder zum unhintergehbaren Teil einer grammatischen Performance wird:

j-13
Transformiere umschaltete, aus starrem Gelächter, umstrauchelte, umfiel, wie lange schon anfiel, behauptete, verlief, sich verlief, wegfiel, war gefallen, der Bub, ihr Bruder, hatte gefallen, ihr gefallen, sie angefallen, was hatte sie zu tun, nun.

Als Antrieb dieser Suchbewegungen wird die alte Theodizee-Frage nach dem Grund des Sterbenmüssens wieder vorgelegt, des fremden wie des eigenen, des abrupten wie des vermeintlich weniger plötzlichen Todes: „Bin Knecht, Körperknecht, also Knechtin des meinen alten Körpers, der ich sei, soso, quasi, anderenfalls trockenes Rosenlaub, Rosenblättergewölk […]“ Die zahlreichen dadaesken Lockerungen und Sinn-Schleifungen lassen den Schluss zu, dass Antigone für Elisabeth Wandeler-Deck nichts weniger ist als das Anti-Gone-Prinzip.

Und das Blässhuhn ist Blessuren-Prophet dieses Nie-Erledigt-Seins: „Liebste A., Wiederauftaucherin, Untertaucherin, du ewiges = wiedergekehrtes Blässhuhn, nur Mut, und auf und ruft laut das Wort und// v-14/ verdoppelt, so ist es sie, und sie verdoppelt als eine vermehrte Mehrere A., raumzeitliche Transduktion, schau hin, noch und noch, da geht sie ja, die Hängerin, Rumhängerin, Rummacherin.“ – Tradition, das sollen wir kapieren, ist nicht die oft zitierte Fackel, die es gilt weiterzugeben, sondern zu bearbeitendes Material. Der Respekt gebührt allein dem vollständig entmusealisierten Stoff. Das beizeiten bemühte Wort „desœuvrement“ ist nicht nur konstruiert als ein psychologisches Dispositiv, das wohl im Term low performer (Oblowmow) seine Entsprechung fände, sondern in einem umfassenden Sinn: Ent-Werkung. Die Willkürlichkeit der Erinnerung mit einem probaten Ordo, Tagebuch oder Autobiographie lägen nahe, zu bewältigen, das wird als adrette Chimäre markiert, der im Rahmen der sog. Unsinnspoesie längst die Türe gewiesen ward:

Als Figur zu lesen das Kind als hochgewachsene Sappho, als Tisch, als Sängerknabe, als froher Fisch, als Chesire Cat, als Pink auch Punk genannt, Pussy Riot. Als genauer Körper Antigone Simone Io Brunhilde Emma Nina so oder so eine und eine und doppelt oder auch so, als Tafel, als Wachstumsprognose, als Element der Statistik, während die Figur des Kindes Ich. Bin Mädchen, wer bist du. Wer bist du wo?

Das Dagegen äußert sich in diesem morpheushaften, von Theoremen Derridas und Cixousʼ wie der Promenadologie beratenen Stil. Befremdlich ist gegenüber dem nachvollziehbaren Begehren nach Freiraum eine moralistische und deterministische Perspektive im Zeichen der Abwehr jeglicher Zukunftsgewissheit: „Was bleibt aber bevölkern die Pinguine“ oder „Dieser zu schreibende Rest in der Wiese des Desasters.“

Fragen dazu werden proaktiv als Unverständlichkeits-Framing delegitimiert: „Falls man den Satz unverständlich finde, gehöre man einem anderen Referenzmilieu an. Ist das so?“ Hinter der Verächtlichmachung öffentlicher Sprachregelungen und markierter Sprache überhaupt („Tischvorlagen“, „Hochschul- und Verwaltungssprache“, „Systemdiener“, „[a]n Hygienemaßnahmen hielt sich niemand“) lässt sich weniger eine Gesinnung ablesen; es zeigt sich eher eine Lust am schnodderigen Aufstellen von Testszenarien, die der Leserschaft Aufschluss geben mögen über eigene Vorurteile, Voreingenommenheiten, Empfindlichkeiten:

j-25

Achtung! Sie verlassen den sicheren Sektor. Sie betreten jetzt die Zone.

Weniger opak ist die Motivation der Schopenhauer-Referenz: „Mit Pargerga [sic] und Paralipomena überschreibt Arthur Schopenhauer eine Sammlung von Beiwerken oder auch Nachträgen“ …  Abseits bissiger Statements zu Stilfragen und ewig dummer Misogynie, dürfte für Wandeler-Deck an  d e m   philosophischen Außenseiter sein Augenmerk für den Leseprozess selbst anregend gewesen sein, insbesondere die These: „[W]ährend des Lesens ist unser Kopf doch eigentlich nur der Tummelplatz fremder Gedanken. […] Daher kommt, daß, wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreibe erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmälig verliert – wie einer, der immer reitet, zuletzt das Gehn verlernt.“ (Parerga …, Bd. II, Kap. 24, § 291) Die von Wandeler-Deck erwähnten „Randgänge der Erinnerung“ verwirklichen das behauptete poetische Spazieren und problematisieren das Erzählen selbst, genauer gesagt dessen Abgrund: Das Narrativ. Dabei gelingt immer wieder das Kunststück, uns unsere Storygläubigkeit und infantile Freude an Symbolbildern vor Augen zu führen, demonstriert an einer Liebeserklärung oder an einer Mordgeschichte aus dem Zürcher Stadtrandgebiet, durch Einsprengsel aus der Lokalpresse. Gegenüber diesem ritualisierten Sprechschreiben kann ein Prosaist als Lieferant von Content (vormals: Stoff) nur versagen; als ebenso vergeblich werden tönerne Phrasen der oft nur noch um die eigene Inszenierung kreisenden Gegenwartsliteratur (enervierend geläufig ist die einmal zu oft verwendete Floskel von der Schnittstelle Text/Musik/ Kunst/Medien) performativ-poetisch unbrauchbar gemacht; im Ordner über „den / Text“ lesen wir:

d-01

Ich schnappe mir einen Satz, noch einen,
später dann, viel später, zu spät gar, spät
dann einen andern Satz, ihn einzusetzen.
Schnipp. Schnipp, schnipp, schnipp, schnipp,
schnapp. Schnappsätze. Schnipp. Schnipp.
Schnipp, schnipp, schnipp, schnipp, schnapp.

Elisabeth Wandeler-Deck besteht, auch hier der frankophonen Tradition (Surrealismus, Situationismus) verpflichtet, gegenüber segregierenden Literaturbegriffen auf Synästhesie; als Wahrzeichen dafür dient ihr nicht selten der hochangereicherte Kalauer, ob nun in Form von Gedichtmöbeln („poèmes d’ameublement“) oder Sprechetüden oder Listen oder Traumrestnotaten oder als Prosa camouflierten Gedichten. Das Gegenprogramm kann kompromisslos unspektakulärer kaum sein: „Ich schreibe ganz nahe am Nichtschreiben. Erst nutzlos wird die Ruine Gegenstand der Reflexion.“ Das zwanzigstes Buch der Zürcher Dichterin-Essayistin Elisabeth Wandeler-Deck, ihre erste Publikation im Klagenfurter Ritter-Verlag, gehört – den von ihr appropriierten Schopenhauer auf sie spiegelnd – nicht zur „fließenden Literatur“, sondern zu dem, was ganz gewiss bleiben wird. Ihre negative Poetik, irisierend rhapsodisch vorgetragen, optiert nicht für das Ich als Topos, sondern als Transitstation, das in weit gespannten referenzierenden Bögen zu den Topoi selbst führt:

m-09/ Ich benutze einen Moment aus meinem Leben und bilde von diesem Moment her Sätze, Absätze, Zeilen, Zeilenfälle, Textflächen. […] Bin mir Figur, nehme Kindfigur zur Hand, schmeisse sie nicht gleich an die Wand, frage. Wer ist nun dies herumvagierende grammatikalische Ich. […] Sofern die Kommunikations- und Spielgeräte wieder funktionieren, trägt der Wind Stimmen denn doch über die// v-08/ Leuchtflächen. Die Muster der Verdauung ändern sich verlässlich. […] Das Vermessen geht weiter. Antigone schiebt sich einem weiteren Referenzmilieu zu. Das Gesetz weint allein. […] Oft bin ich nicht sehr freiwillig. Ich neige zu Spiralen. […] Der Künstler stieg auf den Baum. Voglio una donna, voglio una donna. Dann vermessenes Zimmer ausgesteckt, in Metern, Zentimetern, Lux, Dezibel. Das ist unangenehm. Rufen sie jetzt an?

Wer ein Höchstmaß an Benevolenz aufbringt, hat die Chance, ein Teil von Wandeler-Decks berückender Neuausrichtung und -ausstattung des Phänomens Gedicht zu werden, das in ‘Antigone Blässhuhn’ nur als basisdemokratische Gedichtumwelt abgesegnet wird: „kein unser Mama Papa Text zur Hand“ …

Der seit einigen Jahren in der Schweiz ansässige Walter Fabian Schmid findet nicht vom Ich zum Ort, sondern legt die Lost Places, verlassene Orte der Industriegesellschaft, fest als sehenswürdige Objekte, die in stärkerem Maß Poesie als Gattung respektieren, ohne sich damit auf lyrisches Sprechen zu verpflichten, also Stimme mit Klang zu verwechseln. Schmids starkes Poesiedebüt ‘stimmapparatvibrato’ liegt seit 2018 in der Kölner Parasitenpresse vor. Sein zweites Buch legt demgegenüber nicht nur an Umfang zu, sondern auch an Dringlichkeit. Wir betreten eine abgeschiedene dörfliche Enge, im Grunde ein Stammesterritorium, das mit Touristikidylle aber nichts zu schaffen hat, sondern ein „Grenzland“ bildet, aus dem eine Titelmelodie klingt: „Rostige Milchkübel warten. 1 Weiler, 4 Häuser, 1/ Familie. Zwischen Rohbau, Verfall und Verhau. Das Geld/ fällt aus wie Ernte. Die Lost Places zucken noch.“ Und erst auf den zweiten Blick zeigen sich die Parallelen zwischen beiden Schreibansätzen. Schmids Stil erlaubt sich weniger Koketterie und Spiel mit dem Publikum, ist überhaupt konzentrierter und gesteht der Versform enorme Autorität zu, gerade wenn Realitätseffekte (wie die Aufzählung verschiedener Antidepressiva) ein Verlassen der Lyrik-Ich-Rüstung nahelegen wie im ausdrucksvollen Langgedicht „Ich rappelte mich auf und ging durch die Hölle“. So sehr sich die zumindest schriftbildlich probate Poesie Schmids und die kunstvoll verwüsteten Zettelkästen von Elisabeth Wandeler-Deck unterscheiden, eint sie doch das bohrende Beobachten des zerfallenden Individuums und das aggressive Vorzeigen der Wunden:

Ich sah in den Spiegel und erschrak
vor dem schwarzen Loch in den Augen. […]
Dauernd verlor ich den Faden,
der einfach kein Strick wurde.
Zum Schutz bekam ich Medikamente.
Amitriptylin und Tavor.
Seroquel vertrug ich partout nicht.
Ich bilde mir Geister ein,
meinte der Notdienst,
als ich ihm erschien.
Ab dann trank ich Kerosin
aus den Flügeln von Engeln.
Lorazepam und Noctamid.

Mit ausgeprägtem Sinn für die privatime Doppelbedeutung des im niederbayerischen Städtchen Regen Aufgewachsenen findet Schmids Ich nur mit Aussicht auf Verortung einen sekundenschlafkurzen Ruhepol: „Gelegentlich trink ich den Abfluss aus/ jener Zeit und verlauf mich wie Farbe im Regen// Im Jenseits klärts langsam auf.“ Auffällig ist neben dieser durchblickenden Offenheit das Interesse von Schmid wie Wandeler-Deck an rituellen Formen des Sprechens. Bei Schmid starten wir mit einer „Fürbitte“; seine Kollegin konnotiert mit ihrer Obsession für Ränder aller Art (u.a. Stadt/Natur; Traum/Wachzustand; Fremd-/Selbstaussage) permanent die Zustände, die nach rites de passage, also archaischen Übergangsregeln verlangen: Auch von daher ist die Bezugnahme auf Debords Kurzfilm, der auch im vollständigen Titel in deutscher Übersetzung mitgeführt wird, eine Anknüpfung an heterodoxe Denkfiguren, die völlig außer Gebrauch gekommen sind. Schmids ideologischer Überbau bleibt vergleichsweise implizit, seine Wahrnehmungen drängen weniger nach Abstraktion als nach dem Anschein leichter Findung und Aufsummierung: „Auf Netflix liefen noch Zombies herum./ Endzeitszenarien, die wir torkelnd nachstellten.“ Dieses Parlando wirkt bekannt, und es droht die Virtuosität der Machart dieser bildstarken Langgedichte in den Schatten zu stellen; und auch die Kraft des kosmischen Ekels zu verbrauchen, einfach durch den Gewöhnungseffekt. Sodass auch pures Gold einen Moment verstaubt wirkt: „Das Auto nutzte seine Intelligenz/ und fuhr gegen ein Haus“ oder „Wenn wir nur wüssten wohin,/ könnten wir Totenscheine als Bilett benutzen.“ Wie bei Wandeler-Deck wird in all der Misere nach einem Ort sicheren Sprechens gefahndet, das Langgedicht ‘Wir bauten ein neues Paradies’ endet so:

Vereinzelt entkamen Silben.
Sie gingen am Sonntag hausieren.
Von Stadt zu Stadt, ganz leise
und ohne Gewicht.
Auch du machtest auf.
Sie schauten ins Weiss deiner Augen
und suchten nach einem Grund.

Obwohl der diplomierte Germanist Schmid nur allzu gut weiß, dass die Gewichtigkeit von Stimmen noch immer anhand von In- und Outgroup gemessen wird, kehrt er, was sich bereits in seinem Erstling ankündigte, der Betriebsamkeit endgültig den Rücken; merklich durch das Aufgeben literaturvermittelnder Netzwerker-Aktivitäten wie Moderationen und Rezensionen;  ästhetisch markiert er diese Entfernung durch Verzicht auf die sattsam bekannte urbane Proporzdiskurslyrik mit meist (dann doch nicht so) stratosphärischer Theoriehöhe: Schmid gibt dem Kalauer freimütig Raum und kann dabei ganz auf die Kraft deftiger und sehr einprägsamer Bilder vertrauen: „Aale lösten sich restlos in Strom auf.// Enten trainierten für eine Reise/ und hängten Gewichte an ihre Flügel.// Andere Arten gaben schon auf.// Barsche drehten sich faul auf den Rücken.“ Verlotterung, Verrohung, Vermüllung, Ausbeutung und (pathetischerweise, mag man einwenden) Entheiligung werden in einem Akt der Wutkonfluenz überblendet: In einer der gelungensten Litaneien der letzten Jahre wird die „Suche nach dem Rückweg ins Paradies“, der Rousseauismus des Anthropozäns, als Ökolyrismus und der Natur entfremdetes Maulheldentum eines Narren bloßgestellt: „Sprachlos sogen sich Silben/ mit neuen Bedeutungen voll./ Am Grunde glucksten die Laute.// Wir lauschten dem Anfang,/ der nicht mehr im Wort lag.“

Jeder Art von Reputationsmanagement drehen diese beiden schweizer Literaturaktiven eine Nase. Sie tun, als  Libertaristen, was sie wollen. Ein Literaturbetrieb, der solche  Stimmen nicht einzubeziehen wüsste, wäre autoritativ.

Walter Fabian Schmid: Die Lost Places zucken noch. Gedichte.
Dortmund: edition offenes feld 2022 (BoD), 105 S., Gebunden, 19 Euro.

Elisabeth Wandeler-Deck: Antigone Blässhuhn Alphabet so nebenher oder: Über den Durchgang einiger Personen durch eine relativ kurze Zeiteinheit. Klagenfurt: Ritter 2022, 183 S., Paperback, 19 Euro.

Dünger

Werner Dürrson

(* 12. September 1932 in Schwenningen am Neckar; † 17. April 2008, gestern vor 15 Jahren, in Neufra) 

Pariser Spitzen 57

Ein flauer Wind weht in der 
Rue de Rivoli / da ritt einst 
(nein nicht Heine der an

Deutschland litt) auf hohem 
Roß der Hauptmann Jünger // 
der hinterließ (nein kein

Gedicht und wers nicht 
glaubt fällt selbst hinein)
echt deutschen Pferdedünger

Aus: Werner Dürrson, Pariser Spitzen. Mit Figurinen von Jean Demélier. Waldburg: demand 2000, S. 59

L&Poe Journal 3 (2023)

#03-2023

In dieser Ausgabe: EDITORIAL | NEUE TEXTE (Lange) | ALTER TEXT | DOSSIER: (EXPERIMENTELLES) ÜBERSETZEN (Lange) | BETRACHTUNG UND KRITIK (Ames/Spyra, Ames) | TABU

EDITORIAL

Journal #03 ist eröffnet und wird etwa bis Juni in Einzelbeiträgen in loser Folge erscheinen. Es gibt neue und alte Texte, die Rubrik TABU wird weitergeführt, nicht nur und nicht zuletzt mit dem LESETABU Ulysses. Ein Dossier zu experimenteller Übersetzung begann mit einem Text von Norbert Lange. L&Poe Journal bildet die dritte Säule der Lyrikzeitung neben dem Archiv aus 20 Jahren Lyrikzeitung und dem Gedicht des Tages, wie immer (fast) täglich um 6 Uhr in der Früh. L&Poe Journal freut sich auf neugierige Leserinnen und Leser. Mehr

NEUE TEXTE

Norbert Lange: Dummkopfelegien

Ich Sternegroß zieh gerne Sterne groß. Die Bienen säuseln: Trottel,
werd’s dir zeigen, da! Auf deine Denkerstätte knall ich dir eine,
dass nicht mehr gradestehest du – wohl verschluckt an einer Gräte, uff!
Bescheuerte Pläne bescheuerter Sphingen zitternder Stimmen
hirnverbrannter Stämme, schütterer Schwall von vergehend-sauverkehltem Stuss! / Mehr

DOSSIER (EXPERIMENTELLES) ÜBERSETZEN

Norbert Lange: Variationen: Die Freiheit der Übersetzer

Wie gut, dass nicht jeder ein Spindoctor ist. Wenn jeder aber als Interessenvertreter der eigenen Sprachenverwirrung auftritt, muss man sich die Frage stellen, was Verstehen dann noch ist? Welchen Sinn hätte die Information einer Mitteilung noch, außer den, von allen nicht verstanden zu werden, doch verstanden werden zu wollen? Es ist ein naiver Gedanke, weil der Vorrang von Affekten vor Fakten schon mal in einen Verstehensfuror entgleiten und zum Verlangen eskalieren kann, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Später werden Kapitole gestürmt und Menschen auf öffentlichen Plätzen eingepfercht. Wenn Verstehen darin gipfelt, sich gegenseitig für verrückt zu erklären und aufeinander loszugehen, müsste man nicht denken, dass Aussagen weniger Gewicht haben als die Handlungsweisen, zu denen sie führen? Man bräuchte auf jeden Fall eher psychologisch als übersetzerisch geschultes Personal, um die Interessenlage umzukehren und begreiflich zu machen, dass es bei einer Differenz weniger darauf ankommt, verstanden zu werden, als verstehen zu wollen. / Mehr

BETRACHTUNG UND KRITIK

Ames / Spyra

Ein Mailwechsel (Teil 2)

Ja, jetzt hat dieser Briefwechsel tatsächlich was Knackiges, find ich und auch persönlich. Das macht mir Freude und vielleicht kommen wir hier doch noch auf eine Lösung, die mehr ist als: „Man muss einfach sein Ding machen und die Arschgeigen geigen lassen.“ / Mehr

Konstantin Ames, Doppelrezension

Die Idee eines Schreibens, das das Denken aufzeichnet – statt nur gediegene Resultate abzubilden – war bereits vor hundert Jahren dem mittlerweile wieder als Skandalkünstler geltenden Hugo Ball einen Eintrag wert in sein später unter dem Titel ‘Sturz aus der Zeit’ publizierten Diarium, nämlich als „Kunst und den Kunstgesetzen untergeordnet zu sein: falls man seine Aufmerksamkeit dahin lenkt, gewisse Gedanken und Gedankenreihen aufzuschneiden; Grenzen zu ziehen; nur gewissen Wahrnehmungen Raum und Stoff zu geben, andere zu vermeiden.“ (Eintrag vom 7. September 1917)

Vom Stadtrand Zürichs aus setzt Elisabeth Wandeler-Deck diese Überzeugung Balls um. / Mehr