Hans Thill
Zwanzig dreiundzwanzig Alles auf Drei, aber wörtlich, Primzahl, "Ach, das ist aqua", der Fluß unter den Erscheinungen. Wie spricht man das? Dreimännerwein. Kautabak. Groschen-Ohr. Drive-in. Das Jahr, in dem noch keiner war. Traminer. Trimurti, Trilce. Trriiil … ce Twenty twenty-three All on three, but literally, primeval number. "Oh, that's aqua". River beneath appearances. How do you pronounce that? Three-legged dribbler. Beggars-ear. Train hurry up. The year that no one's been to yet. Trimurti, Trilce. Trriiil … ce Vingt vingt-trois Tout sur trois, mais littéralement, nombre prémédité. "Ah, c'est aqua", fleuve sous les apparences. Comment le prononce-t-on ? Mons Tabor. Dribbleur. Oreille quatre-sous. L'année, personne n'est encore allé. Triolet, Trimurti, Trilce. Trriiil ... ce
Gerd Adloff
Kleiner chronologischer Ablauf meiner Verwirrungen Die Welt Das Trockenwerden Schleife binden Bruchrechnung Turnübungen Die Pubertät Die höhere Mathematik Kommandos beim Militär Das Militär Bestimmte Übungen aus dem Kamasutra Bauanleitungen Steuererklärungen Rentenverläufe Das Älterwerden Die Welt![]()
Aus: Gerd Adloff: Ist die Musik zu laut? mit Zeichnungen von Kay Voigtmann. Berlin: Corvinus Presse, 2022 (unpag.)
L&Poe Journal #02-2022
L&Poe Journal ist ein (relativ, naja) neues Format der Lyrikzeitung. Nach etwa 16 Jahren mit vorwiegend Zeitungsnachrichten und Links und einigen Jahren als digitaler Anthologie deutscher und internationaler Gedichte (inzwischen weit über tausend) startete ich 2021 mit einer thematischen Ausgabe des Journals zum 150. Geburtstag von Christian Morgenstern (mit Konstantin Ames als Herausgeber). Damals veröffentlichten wir die 15 Beiträgen im Block, Echo und Klickzahlen blieben eher bescheiden. Es ist immer noch nachlesbar und hat lesenswerte Beiträge, aber das digitale Lesen ist noch in der Entwicklungsphase. Oft hört man, und auch nach Erscheinen hörten wir, dass lange Textbeiträge digital nicht funktionieren. Ich weiß nicht, ob es stimmt, ich selber lese Periodika (teilweise verfügbar) und Bücher (massenhaft verfügbar) extensiv digital. Aber mit Nummer 02 probierte ich ein neues Editionsformat. Über einen bestimmten Zeitraum veröffentliche ich Einzelbeiträge, die von einer Benutzeroberfläche zusammengefügt werden, Zeitschrift als work in progress. Geplant waren ein paar Monate, es wurde fast ein Jahr.
Irgendwann ist ein Ende. Journal #02 wird hiermit abgeschlossen. Als Textschwerpunkt gab es Gedichte von starken Frauen (Jayne-Ann Igel, Silke Peters, Mara Genschel, Kerstin Becker, Brigitte Struzyk, Odile Endres, Martina Hefter, Anna Hoffmann und Sophie Reyer). Das ist schon in sich eine kleine aber feine Anthologie. Im ersten Teil eines Dossiers stellte ich die Autorin und Künstlerin Angelika Janz vor. Der Überfall auf die Ukraine gab den traurigen Anlass für einen kleinen Schwerpunkt Ukraine (Wikyrtschak, Ames, Witte). Der Abschnitt Betrachtung und Kritik versammelt Beiträge von Dirk Skiba, Konstantin Ames, Bertram Reinecke, Michael Spyra und Karl-Heinz Borchardt zu so verschiedenen Themen wie Autorenporträts, Versgrammatik, Literaturbetrieb und einen Greifswalder Denkmalstreit. Kurz vor Redaktionsschluss gab noch der Tod des Lyrikkritikers Michael Braun einen traurigen Anlass.
Das Journal geht weiter. Unabgeschlossene Projekte (Literatrue in Zeiten des Wettbewerbs, die 2021er Debatte um Konstantin Ames und das Lesetagebuch zum Ulyssesroman) werden hier in Kürze fortgesetzt. Regionale Themen sollen einen festen Platz im Journal behalten. Schwerpunktthema der neuen Ausgabe wird sein: experimentelles Übersetzen. Danke für vergangenes und künftiges Lesen!
In dieser Ausgabe: Editorial | UKRAINE (Wikyrtschak | Ames | Witte) | NEUE TEXTE (Igel | Peters | Genschel | Becker | Struzyk | Endres | Hefter | Hoffmann | Reyer) | ALTER TEXT ( Poe: Der Rabe | Wobbe: Niejohr) | DOSSIER ANGELIKA JANZ (Delta | Fragmenttexte | Das Un | Sekunde | worte) | BETRACHTUNG UND KRITIK (Statements zum Tod von Michael Braun | Skiba: Das Authentische lehne ich ab | Ames: Der arme Poet und sein Schatten | Reinecke: Über Haltung und Versgrammatik | Ames, Spyra: Literatrue in Zeiten des Wettbewerbs | Borchardt: Greifswalder Denkmalstreit 1854 | Gratz: War da was? Rückblick auf eine Debatte) | TABU (Wendetabu | Lesetabu 1: Spuren | Lesetabu 2: Ulysses | Editionstabu)
Journal #02 wird hiermit abgeschlossen. Als Textschwerpunkt gab es Gedichte von starken Frauen (Jayne-Ann Igel, Silke Peters, Mara Genschel, Kerstin Becker, Brigitte Struzyk, Odile Endres, Martina Hefter, Anna Hoffmann und Sophie Reyer). Das ist schon in sich eine kleine aber feine Anthologie, die wie alles andere hierunter nachgelesen werden kann. Im ersten Teil eines Dossiers stelle ich die Autorin und Künstlerin Angelika Janz vor. Der Überfall auf die Ukraine gab den traurigen Anlass für einen kleinen Schwerpunkt Ukraine (Wikyrtschak, Ames, Witte). Der Abschnitt Betrachtung und Kritik versammelt Beiträge von Dirk Skiba, Konstantin Ames, Bertram Reinecke, Michael Spyra und Karl-Heinz Borchardt zu so verschiedenen Themen wie Autorenporträts, Versgrammatik, Literaturbetrieb und einen Greifswalder Denkmalstreit im 19. Jahrhundert. Kurz vor Redaktionsschluss gab noch der Tod des Lyrikkritikers Michael Braun einen traurigen Anlass. Mehr
ich schreibe dieses gedicht nichtmal in der sprache der opfer obwohl ich sollte denn sie sind es, die antworten suchen, und ich bin es nicht, die sie kennt.
Putin, wehrhafter als dt. Lyrik, die Kiew jetzt tapfer hält. Pootin, du und ich, wir wissen es, dass du nichts hast.
Mariupol Mariupol sein lassen Mund auf weit weiter : fehlt : Wehrstachel wird sich einfinden
ZWAR ist die Ukraine eine Nation, ABER keine richtige. ZWAR ist die Ukraine europäisch, ABER nicht richtig. ZWAR sind wir für territoriale Integrität, ABER die Krim ist doch eigentlich russisch. ZWAR sind wir für Sanktionen, ABER wir schaden uns selbst.
diese busfahrt mit mutter nach w., nächtliche fahrt mit lichtern, trügt mich die erinnerung oder hat sie im kurhaus übernachtet und mich tags darauf in einem bett hinterlassen, an dessen fußende
das meer ist dort, wo immer du suchst, im überschreiten alter küstenverläufe, hier in der niemandslandbucht, steigst über kalk, der irgendeinmal muschelmund,
Sind wir steinsmomente, die früchte uns eingetrieben, nur rum und rumgefahren um die langen bärte der vorfahren
hier lief kein film, man traf sich stets zur selben stunde, mittags wie in der frühe, das hatte etwas von trotz, in der stablosen zelle –
Frauentag. Schreiben verändert die Wahrnehmung, ist eine heftige Trance. Bilder verschmelzen bei über eintausend Grad im Lagerfeuer.
Ich weiß nicht. Nachts schriebinne ich sie alle an. Erst nachts stand, wie lieb ins Regal gestellt: (ich/nichts Gebrauchte Kartons.) Ich les nichts, Simone, und
der Brustkorb hob und senkte sich fiebrig schnell als wär der Leibhaftige hinter ihr her, die Sonde quer übers Gesicht
siehst du die Speckgürtel und Ghettos um die Städte Abriegelsystem humanus ich gehör der Kaste Allerletzter an
fort hier kein Wort wir suchen so lang schon im Daumenlutschen Trost
Die Müllabfuhr heißt hier Ernst Sie fährt vor den Wolken den Berg hoch An den Wiesen vorbei Vorbei an dem Duft von Pestwurz und Augentrost Ehrenpreis und Dost
Und geschwärzt hat sich schon Alles Weiße im Wind Kerzengrade wird Nacht In den Schnee geweht
Wo sich die Wiesenseiten senkten Dass jach ein Tal entstand mit alten Apfelbäumen Den Hang hoch frühlings Veilchenwiesen Und in den Weiden Kletternester
Das große Fleisch wankt auf mich zu Und wirft den Springinsfeld so hoch, dass er die Schweine pfeifen hört
Es legen sich die vordiktierten Zeilen Aufs reine Weiß. bis alles schwebt-
Kommt! Ins Offene! Auf den Balkon! Oder ans Fenster! Legt Hand auf Hand! Lasst sie gewaschen sein! Klatscht in die Hände!
Und am Neunten, am Abend, kam von drei Worten ein Wind auf. Die Blätter fielen, der Baum stand stramm, ja, am Abend stürzte er um.
Die Karl-Heine-Straße ist eine breite, quirlige Straße. Ich mach bei einem Kuchenbasar mit, Flohmarkt im Westwerk. Ich kann das Sternbild Pegasus vom Sternbild Großer Wagen unterscheiden. Ich bin eine Roboter man hat mich mit den Daten eines Sterns programmirt
barken in den traumkanälen, wunschgetrieben. parabelbögen, traumtänzer. über geweben aus schatten und glanz. vielfarbige glasblütendelirien
fu-ku-shi-ma, poetryvideo von odile endres
gleichgültig gegen den grauen greifswalder Himmel liebtest du die stadt & die fretowschen felder Wälder das paradies in dem diana ritt zur jagd dort wo Amor seine pfeile schoss in deine glasreinen reime
an aller augen nagt hunger die potemkinsche jungfrau erscheint nicht pünktlich zum abendbrot
Ich bin ein Schrei aus dem Nebel bin die die der Fremde spricht ganz ohne Nabel wo fange ich an
Sie will sich beobachtet fühlen. Sie bewegt sich gerne im Schnittpunkt der drei Fenster ihres Raumes. Sie spielt, als wolle sie etwas verbergen. Sie möchte Gegenstand einer Empörung werden, die die Bewohner aller gegenüberliegenden Häuser erfasst.
Mit Verlaaaaubb
wirkmächtig heftig
Lügen die Menschen weil
Unterwegs suchten wir – erfüllt von der Lust zu überschreiben – andere Begleiter der Sprachbeherrschung
und während ich dies aufschreibe, läuft die graue Katze leise über die Tasten und verwirrt mein Geschriebenes, zärtlich und vorsichtig
Wie du dichtest bist du um den Stein gewunden wie mir graut.
In den Anfängen im Jahr 2001 kürzte ich den Namen „Lyrikzeitung & Poetry News“ mit L&P ab. Der doppelte deutsch-englische Name sollte Programm für weltoffene und womöglich mehrsprachige Nachrichten sein, News auch schon mit dem Hintergedanken, der heute offen als Motto dient, der Definition von Ezra Pound: Poetry is news that stays news.
Irgendwann kam ich auf die Idee, das Kürzel zu erweitern: L&Poe. Natürlich dachte ich an den Dichter, dessen Namen erscheint, wenn man das Kürzel auf Englisch spricht: L`n Poe, Allan Poe. (Manchmal kürze ich auch LnPoe ab).
Und gewiß war auch der Kurzname programmatisch. War mir Poe anfangs „nur“ als Verfasser von Schauergeschichten bekannt, hatte ich mich langsam in seine Bedeutung für die Literatur der Moderne eingelesen. Insbesondere Baudelaire „entdeckte“ ihn für Frankreich und Europa. / Mehr dazu und zum Text von Edgar Allen Poe: Der Rabe
Wat is 'n Johr? En korten Schritt! En Druppen, de in 't Weltmeer flütt! Un doch is in em so väl Qual, un so väl Freud' un Lust tomal!
Man musste ihm nicht in allem zustimmen, aber seine Stimme wird fehlen, die Lücke ist nicht zu schließen. Statements von Paul-Henri Campbell | Andreas Heidtmann | Alexandru Bulucz | Carolin Callies | Dieter M. Gräf | Beate Tröger | Horst Samson | Volker Sielaff | Ulrich Koch | Hendrik Jackson hier
„AUTHENTISCH LEHNE ICH AB!“ Dirk Skiba über seine Dichterporträts – Konstantin Ames sprach mit dem Fotografen am 19.07.2021
Schreiben kann man angeblich auch nicht lernen, und doch gibt es Literaturinstitute im deutschsprachigen Raum. Und vielgelesene Alumni. Und niemand weiß besser, was ein Verriss für Schreibende bedeutet, als
Der Autor schreibt: "Der Fortsetzungsessay "Über Haltung und Versgrammatik" erläutert anhand von Aspekten der Grammatik und Syntax mein generatives Textverständnis. Ihm liegt die Beobachtung zugrunde, dass der deutliche Ausweis des Materialcharakters meiner Montagen stets aufs Neue LeserInnen verunsichert und von einer engagierten Lektüre abhält. Während die ersten Kapitel anhand von Streitfällen in der Bewertung von Interpretationen und Übersetzungslösungen zeigt, wie man Verständnis über Texte gewinnt, indem man sich fragt, wie wurde der erzielte Eindruck aus dem Arrangement des Materials gewonnen, rücken die hinteren Teile immer stärker die Frage ins Zentrum, wie ich aus den von mir verwendeten Materialien Texte erarbeite."
Rückblick auf die Debatte um einen Beitrag von Konstantin Ames: Grußwort zum Endebeginn des Lyrikbetriebs (2021)
2021 gab es eine aufgeregte und wüste Debatte um einen Aufsatz von Konstantin Ames. Aus dem zeitlichen Abstand versuche ich eine Neubesichtigung. War da was war was da da was war da war was was war da was da war.
Ames‘ Thema ist institutionalisierte Elitenbildung. Ausgewählte Personen wählen andere nun auch ausgewählte aus. Offenbar gibt es eine Grundtendenz im Betrieb, die Zahlen klein zu halten. Wer sollte auch die Vielen alle lesen, kaufen, rezensieren und fördern?
Spätestens hier drängt sich mir der Gedanke auf, dass die fast geschlossene Abwehrhaltung der meisten an der „Debatte“ Beteiligten daher kam, dass eben zu viele sich mitgemeint fühlten. Zu Recht oder zu Unrecht.
Diese gewisse Fokusverschiebung soll aber im Rückblick nicht verdecken, dass hier nicht Personen angegriffen werden, sondern Strukturen. Wer würde sich offen gegen die Aufstellung klarer Regeln aussprechen? Prekäre Strukturen, über die es nicht weniger, sondern mehr Gesprächs bedarf.
Sire, geben Sie Lyrikfreiheit!
Ein Mailwechsel (Teil 1)
Name, Alter, Beruf und Vorerkrankungen: Literatrue in Zeiten des Wettbewerbs. Ein Mailwechsel
Greifswalder Universität entschied sich für Ernst Moritz Arndt. Greifswalder Denkmalstreit anno 1854
Hin und wieder sollten wir Autoren, über die wir sprechen, auch wieder lesen.
Der Rumäne. Wenn man monatelang „Nieder mit dem Kommunismus“ gerufen hat, wundert man sich hier. Will nun ins Ausland gehen, weil es mit diesem Volk keinen Zweck hat.
Es sind Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien, poetische Allerleiworte (Herbst, Wind, Geäst) sind dabei, aber auch sperrigere (Laubgardinen, Monatsraten, Tuerei, Geld).
Der Roman ist, was mir beim Lesen passiert. Je mehr Abschweifen, umso mehr passiert. Nicht mehr wissen, sondern mehr erleben. Das ist der Plan.
Da hat der deutsche Übersetzer ein bisschen nachgeholfen. Mulligan beruft sich auf Swinburne, aber die Bilder der rotzgrünen See in der Farbe der irischen Dichter sind ganz sein eigen. Er ist kein verlässlicher Erzähler.
Ich mag die Parallele nicht ausreizen, nur die vage Idee, dass der Kapitelheld in Beziehung zu Stephen Dedalus gesetzt wird, die Gemeinsamkeit wäre der Konflikt mit der Mutter (die bei Homer den Freiern ausgesetzt ist / sie gewähren lässt). Eine Interpretation müsste dann hier ansetzen, aber im Moment brauche ich sie gar nicht.
Lesetabu Ulysses wird fortgesetzt im Januar 2021 (L&Poe Journal #03)
Sibylla Schwarz-vorfassung 29-09-15.docx ausgeschieden aus arbeitsfassung.docx schwarz1 2.pdf recovered new.pdf neuste-28-01.docx neuste-28-01 Kopie.docx neuste-28-01 Kopie 2.docx neuste-28-01 Kopie 3.docx
Ivan Sviták
(10. Oktober 1925 in Hranice na Moravě – 20. Oktober 1994 in Prag)
Die Erkennbarkeit der Welt Wo ich war dort war ich nicht Ich war also dort wo ich nicht war Oder war ich dort wo ich war? War ich? War ich nicht? Ich bin wo ich bin und werde sein wo ich sein werde Wo ich bin werde ich nicht sein Wo ich sein werde dort bin ich nicht Werde ich hier sein werde ich nicht dort sein und wenn ich nicht dort sein werde werde ich hier sein Ich bin wo ich nicht bin und werde sein wo ich nicht sein werde Wenn ich jedoch nicht bin wo ich nicht bin werde ich nicht mehr dort sein wo ich sein werde Wenn ich nicht dort sein werde wo ich nicht bin werde ich dort sein wo ich bin Doch wo bin ich? Auf dem Weg zum Nichtsein Und was werde ich sein? Du wirst sein was du warst wenn du nicht warst
Aus dem Tschechischen von Paul Kruntorad, aus: Ivan Sviták, Unwissenschaftliche Anthropologie. Dialectica modo empirico demonstrata. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1972, S. 266
Jakob Haringer
(* 16. März 1898 in Dresden; † 3. April 1948 in Zürich)
Tot Ist alles eins, Was liegt daran, Der hat sein Glück, Der seinen Wahn. Was liegt daran! Ist alles eins, Der fand sein Glück! Und ich fand keins.
Aus: Jakob Haringer, Poesiealbum 373. Wilhelmshorst: Märkischer Verlag, 2022, S. 8
Henri Chopin
(* 18. Juni 1922 bei Paris; † 3. Januar 2008 in Dereham, Norfolk)
Heute vor 15 Jahren starb der französisch-britische visuelle und Klangkünstler Henri Chopin („poésie sonore“). Hier ein Schreibmaschinenpoem.
Chronique, Page 7, 1974
Originalmanuskriptseite aus: Collection OU, Nr. 5, Tinte und Letraset auf Papier
Rohübersetzung des französischen Texts (Annäherung, da der satzzeichenlose Text verschiedene Lesarten zulässt und man sich im Deutschen mehr festlegen muss).
und revolutionen sind nicht mehr möglich in einer zeit da sozialismen neo-traditionalisten sind und die Tradition nie existiert hat sie ist eine erfindung der gleichen ordnung wie gott die zeitalter löschen alles aus außer dem leben mit dem der tanz unerhört sein muss und die sterne pissen unaufhörlich vom himmel und sozialisten und kapitalisten lachen
Aus: Marvin und Ruth Sackner: Schreib/maschinen/kunst// München: Sieveking, 2015, S. 306
Sándor Petőfi
Ungarisch Petőfi Sándor, slowakisch Alexander Petrovič, * 1. Januar 1823 , gestern vor 200 Jahren, in Kiskőrös als Sándor Petrovics; † (gefallen) 31. Juli 1849 bei Segesvár (Schäßburg, Sighișoara, heute in Rumänien).
Wer ich bin? Ich sag es nicht! Kann nicht meinen Namen nennen; keiner darf mich hier erkennen. Wollt ich meinen Namen sagen, knüpft man mich gleich auf am Kragen. Hab, um dem zuvorzukommen, nicht den Fokosch mitgenommen, könnt nicht fliehn quer durch die Heide, denn mein Pferd grast auf der Weide. Ach, vom Wein brummt mir der Schädel! Sollt ich dich verlassen, Mädel? Nein, dann möcht ich lieber sterben! Wein und Weib sind mein Verderben. Doch warum mich jetzt schon sorgen? Anders ist das alles morgen. Sollt mich dann solch Schnapphahn fragen, ha, Bescheid werd ich ihm sagen! 1843
Deutsch von Martin Remané, aus: Sándor Petőfi: Gedichte (Bibliothek der Weltliteratur). Berlin und Weimar: Aufbau, 1981, S. 21
KI VAGYOK ÉN? NEM MONDOM MEG... Ki vagyok én? nem mondom meg; Ha megmondom: rám ismernek. Pedig ha rám ismernének? Legalább is felkötnének. Nincs a fokos a kezemben, Hogyha kéne verekednem; Nyerges lovam messze legel, Nem t'ok futni, ha futni kell. Hogy is tudnék futni mostan? Mikor a fejem televan; Nem csak fejem, de szívem is - A bor meg a leány hamis. Ha elhagyom galambomat, Kialuszom mámoromat, S rajtam ütnek a hadnagyok: Majd megmondom, hogy ki vagyok! Pozson, 1843. május
Theodor Kramer
(* 1. Januar 1897 in Niederhollabrunn, Österreich-Ungarn; † 3. April 1958 in Wien)
WIR LAGEN IN WOLHYNIEN IM MORAST . . . Wir lagen in Wolhynien im Morast, der mählich überging in schwarzen Sumpf, seit Tagen eingegraben; grüner Glast gab Blasen ab und strich aus Strunk und Stumpf. Tief unter Wasser ging gedämpft der Schall der Minenwerfer und Granaten auf, und Wassersäulen warfen weißen Schwall, vermengt mit Fasern und Getier, herauf. Des Ulmenwalds, der hinter uns verzog, ward jede Nacht ein Strich samt Stumpf und Stiel gefällt; der schwarze Schein des Wassers trog und die Geschütze schossen übers Ziel. Die Stellung war fast sicher. Nur der Grund stieg hoch und stieg uns feucht bis an die Knie; wir stopften ihm mit Sand den schwarzen Schlund, der wie ein Kind durch die Verschalung schrie. Und durchs Gebälk stieg sacht, doch stet die Flut und fraß den Sandsackwall. Von unsren Zeh'n fiel schwarz das Fleisch, zu Kopf stieg uns das Blut; kaum konnten wir die spitzen Reiter sehn. Wir lagen ausgestreckt (daß das Gewicht sich sehr verteile) dann noch stundenlang und lauschten, bis sich hob das frühe Licht, entspannt dem Wind, der in den Ulmen sang.
Aus: Poesiealbum 96: Theodor Kramer. Ausgewählt von Bernd Jentzsch. Berlin: Neues Leben, 1975, S. 8f
Zum 275. Geburtstag von Gottfried August Bürger (* 31. Dezember 1747 in Molmerswende; † 8. Juni 1794 in Göttingen) vier politische Epigramme.
Mittel gegen den Hochmut der Großen Viel Klagen hör ich oft erheben Vom Hochmut, den der Große übt. Der Großen Hochmut wird sich geben, Wenn unsre Kriecherei sich gibt.
Entsagung der Politik Ade, Frau Politik! Sie mag sich fürbaß trollen: Die Schrift-Zensur ist heutzutage scharf. Was mancher Edle will, scheint er oft nicht zu sollen; Dagegen, was er schreiben soll und darf, Kann doch ein Edler oft nicht wollen.
Aus: Auf einen Zeitschriftsteller, der wider Menschenrecht, Freiheit, Aufklärung, große und edle Menschen etc. etc. etc. etc. kopf-, herz- und geschmacklos schrieb. Ich möchte lieber Raub und Mord Auf meiner armen Seele haben, Als heuchlerisch mit Einem Sklavenwort Den Aberglauben und den Despotismus laben.
Prognostikon Vor Feuersglut, vor Wassersnot Mag sicher fort der Erdball rücken. Wenn noch ein Untergang ihm droht, So wird er in Papier ersticken.
L&Poe Journal #02/2022 – Alter Text
Otto Wobbe
(* 10. April 1868 in Greifswald; † 9. Mai 1945 ebenda)
Otto Wobbe war ein Greifswalder Heimatforscher und Schriftsteller.
NIEJOHR Wat is 'n Johr? En korten Schritt! J. Jahr k. kurzer En Druppen, de in 't Weltmeer flütt! D. Tropfen f. fließt Un doch is in em so väl Qual, e. ihm v. viel un so väl Freud' un Lust tomal! t. zumal Un so väl Hoffnung, so väl Glück, un so väl Angst un Missgeschick! Man blots en liesen Klockenschlag. b. bloß l. leiser von unsen Hergotts Arbeidsdag! Un doch so vull von Mäuh un Not, M. Müh so vull von Läben un von Dod, so vull von Leiw un Sickverstahn, L. Liebe S. Sichverstehn un ewig Utenannergahn! U. Auseinandergehn
Aus: Willy Passig: Sie sollten nicht vergessen sein. Plattdeutsches Dichterbuch für Pommern. Elmenhorst: Edition Pommern, 2016, S. 146
So alt wäre Frank Lanzendörfer, der sich als Dichter flanzendörfer nannte, heute. Geboren am 30. Dezember 1962 in Dresden Söbrigen. Am 5. August 1988 nahm er sich das Leben.
& noch mal anfang:
dein brief ist angekommen. hinterläßt zwiespalt. sorum wie
andersrum lesbar. verborgene abspielungen? gewissen?
eben hingeschrieben dadurch schreck. nein zu sagen ist auch
ne fähigkeit. wenn das furchtbare gewöhnlich wird kanns
passieren das es zu ner betriebsblindheit kommt: das furchtbare
verschwindet scheinbar, aber immer auf kosten eigner substanz. (worum
gehts denn?) trivial. ausser unbehagen kann ich im moment nichts weiter
benennen (deinen brief betreffend).
deinen mantel habe ich mir geholt. falls dus schon weisst. schreib
mir bitte wann du urlaub hast, dann habe ich einen spätesten
termin wegen fotos muss ich erst mal mitm fotografen reden
schicke dir erstmal die, sobald ich die andren habe, die.
soweitsogut.
Aus: flanzendörfer: unmöglich es leben. texte bilder fotos. Zusammengestellt von Peter Böthig und Klaus Michael. Berlin: Janus press / BasisDruck, 1992, S. 76
Noch einmal Rilke, zum heutigen 96. Todestag.
Rainer Maria Rilke
(* 4. Dezember 1875 in Prag; † 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz)
An der sonngewohnten Straße, in dem hohlen halben Baumstamm, der seit lange Trog ward, eine Oberfläche Wasser in sich leis erneuernd, still' ich meinen Durst: des Wassers Heiterkeit und Herkunft in mich nehmend durch die Handgelenke. Trinken schiene mir zu viel, zu deutlich; aber diese wartende Gebärde holt mir helles Wasser ins Bewußtsein. Also, kämst du, braucht ich, mich zu stillen, nur ein leichtes Anruhn meiner Hände, sei's an deiner Schulter junge Rundung, sei es an den Andrang deiner Brüste.
Muzot, Anfang Juni 1924
Aus: Rainer Maria Rilke, Werke in drei Bänden. Hrsg. Horst Nalewski. Erster Band: Gedichte. Leipzig: Insel, 1978, S. 797
L&Poe Journal #02/2022
Kurz vor Weihnachten starb unerwartet der Literaturkritiker und unermüdliche Netzwerker und Lyrikförderer Michael Braun. In früheren Jahren war er häufig auch auf diesen Seiten zu lesen. Wir trafen uns in Freiburg / Staufen und gelegentlich am Rand von Veranstaltungen. Ich glaube, das erste, was ich von ihm las und was mir seinen Namen einprägte, war ein lyrikgeschichtlicher Aufsatz aus den frühen 90ern – zumindest las ich es damals, als sich mir die Westberliner Bibliotheken öffneten – über die (meine Worte) Überformung der modernen deutschen Lyrik durch den französischen Symbolismus, ein Problem, über das ich immer mit ihm diskutieren wollte, bis es nun zu spät ist. Man musste ihm nicht in allem zustimmen, aber seine Stimme wird fehlen, die Lücke ist nicht zu schließen.
Im folgenden einige spontane Nachrufe auf sozialen Netzwerken.
Paul-Henri Campbell | Andreas Heidtmann | Ulrich Koch | Alexandru Bulucz | Carolin Callies | Dieter M. Gräf | Beate Tröger | Horst Samson | Volker Sielaff | Hendrik Jackson |
… eben erreichte mich eine schreckliche Nachricht, die mich schockiert und ganz taub macht: Der Literaturkritiker und lieber Freund MICHAEL BRAUN (28.2.1958-23.12.2022) ist heute in der Früh gegen fünf Uhr im Neckarathen Heidelberg vollkommen unerwartet verstorben. Michael Braun war nicht nur ein allseits geschätzter Experte und Kritiker der zeitgenössischen Literatur, aber auch ein fairer, feiner, liebevoller und umsichtiger Mensch, der über eine sichere Urteilskraft in Dingen verfügte, die das gesamte Leben berührten. Seine über vierzig Jahre währende tägliche und intensive Auseinandersetzung mit und in dem wuseligen Feld der zeitgenössischen Litertur, besonders auch in ihren lyrischen Formen, mehrte nicht nur seinen eigenen Überblick, sondern als Kommentator und Herausgeber den Genuss, den viele Menschen an der Literatur erfahren konnten. Sein Einsatz für junge und alte Autor:innen ist enorm und strukturierte nachhaltig das mit, was wir heute als deutschsprachige Gegenwartsliteratur erleben. Ich war in den Jahren immer erstaunt, wie sehr er allen Texten etwas abgewinnen konnte, sich an ihnen erfreute, manchmal zähe Geduld mit ihren Autoren übte, an allen Texten Spuren und Tendenzen größerer Bögen erkannte und anderen zeigte, in welchen günstigen und ungünstigen sozialen sowie persönlichen Zusammenhängen, durch welches Engegement, Opfer, Genie und Zufall die Literatur als unzerstörbares Erbe der Menschheit entsteht. Rest in peace, old friend! I will dearly miss you. Thank you for everything you have done to increase beautiful words among us all.
In der Nacht zum 23.12.2022 ist Michael Braun gestorben! Wir sind tief erschüttert.
Michael Braun war der unangefochtene Kenner der Lyrik, der kompetente Kritiker in Sachen Dichtung und hat durch viele Rezensionen, Moderationen und Dozenturen die Lyrikszene und die gesamte Literatur geprägt. Seine Bücher sind nicht aus der Literaturwelt wegzudenken. So die lyrischen Bestandsaufnahmen, die er mit Hans Thill vorlegte. „Der gelbe Akrobat“, den er mit Michael Buselmeier verfasste, wurde zu einem lyrischen Lesebuch. Wichtig war ihm auch sein letztes Buch in Gedenken an Günter Eich: Was ich weiß, geht mich nichts an.
Er war ein großer Intellektueller, ein kluger Skeptiker, jemand, der die Lyrik über alles stellte. Sie war Teil seines Lebens. Er hinterlässt ein unermessliches Vakuum.
Andreas Heidtmann, poetenladen Verlag
https://www.poetenladen-der-verlag.de/
Ich kann es nicht fassen und bin todtraurig darüber, dass Michael Braun gestorben ist. Wie so vielen Lyrikerinnen und Lyrikern war er auch mir größter Förderer und treuester Begleiter. Wir dürften uns irgendwann 2014 oder 2015 kennengelernt haben, und seitdem stand er mir stets mit Rat und Tat und einem freundlichen, ermunternden Wort zur Seite. 2017 führte er mich gemeinsam mit Insa Wilke in die Welt des Hörfunks ein. Seit nunmehr sechs Jahren durfte ich also mit ihm einige Handvoll lyrischer Neuerscheinungen für den DLF besprechen. Jedes Mal hatte ich größte Bewunderung für seine literarischen Urteile, die nie Verurteilungen waren, und für die reichen literaturhistorischen Quellen, aus denen er sie perspektivierte. Wenn ihm etwas eher wenig zusagte, das war mein Eindruck, dann hinterfragte er zunächst sich selber und das ihm zur Verfügung stehende lyrikkritische Instrumentarium, bis ihm möglich wurde, dem zu besprechenden Material doch noch etwas abzugewinnen. Wenn jemand eine lyrikgerechte Sprache für die deutschsprachige Lyrik des neuen Jahrtausends entwickelt hat, dann er. Keine Art Lyrik war ihm Tabu. Es konnte religiöse Mystik sein oder Experimentelles. Und die innerlyrikbetrieblichen Streitereien waren ihm nie von Belang. Dafür war er zu diskret. So konnte er überall hinschauen: zu den Stillen, den Extrovertierten, den Grantigen, den Konformistischeren … Seine Sympathie galt allen, die sich ernsthaft mit Lyrik auseinandersetzten. Er hat zwar keine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartslyrik geschrieben, so wie teilweise Christian Metz etwa, aber sie war implizite Grundlage seiner Anthologien, Herausgeberschriften, Kolumnen, Rezensionen und Nachrufe. Er hat sie nicht geschrieben, aber maßgeblich begünstigt und beeinflusst. Zu den großen Kritikerinnen und Kritikern aus seiner Alterskohorte gehören Hubert Winkels, Iris Radisch, Helmut Böttiger … Er gehört für mich, ohne Frage, in diese schillernde Reihe. Und sich dort einzureihen, das hat er geschafft trotz des freien Kritikerdaseins, das er führte und das sicher nicht spurlos an ihm vorübergegangen ist. Ich glaube, er hätte sich gefreut, ab 65 nur noch das zu tun, was ihm lieb war und absolut notwendig schien. Zuletzt gab er im Poetenladen „Was ich weiß, geht mich nichts an. Zu Günter Eich. Essays“ heraus. Es ist eine bewegende Hommage an Eich.
Ich verliere einen wichtigen Menschen in meinem Leben, von dem ich gern weiter gelernt hätte.
Vor genau einem Jahr tauschten wir per Mail Bilder aus und sprachen darüber. Er schickte mir dieses Bild von Renate von Mangoldt, das ihn 1994 im LCB zeigt, im Kreis von Manfred Peter Hein, Hajo Steinert, Uwe Kolbe und Joachim Sartorius.
Ich weiss nicht, was ich schreiben soll. Vor wenigen Tagen noch –
Ich bin untröstlich. Und unendlich dankbar für alle unsere Begegnungen. Wir verabschiedeten uns vor Kurzem mit den Worten: „Bis auf unsere nächste vorletzte Begegnung!“
Das, lieber Freund, rufe ich Dir hinterher.
Noch immer kann ich nicht fassen, dass Michael Braun (1958-2022) so plötzlich am Tag vor Heilig Abend gestorben ist. Schon seit einigen Wochen lag seine letzte Herausgeberschaft zu Günter Eich mit dem Titel „Was ich weiß, geht mich nichts an“ auf meinem Nachttisch. Erst über die Weihnachtsfeiertage nahm ich sie jetzt endlich zur Hand und war erschrocken über die Todesnähe dieses Bandes. Auch Günter Eich war kurz vor Weihnachten gestorben – im Jahr 1972. Noch in diesem Jahr ging Michael Braun auf die Suche nach Eichs Asche, die im Schweizer Ort Alfermée ausgestreut wurde. Auf seinem Sterbebett, so zitiert es Michael Braun, sagte Eich im Dezember 1972: „Ich will gar nichts mehr, ich will anfangen zu spielen.“
Mein Beileid von Herzen an seine Familie und seine Freunde, die keine Möglichkeit hatten, sich zu verabschieden.
Paul-Henri Campbell, Alexandru Bulucz, Ron Winkler, Dincer Gücyeter und viele andere schrieben es schon: Die deutschsprachige Lyrikszene hat Michael Braun so viel zu verdanken. Die Lyrik wäre ohne sein Wissen, sein Zutun, seine Fürsprache, seine Klugheit, seine Tiefenversenkungen und Tiefenbohrungen ins einzelne Gedicht, seine Herausgeberschaften und Jurytätigkeiten nicht dort, wo sie heute ist. Er konnte so warmherzig präzise und offen über Gedichte sprechen wie niemand sonst, das zutiefst Menschliche im Gedicht festmachen und beschreiben.
Ich selbst bin Michael so dankbar. Niemand hat so oft über meine Gedichte geschrieben, niemand hat mich so oft moderiert – in Erlangen #poetenfest, Frankfurt #LiteraturhausFrankfurt #KulturamtFrankfurt, Bensheim, Gerlingen, Ladenburg, Worpswede, Stuttgart #LiteraturhausStuttgart. Manchmal brachte er, der Heidelberger, mich Autolose mit dem Auto nach Hause. Zuletzt sahen wir uns in diesem Jahr bei der Jurysitzung zum Lyrikpreis der Südpfalz im #KünstlerhausEdenkoben (den Ulf Stolterfoht bekam) und sprachen über Volker Braun. Wir saßen im Garten und er erzählte über die Herausforderungen, in heutiger Zeit Lyrikkritiker zu sein in einer (wie im Günter Eich-Buch nachzulesen ist) „Dynamik eines geschichtsvergessenen Literaturbetriebs, der im 21. Jahrhundert nur noch im Modus der Hyperventilierung agiert“. Wir sahen uns in Gerlingen zur Preisverleihung und es gab Sekt. Das war noch im Oktober. Es war die letzte Begegnung.
Im Faust-Interview in Bezug auf Nicolas Born sagte er: „Und das hat mich schon damals sehr berührt, weil er beides im Grunde gleichsetzt: Existenz und Schreiben. Es geht ja darum, dass die Frage nach den letzten Dingen – also warum wir eigentlich leben und sterben müssen, leben dürfen und sterben dürfen, – vor allem in Gedichte aufbewahrt wird, in konzentrierter Form.“
Ich hätte gern ein Foto gezeigt, bei dem Michael Braun im Mittelpunkt steht. Er schaute vom Rand in den Kern der Gedichten. Wie ihn gibt es keinen Zweiten. Ich werde ihn vermissen – in so vielem.
Gedicht zum Tag
In memoriam Michael Braun (1958-2022)
Thomas Rosenlöcher: Echo
Wo ich bin knarren die Föhren.
Wo nicht rauscht in ihnen das Meer.
Folg ich dem Rauschen kommt Knarren.
Dort wo es rauscht kam ich her.
Auch dem Dichter Thomas Rosenlöcher, Autor des Gedichts „Echo“, hat nach dessen Tod der Kritiker Michael Braun im April 2022 so freundlich nachgerufen, wie zuletzt, vor wenigen Tagen noch, dem Dichter Wulf Kirsten. Und vielen, vielen anderen vorher. Der Tod eines jeden, dessen Schaffen er begleitet hatte, ging ihm auch persönlich nahe, das konnte hören, wer mit ihm darüber ins Gespräch kam.
Jetzt hat Michael Braun, der Kenner und Vermittler der deutschsprachigen Gegenwartslyrik, sich selbst verabschiedet, so, wie er oft selbst aufgetreten ist: Unaufgeregt und undramatisch und völlig überraschend. Heute, am Übergang von der Nacht zum Morgen.
Der kritische Enthusiast. Aufmerksam im Kleinsten. Skeptisch noch im Letzten. Und grade noch im Ohr, am Montag in der Leitung, am Mittwoch am Telefon, seine schöne, so radiophone Stimme: mild-melancholisch, heiter und guter Dinge, mit hin und wieder aufflackerndem Humor.
Wer je auf der Bühne, bei einer Jurysitzung, aber auch an einem Tisch mit ihm saß und über Literatur sprach und manchmal auch friedlich stritt, wird jetzt diese Gefühle teilen: Traurigkeit. Dankbarkeit. Die sich so schnell wie Wasser aus einem umgeschütteten Glas ausbreitende Gewissheit, dass, was die Kritik der deutschsprachigen Lyrik angeht, niemand diese Lücke wird füllen können, die sein Tod nun aufreisst, die entsteht, weil er nicht mehr da ist, er selbst und in ihm ein lebendes Archiv, dessen geduldigem, freundlichem, genauem und langem Blick aufs Objekt und auf die Menschen, wenig entging.
Jahrelang stand der DLF-Lyrikkalender auf unserem Küchentisch. Jeden Tag ein Gedicht auf der Vorderseite des Kalenderblattes, jeden Tag ein Kommentar zum Gedicht von Michael auf der Rückseite. Er hat unglaublich viel gearbeitet, bis zur Erschöpfung und auch darüber hinaus.
Er war vielen freundlich gesonnen, manche hat er wirklich gemocht. Die Liste derer, für deren Schreiben er sich eingesetzt hat, ist so lang, dass die Namen aneinandergereiht weit reichten. Er hat nicht nur ins Dunkel hinein nachgerufen, sondern auch ans Licht gelockt und wachsen lassen. So viele neue Stimmen entdeckt, gefördert, sie begleitet. Er war ein Freund.
Das Foto zeigt Michael im Jahr 2018. Da bekam er im Rahmen der Leipziger Buchmesse — in Anbetracht seiner langjährigen Verdienste um die Literatur sehr spät — den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik zugesprochen, kurz nach seinem 60. Geburtstag. Man kann seine Freude gut sehen, obwohl das Bild ein bißchen unscharf ist.
Ich wusste von Michael Braun, dass seine Gesundheit chronisch angegriffen war. Ich fürchtete, vielleicht so in sieben Jahren eine schlechte Nachricht zu erhalten. Aber nicht heute. Ich sah ihn zuletzt bei der LCB-Veranstaltung „100 Jahre Höllerer“. Obgleich wir verabredet waren nur kurz, denn die lange Nacht war eine solche und uns beiden zu lang. So verschoben wir unser Gespräch. Er sah gut aus, und in den letzten Tagen korrespondierten wir reger als sonst. Er schrieb sehr munter. Bei manchem hat er nur noch abgewunken, denn er wolle sich Ende 2024 zurückziehen und dann nur noch Privatier sein. Oder fast. Heitere Distanz und klare Worte. Wir lernten uns früh kennen, denn wir kommen aus der gleichen Gegend. Ich machte mit meinem Mannheimer Dichter-Freund thomas gruber ein regionales Anthologieprojekt namens „zuckungsbringer“ (1990). Irgendwann im Anschluss kam er, damals Mitarbeiter der „Zeit“, zusammen mit Hans Thill aus Heidelberg zu uns nach Mannheim. Seit der Zeit sind wir in gutem Einvernehmen. Mit Ausnahme meiner Insel-Anthologie hat er alle meine Bücher besprochen. Das letzte bei Moloko Print und das davor bei der Brueterich Press genauso wie die bei Suhrkamp und der Frankfurter Verlagsanstalt. Für die „Tussirecherche“ hat er einen Aufsatz beigesteuert. Als ich den Pfalzpreis in meiner Heimatstadt Ludwigshafen entgegennahm, hielt er die Laudatio. Er wird mir sehr fehlen und ohne ihn kommt mir mein Tun im Literaturbetrieb noch sinnloser vor. Denn ich schätze die kontinuierliche Auseinandersetzung sehr und nicht das Auf-und-Ab-Springen, und auch, dass er als Kritiker stets selbst kritisierbar blieb, gänzlich uneitel und aufrichtig an der Sache interessiert. Ich sah ihn stets als so etwas wie einen Kollegen an, der es als Freiberufler wohl auch nicht leicht gehabt haben wird, sein Geld über all die Jahre zu verdienen und dennoch vielen Gutes erwies, auch als Juror. Keiner kennt wohl so viele Lyrikbände der deutschsprachigen Gegenwart wie er. Was soll nun ohne ihn werden? Hier seine letzte Anthologie, ist sie schon beachtet worden?
Michael Braun, Michael Buselmeier und Hans Thill gehörten 1987 als 33-jähriger Emigrant aus der Ceausescu-Diktatur zu meinen ersten Freunden in Heidelberg, wo ich am Neckar mit meiner Familie einen ersten Heimathafen gefunden hatte. Dankbar bin ich auch der damaligen Leiterin der Stadtbibliothek, Regine Hauschild, die mich zu Lesungen in ihr Haus einlud und über die ich Hilde Domin kennen lernte. Und bei Hilde Domins privater Geburtstagsfeier, die mich spontan in ihr Herz geschlossen hatte, begegnete ich dann Herrn Palm, und lernte über Domin Elisabeth Alexander kennen, die ein schönes „Heidelberger Lesebuch“ komponierte, in dem ich erstmals mit Hilde Domin und meinen Heidelberger Freunden zwischen zwei Buchdeckeln vereint war. Damals gab es in HD einen kleinen literarischen Stammtisch, wo ich Michael Braun jede zweite Woche traf und mit ihm und Buselmeier viel debattierte. Buselmeier ist geradezu ein wandelndes Literaturlexikon, wie übrigens auch mein kürzlich verstorbener Freund Wulf Kirsten, der sich mal in einer Widmung für mich als „erfolgreichen Produzent von Ladenhütern“ beschrieb, aber großartige Gedichte von hohem sprachlichen Reiz „verfertigte“. Tja…
Im November schickte Michael mir sein Eich-Buch und schrieb: „Hier ist der Versuch, mit Hilfe des späten Günter Eich Antworten zu finden auf die Frage, wie man mit dem verbleibenden Lebensrest im Alter einigermaßen sinnvoll umgehen kann.“ Es war dann ein empörend kurzer „Lebensrest“, der ihm noch geblieben. Ich kann es noch immer kaum fassen…
Danke Michael Braun. Er war für viele wichtig, auch für uns. Ich bin traurig und denke an die Zusammentreffen und mag nicht viel mehr sagen.
Lieber Michael Braun
das kann ich nicht akzeptieren. Ich war mit manchem nicht einverstanden, was du geschrieben hast, aber die Auseinandersetzung darüber war noch lange nicht an ihr Ende gekommen. Wer soll jetzt die neuen Zeitschriften besprechen? Wer bespricht wie du Christian Lehnert, Paul-Henri Campbell? Wer hält die Stellung in diesem äußert schmalen Scharnier zwischen Medienbetrieb mit seiner unbarmherzigen Forderung nach Häppchen und Einordnung und der nach Leben gierenden und sich jeder Einordnung entziehenden (und zumindest das anstrebenden) Lyrik, wer von allen KritikerInnen stellt wieder und wieder die Frage nach der Spiritualität, nach Religiösität? Das hast nur du noch gemacht.
Dein Tod kommt in jeder Hinsicht zu früh und ist verstörend. Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Gute Reise?
Jetzt ein Michael-Braun-Preis? Dafür ist es noch zu früh. Ein Wein-Smiley? Wie inadäquat. Und die Befürchtung, dass sich solche Nachrichten von nun an häufen werden. Viele werden sich jetzt fragen, wer dann überhaupt noch ihren Band bespricht.
Deine Kritiken sind so überhaupt noch nicht veraltet. Es wird bestimmt auch noch eine Runde Akademie der Lyrikkritik geben, du bist doch eingeladen. Überlegs dir doch nochmal, komm nochmal zurück. Ich kann das so nicht akzeptieren.
Hendrik
Rainer Maria Rilke
Steinlen Die Mädchen singen: Alle Mädchen erwarten wen, Wenn die Bäume in Blüten stehn. Wir müssen immer nur nähn und nähn, Bis uns die Augen brennen. Unser Singen wird nimmer froh. Fürchten uns vor dem Frühling so: Finden wir einmal ihn irgendwo, Wird er uns nichtmehr erkennen.
Aus: Rainer Maria Rilke: Advent. Leipzig: P. Friesenhahn, 1898, S. 23
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