In dieser Ausgabe: UKRAINE: Wikyrtschak | Ames | Witte | NEUE TEXTE (Igel | Peters | Genschel | Becker | Struzyk | Endres | Hefter | Hoffmann) | ALTER TEXT | DOSSIER ANGELIKA JANZ 1: Delta | Fragmenttexte | Das Un | Sekunde | worte | BETRACHTUNG UND KRITIK: Skiba: Das Authentische lehne ich ab | Ames: Der arme Poet und sein Schatten | Reinecke: Über Haltung und Versgrammatik | TABU Wendetabu | Lesetabu 1: Spuren | Lesetabu 2: Ulysses | Editionstabu |
ich schreibe dieses gedicht nichtmal in der sprache der opfer obwohl ich sollte denn sie sind es, die antworten suchen, und ich bin es nicht, die sie kennt.
Putin, wehrhafter als dt. Lyrik, die Kiew jetzt tapfer hält. Pootin, du und ich, wir wissen es, dass du nichts hast.
Mariupol Mariupol sein lassen Mund auf weit weiter : fehlt : Wehrstachel wird sich einfinden
ZWAR ist die Ukraine eine Nation, ABER keine richtige. ZWAR ist die Ukraine europäisch, ABER nicht richtig. ZWAR sind wir für territoriale Integrität, ABER die Krim ist doch eigentlich russisch. ZWAR sind wir für Sanktionen, ABER wir schaden uns selbst.
diese busfahrt mit mutter nach w., nächtliche fahrt mit lichtern, trügt mich die erinnerung oder hat sie im kurhaus übernachtet und mich tags darauf in einem bett hinterlassen, an dessen fußende
das meer ist dort, wo immer du suchst, im überschreiten alter küstenverläufe, hier in der niemandslandbucht, steigst über kalk, der irgendeinmal muschelmund,
Sind wir steinsmomente, die früchte uns eingetrieben, nur rum und rumgefahren um die langen bärte der vorfahren
hier lief kein film, man traf sich stets zur selben stunde, mittags wie in der frühe, das hatte etwas von trotz, in der stablosen zelle –
Frauentag. Schreiben verändert die Wahrnehmung, ist eine heftige Trance. Bilder verschmelzen bei über eintausend Grad im Lagerfeuer.
Ich weiß nicht. Nachts schriebinne ich sie alle an. Erst nachts stand, wie lieb ins Regal gestellt: (ich/nichts Gebrauchte Kartons.) Ich les nichts, Simone, und
der Brustkorb hob und senkte sich fiebrig schnell als wär der Leibhaftige hinter ihr her, die Sonde quer übers Gesicht
siehst du die Speckgürtel und Ghettos um die Städte Abriegelsystem humanus ich gehör der Kaste Allerletzter an
fort hier kein Wort wir suchen so lang schon im Daumenlutschen Trost
Die Müllabfuhr heißt hier Ernst Sie fährt vor den Wolken den Berg hoch An den Wiesen vorbei Vorbei an dem Duft von Pestwurz und Augentrost Ehrenpreis und Dost
Und geschwärzt hat sich schon Alles Weiße im Wind Kerzengrade wird Nacht In den Schnee geweht
Wo sich die Wiesenseiten senkten Dass jach ein Tal entstand mit alten Apfelbäumen Den Hang hoch frühlings Veilchenwiesen Und in den Weiden Kletternester
Das große Fleisch wankt auf mich zu Und wirft den Springinsfeld so hoch, dass er die Schweine pfeifen hört
Es legen sich die vordiktierten Zeilen Aufs reine Weiß. bis alles schwebt-
Kommt! Ins Offene! Auf den Balkon! Oder ans Fenster! Legt Hand auf Hand! Lasst sie gewaschen sein! Klatscht in die Hände!
Und am Neunten, am Abend, kam von drei Worten ein Wind auf. Die Blätter fielen, der Baum stand stramm, ja, am Abend stürzte er um.
Die Karl-Heine-Straße ist eine breite, quirlige Straße. Ich mach bei einem Kuchenbasar mit, Flohmarkt im Westwerk. Ich kann das Sternbild Pegasus vom Sternbild Großer Wagen unterscheiden. Ich bin eine Roboter man hat mich mit den Daten eines Sterns programmirt
barken in den traumkanälen, wunschgetrieben. parabelbögen, traumtänzer. über geweben aus schatten und glanz. vielfarbige glasblütendelirien
fu-ku-shi-ma, poetryvideo von odile endres
gleichgültig gegen den grauen greifswalder Himmel liebtest du die stadt & die fretowschen felder Wälder das paradies in dem diana ritt zur jagd dort wo Amor seine pfeile schoss in deine glasreinen reime
an aller augen nagt hunger die potemkinsche jungfrau erscheint nicht pünktlich zum abendbrot
Sie will sich beobachtet fühlen. Sie bewegt sich gerne im Schnittpunkt der drei Fenster ihres Raumes. Sie spielt, als wolle sie etwas verbergen. Sie möchte Gegenstand einer Empörung werden, die die Bewohner aller gegenüberliegenden Häuser erfasst.
Mit Verlaaaaubb
wirkmächtig heftig
Lügen die Menschen weil
Unterwegs suchten wir – erfüllt von der Lust zu überschreiben – andere Begleiter der Sprachbeherrschung
und während ich dies aufschreibe, läuft die graue Katze leise über die Tasten und verwirrt mein Geschriebenes, zärtlich und vorsichtig
Wie du dichtest bist du um den Stein gewunden wie mir graut.
nn
„AUTHENTISCH LEHNE ICH AB!“ Dirk Skiba über seine Dichterporträts – Konstantin Ames sprach mit dem Fotografen am 19.07.2021
Schreiben kann man angeblich auch nicht lernen, und doch gibt es Literaturinstitute im deutschsprachigen Raum. Und vielgelesene Alumni. Und niemand weiß besser, was ein Verriss für Schreibende bedeutet, als
Der Autor schreibt: „Der Fortsetzungsessay „Über Haltung und Versgrammatik“ erläutert anhand von Aspekten der Grammatik und Syntax mein generatives Textverständnis. Ihm liegt die Beobachtung zugrunde, dass der deutliche Ausweis des Materialcharakters meiner Montagen stets aufs Neue LeserInnen verunsichert und von einer engagierten Lektüre abhält. Während die ersten Kapitel anhand von Streitfällen in der Bewertung von Interpretationen und Übersetzungslösungen zeigt, wie man Verständnis über Texte gewinnt, indem man sich fragt, wie wurde der erzielte Eindruck aus dem Arrangement des Materials gewonnen, rücken die hinteren Teile immer stärker die Frage ins Zentrum, wie ich aus den von mir verwendeten Materialien Texte erarbeite.“
Die Fortsetzungen erfolgen im Abstand von 3 Tagen in Einzelbeiträgen, die nach Abschluss in einem Beitrag zusammengefasst werden. Bisher erschienen
Der Rumäne. Wenn man monatelang „Nieder mit dem Kommunismus“ gerufen hat, wundert man sich hier. Will nun ins Ausland gehen, weil es mit diesem Volk keinen Zweck hat.
Es sind Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien, poetische Allerleiworte (Herbst, Wind, Geäst) sind dabei, aber auch sperrigere (Laubgardinen, Monatsraten, Tuerei, Geld).
Der Roman ist, was mir beim Lesen passiert. Je mehr Abschweifen, umso mehr passiert. Nicht mehr wissen, sondern mehr erleben. Das ist der Plan.
Sibylla Schwarz-vorfassung 29-09-15.docx ausgeschieden aus arbeitsfassung.docx schwarz1 2.pdf recovered new.pdf neuste-28-01.docx neuste-28-01 Kopie.docx neuste-28-01 Kopie 2.docx neuste-28-01 Kopie 3.docx
Halyna Kruk
(Geboren 1974, lebt in Lwiw)
Deutsche Fassung von Claudia Dathe. Aus: gedichte gegen den zeitgeist. Engelsdorf: Nachtalb Verlag, März 2022 (Das Heft enthält Texte deutscher, österreichischer, tschechischer, slowakischer und ukrainischer AutorInnen).
Halyna Kruk siehe auch Schreibheft 086 (2016) und lyrikline (wo man auch dieses Gedicht von der Autorin gesprochen hört) – Nachrichten in der Lyrikzeitung
Dinçer Güçyeter
Knöpfchen Mnöpfchen zwischen 20 anderen Terrassen kocht das Wasser in der Blechkanne auf unserer Terrasse auf dem Hockerkocher die Cleopatra des Hauses holt die Wanne aus der Getreidekammer mischt das Gekochte mit kaltem Brunnenwasser zieht mich aus und trägt die zappelnden Beine in die Wanne auf anderen Terrassen ziehen die Frauen den Faden mit Stopfnadel durch die ausgeschabten Auberginen meine Hände, gekreuzt auf dem Knöpfchen seht mal, das deutsche Kind wird in Milch und Honig gewaschen kichert eine, dann kichern alle, dann die ganze Welt am Abend hängen aufgefädelte Auberginen und meine Scham zum Trocknen an den Gittern befestigt mit Wäscheklammern
Aus: Dinçer Güçyeter, Mein Prinz, ich bin das Ghetto. Gedichte. Nettetal: Elif Verlag, 2022, 5. Auflage, S. 37
Andre Rudolph
hallo! das wölfische in mir macht einen schnupperkurs, daher schreibe ich ihnen. ich deale mit den prägemünzen der intuition. gestern habe ich die kinder auf dem kopf getragen, danach taten mir hals, schultern und herz weh, das war nicht gut, gestern haben die kinder zwei schwedische kronen im garten vergraben, für die schatzsucher. ein thema regnet mir ins gedicht, folglich setze ich ihm eine kapuze, jetzt regnet es nicht mehr, aber meine schuhe sind nass. das wölfische in mir, das ich in meinem namen trage, heult, glaube ich, auf. ja, ich höre es sehr deutlich heulen. dieses gedicht wird endgültig mein ruin werden, fühle ich, endlich. sehr behutsam, ein wenig zaghaft, taste ich mich bis zur schwelle meines ablebens vor, der tod isoliert sich mit gipskartonplatten und styropor, wie anders dagegen das wölfische. (wie schwer trage ich immer wieder an meinen ohren.) von meinen angstzuständen habe ich schon berichtet, immer denke ich, dass es jetzt bald kracht, aber es kracht nicht, ein paar schaufelgeräusche, der selbstmörder in meinem lebensfilm zieht ein bein nach und winkt, brütende stare im vogelhaus, kirschdiebe, das ist alles. eine recht halsbrecherische freiheitsidee hast du da am start, sagt es. später dann wieder ein paar entlastungsbiere, das ist auch nicht gut. der kühlschrank singt das wölfische singt meine schnabeltasse zittert, oder mir ist ein schnabel gewachsen und ich bin das. wer weiß, ich weiß, sie würden jetzt gern noch mehr über meine kinder erfahren, kinder sind beruhigend. das nichts ist sehr beruhigend. vom sprachkleister werden die schuhe auch nicht trocken, denke ich, sie sind rot, ich habe sie einst auf der straße gefunden, einst, ja. schaufelRAD übrigens, nicht schaufel.
Aus: Andre Rudolph: Ich bin für Frieden, Armut und Polyamorie – welche Partei soll ich wählen? Gedichte. Köln: parasitenpresse, 2020, S. 15ff
Slata Roschal
Die große und unendliche Geburt Begann am Samstagabend nach dem Essen Das Fleisch auf dem Tablett Vermengte sich mit Infusionsantibiotika zu Brei Metallener Geruch verbreitete sich auf den Betten Was mit dem Arzt vereinbart wurde galt nicht mehr Beim Zunähen wurde der Bauch mit rosa Plüsch gestopft Jemand sagte: Schaut sie ist ein Junge Und jemand sagte: Ihre Haut ist fahl![]()
Aus: Slata Roschal: Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus. Hochroth München 2021, S. 10
Der österreichische Schriftsteller Heimrad Bäcker ist bekannt für seine Arbeiten zur „nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie“, wohl mehr in Österreich als in Deutschland (wo die Literaturrezeption ideologischer ist als in Österreich. In Deutschland versenkt man Autoren lieber in Schubläden, hier etwa „konkrete Poesie“, also was von gestern. Ohnehin lesen und besprechen wir österreichische Autoren lieber, wenn sie in deutschen Verlagen erscheinen. Man kann ja auch nicht alle kleinen Verlage lesen, hört man selbst bei VerlegerInnen kleiner Verlage in D.)
Zum doppelten Anlass am 9. (Geburtstag) und 8. (Todestag) hier vier visuelle Blätter, die wohl nicht zu seinem Hauptthema gehören – oder doch?
Heimrad Bäcker (* 9. Mai 1925 in Wien; † 8. Mai 2003 in Linz)
Aus: Kritzi Kratz. Anthologie gegenwärtiger visueller Poesie. Hrsg. Franzobel. Wien: edition ch, 1993, S. 92ff. Der Herausgeber schreibt zu diesen Blättern:
Heimrad Bäckers Konstellationen, deren hintergründiges Thema ich als Widerstand am
Eingeständnis sprachlicher Verstummung gegenüber der NS-Vergangenheit vermute,
zeigen (gerade durch ihren radikalen Verzicht auf diese) diskursive Befangenheit narrativ
didaktischer Texte. Aber vielleicht sitze ich auch hier meinen Präsuppositionen auf, auch
wenn ich meine, daß die Konnotationsmöglichkeiten gerade dadurch erweitert werden, daß
der semantischen Eindeutigkeit des Palindroms keine weiteren Ebenen hinzugefügt
werden: B1*. Bei den ausgewählten Blättern handelt es sich um bisher unveröffentlichte
Arbeiten aus der Gras-Sarg Serie, Berlin: Rainer Verlag 1990.
*) B: begrifflich orientierte visuelle Poesie (nach einer Einteilung von Sigurd J. Schmidt)
Noch ein Hinweis zum ersten Blatt: Das Zahlenspiel löst sich auf, wenn man es als Palindrom aus dem Zahlenwert der Buchstaben in GRAS / SARG liest.
Zum Geburtstag ein frühes Gedicht von Volker Braun. Der junge Dichter stellt sich die Zukunft vor, kommunistisch natürlich. Die Dichter der Zukunft werden auf uns Grobschmiede zurückschauen, denn filigran werden sie die Revolution und die Poesie meistern. Ein Stück SciFi (oder LyFi) aus den frühen Sechzigern.
Volker Braun
(* 7. Mai 1939 in Dresden)
Vorläufiges Andere werden kommen und sagen: ehrlich waren sie (das ist doch schon was zuzeiten der Zäune und Türschlösser!), Sie schrieben für das Honorar und für die Befreiung der Menschheit, Einst, als die Verse noch Prosa warn (wenig Dichter, viel Arbeit) Aber was für Klötze! Wie hieben sie Menschen zurecht: Mit Schraubenschlüsseln wollten sie Brustkästen öffnen, Quälerei! Make-up mit dem Vorschlaghammer! Liebesgeflüster auf Kälberdeutsch! Revolution mit der Landsknechttrommel - wußten sie nichts von Lippen, Die unmerklich beben beim Abprall der neuen Worte? Mußten sie neue Ufer zertosen mit ihrem Wortsturm? Ach, ihr seid besser dran: euer bloßes Ohr wird Herztöne auffangen, Eure bloßen Worte werden wie Verse die Zäune umlegen, Eure Revolution wird vielleicht ein Gesellschaftsspiel, heiter, planvoll. Dann werden unsere Wiesen nur Grashalme sein, Und was uns Sturm ist, ist euch nur lauer Wind. Doch wir nehmen es auf uns: vergessen zu sein am Mittag! Denn auch ihr werdet das Feuer der Revolution in euch tragen und den Wind Widerspruch: Daß das Feuer zur Flamme aufsprüh, bedarf es des Windes. Und auch ihr werdet für die Befreiung der Menschheit schreiben und für ihre Qual: Weil sie nur vorläufig ist, werdet ihr Vorläufige sein.
Aus: Sonnenpferde und Astronauten. Gedichte junger Menschen. Hrsg. Gerhard Wolf. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 1964, S. 20
Abbildung: Vorderer Einbanddeckel mit den Sonnenpferden (die übrigens aus einem Gedicht von Wolf Biermann stammen, der damals in der DDR schon so gut wie verboten war)
L&Poe Journal #02 Essay
Essay von Bertram Reinecke (Vierte und letzte Folge)
Montieren: alte Verse vs. neue Verse
Textanfang und -ende am Beispiel
Wenn es einerseits schwieriger scheint, in alten Strophenformen zu bauen, weil Reim und Rhythmus zusätzlich auch übereinkommen müssen, so ist dies andererseits dankbarer, da alle Lizenzen zur Inversion ausnutzbar sind. Überhaupt überschätzt man schnell die Schwierigkeiten, die Versmaß oder Reim hervorrufen. Wenn man sein Quellcorpus gleich aus homogenen Material zusammensetzt, etwa 5-hebigen Jamben, stellt der Rhythmus nur noch Detailprobleme. Man kann sich seine Verse auch maschinell alphabetisch nach den Enden sortieren, dann findet man Reime wie gewünscht, unrein oder rein – wenn man das Korpus nur groß genug anlegt.
Die Schwierigkeiten alten Versmaterials sind andere. Gedichtformen (mindestens Strophen) haben oft eine festgelegte Länge. Es ist ohnehin auch bei nicht strophisch geordneten Gebilden schwer, einen guten Anfang oder ein passendes Ende zu bauen. Erstens kommen aus einem gegebenen Korpus an Zeilen nur sehr wenige dafür in Betracht, sie mit einem Punkt zu beenden. Zweitens hat man nur jeweils nach einer Seite hin Gelegenheit, diese Zeile umzudeuten. Bei stark definiten Versmodellen wie Stanze oder Sonett wird das besonders heikel, weil man dort genau eine Punktlandung nach z. B. dem 8. oder 14. Vers machen muss. Überdies sind die Lastwechsel an Zäsuren bzw. Stollengrenzen zu berücksichtigen …[1]
Auch wenn die Syntax einer Zeile im zeitgenössischen Sprechen durch das weitgehende Fehlen von Inversionslizenzen weniger Umdeutungsmöglichkeiten bietet, finden sich im Material schneller vielversprechende Kandidaten zur Weiterverwendung: Alte Vorlagen sprechen sehr stark symbolisch. Heute möchte ich nicht mehr so sprechen. Wegen dieser symbolischen, oft moralischen Aufladung fehlen in älterer Dichtung meist Konkreta. Nur einzelne Dichter bilden hier Ausnahmen, etwa sind Droste-Hülshoff, Johann Christian Günther, Simon Dach oder Sibylla Schwarz im Verhältnis zu ihren ZeitgenossInnen reicher an konkreten Gegenständen. (Besonders in Bezug auf Dach erstaunt das, denn er ist ansonsten reich an ermüdend stereotypen Formulierungen.)
Bleibe ich mithin beschränkt auf das, was in einem gewissen Sinne immer schon bereits gesagt wurde? Ja und nein. Kaum jemand würde wohl bestreiten, dass Gegenwartslyrik ein weiteres Spektrum von Themen und Sageweisen bereithält, als jede andere Epoche. Wer jedoch anfängt genau nachzuzählen, kommt schnell zu dem überraschenden Ergebnis, dass sich dies nicht unmittelbar in einem gewachsenen Reichtum an auffindbaren Gegenstandsbegriffen also unterschiedlichem Vokabular widerspiegelt. Einerseits erweisen sich Begriffe aus der modernen Lebenswelt auch im neuen Gedicht als vergleichsweise selten, als würde diese Art Begriffe bei einer Art Waschgang entfernt, sodass nur die hartnäckigsten übrig bleiben, andererseits ist das Repertoire an sinntragenden Chiffren geschrumpft, diese Schlagwörter fallen dafür umso häufiger.
Wenn also der Eindruck stimmt, dass die Vielfalt der Gegenstände und Sageweisen im Gedicht heute größer ist als vormals, und ich teile ihn, dann liegt das eher an neuen und überraschenden Kombination von Wörtern als am Vokabular allein.
Ich kann so auch stark gedanklichen oder emotionalen Gedichten konkrete Naturbilder entnehmen. Ich kann die touristische Urbanität meiner Landschaft aus leinenwurf im seetang herausarbeiten, indem ich eine Zeile aus einer abstrakt innerlichen Strophe von Daniela Boltres „Nacht / um meinen Vater / Schläge, Schlaflosigkeit / stundenlang alleine“ die Zeile „stundenlang alleine“ entnehme und auf „die steinlosen Meeresstrände“[2] beziehe, sodass sich der rauschhafte Moment eines relativ ungestörten Natureindrucks als ein Zufall touristischer Migrationsbewegungen erweist, während letztere Zeile im Quellgedicht im ursprünglichen Kontext Teil einer traumartigen Auseinandersetzung eines Ichs mit der Natur ist. Keine der verwendeten Gedichte muss also selbst einen Hinweis auf die makroskopischen umweltgestaltenden Wirkungen des Menschen im Sinn haben, erst durch Kombinatorik kommt er zu Stande. Wie bei Brechts „Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches“ war für mich die unmittelbare Aussage des jeweiligen Bildes nicht von entscheidender Bedeutung.
Für das kombinatorische Anliegen dieser Montage, ein den Wirklichkeitsbezug des Textes auflösendes ineinander Verketten von Bildern, kam mir die Naturthematik besonders geeignet vor, weil man sich in Natursituationen zügig inhaltlich zurecht findet. Das Gedicht spricht so, wie etwa die barocke Vergänglichkeitssonettistik, aus dem Topos der Vergänglichkeit heraus, eher mittels der Natur und durch sie hindurch.
Ein vielleicht noch deutlicheres Beispiel liefert meine Montage „Familienwerte“: Der Text spielt auf den Russlandfeldzug 1941-1945 an[3]: Ich konnte darüber sprechen, obwohl im Ausgangskorpus so gut wie kein Material dazu vorhanden war. Jedoch rufen Zeilen wie „Der Vater, die Uniform“, „Unter den Stiefeln kleben“ „Doberan und Tschernewens“ „Der Vater im Rucksack Preußen“, „Streifschuss oder Krähenort“, „Strasse, Schritte, Stampfen ein“ „Kaputter Bahnsteig“ den topologischen Raum so nachhaltig auf, dass ich auf Fundstücke, die östliche Geografien enthalten, Waffen, Soldaten … nicht mehr angewiesen war. Ähnlich kann ein Barocksonett einen Vergänglichkeitstopos aufrufen, und dem intendierten bibelfesten Leser damit sofort vor Augen stellen, was beispielsweise in Psalm 103 oder Jesaja 40 sonst noch alles aufgeschrieben ist.
Ich halte syntaktische Verkettung für einen nachhaltigeren Weg der Modernität, als etwa einen Zeilenstil mit neumodischem Vokabular zu tünchen.
Ein solcher Verkettungsstil, wie der anhand von leinenwurf im seetang dargestellte, ist natürlich eine Bewegung, die auf Fortsetzung drängt. Das lässt das Ende des Textes zu einer besonderen Herausforderung werden. Ich mag inzwischen längere Gedichte, die eine Welt schaffen, in der man sich bewegen kann. Ich halte zudem bei Montagen Länge in noch höherem Maße für einen Wert, aber das Ende sollte natürlich dennoch nicht in einem simplen Abbruch bestehen, der vom Material diktiert wird. Eine Landschaft lässt sich als eine offene Liste von vielfältigen Details auffassen und jede Auswahl kann hinterfragt werden: Warum bricht die Schilderung gerade hier ab? Diese Frage drängt sich mir etwa bei Lichtensteins Dämmerung auf. (Eine Frage die offenbar Barockdichter zu langen Gedichten trieb, die ihren Gegenstand völlig ausschöpften.) Mein Text hätte natürlich in einem Schwerpunktwechsel enden können, der das Tableau auf eine andere Sphäre bezieht. (Ein sehr üblicher Weg.) Ich habe dem Text (Leser) dies aber nicht überstülpen wollen.
Ich habe mich für eine schwierigere Lösung entschieden, an die ich von Anfang an schon denken musste. Beim reimlosen Bauen war ich einerseits auf ein Versende verwiesen, das semantisch zwingender ist als Lichtensteins, andererseits wollte ich keine Pointe, die die Offenheit des Ganzen konterkariert.
und auf dem grauen grund verschwimmen
schummerige sternchengemische
knüpfen sie blitzende schnüre
viele schwärme von fischen …[4]
Zwei Verfahren arbeiten bei meinem Schluss zusammen. Einerseits steuert der Text am Ende in eine lautliche Verdichtung. Es zieht seine Wirkung aber auch (je nachdem für welche syntaktische Zusammengliederung man sich lesend entscheidet) aus einem Verfahren, was man Zurücknahme einer Metapher nennen könnte. Die letzte Wortgruppe „schwärme von fischen“ rückt überraschend in die Subjektposition passend zur Zeile „und auf dem grauen grund verschwimmen“ Das Verb, ursprünglich bei Christa Richter als verblasste Metapher im Sinne von „undeutlich werden“ gedacht, wird plötzlich ganz wörtlich genommen: schwimmende Fische. Der Gefahr, über die Fallhöhe dieser Rückwendung einen grellen Spaßeffekt zu erzeugen, begegnet die Vorsilbe „ver-“ Was es heißt, wenn Fischschwärme ver-schwimmen: Hier muss der Leser noch denken.
Der Text nimmt also eines seiner eigenen Bildungsverfahren ostentativ zurück. Dieses Ende habe ich bewusst im Gegensatz zum Beginn gestaltet, wo der Text mit breiter Brust unsinnlichere Bilder setzt, eine geläufige sinnliche Bewegung beginnt erst in der zweiten Strophe. Dieser Anfang hat eine gewisse Verwandtschaft mit dem Lichtensteintext, auch der baut eher die unselbstverständlichen Bilder an den Anfang, wie einen Weckruf an den Geist des Lesers.
Es ist also falsch, was immer wieder angenommen wird: Man kann sich nicht hinter der strengen Herstellungsweise, ganz allgemein der Form, irgendwie verstecken. Sie mag einem Steine in den Weg legen, aber das Ergebnis kann und muss sich in konkreten Einzelentscheidungen ausweisen, will es die Aufmerksamkeit anderer Leser beanspruchen. Diese Einzelentscheidungen über Textgestalt und -fortgang können in der gleichen Weise geschmacklich glücken oder scheitern, wie bei einem, der beim leeren Blatt beginnt. Die Funktion der Materialsammlung übernimmt in letzterem Fall eingestandener- oder uneingestandenermaßen die Lektüreerfahrung, die Leseerwartung und die Utopie dessen, was ein interessantes Gedicht ist. Den perfekt organischen Text gibt es nicht.
„Der Leser möge erspüren, dass ich hier nicht von mir selbst rede; er wolle lediglich die dienende Hand sehen, die vorhandenes Gut um der Lesenden und der Lernenden willen zusammenfasste.“
Walter Supper
Nie sterben die Väter Was hab ich verloren? Der große Mann tritt ein Aus den Tiefen heraus Setzt sich auf meine Brust Die Sirenen bellen: Der Vater, die Uniform Der Vater auf Reisen Zwischen all den Leibern Der Vater, die Briefe Unter den Stiefeln kleben Doberan und Tschernewens – Täuschend einsame Geräusche Die alle gleich klangen nach Grenzland Der Vater im Rucksack Preußen Streifschuss oder Krähenort Sind Worte aus dem Traum - Strasse, Schritte, Stampfen ein Kaputter Bahnsteig Unterwegsbahnhof Verschmelzen. Jetzt donnern sie: Alles geht schlicht vorbei – Wer ist hier der Fremde? Der Mann der da wartet? Vater, ders locker nimmt: Er wartet auf den Zug Nur der Augenblick zählt Das Bier und die Sonne Raupen graben Schneisen Unter schweren Sohlen ... Der Krieg ist verloren Ein schneereicher Winter Bricht das Land von den Rändern Der Krieg ist verloren Er spielt mit seinen Göttern Die sich nicht halten konnten Doch das war das Spiel Ich lernte von Opa, Entkommen zwecklos Der Krieg ist verloren Aus Jahrtausenden gebraut Das Bergwerk Mensch, klein oder groß Der Krieg ist verloren Dass uns sein Singen bleibt Die Hand an der Brust Ein Denkmal der Streitmacht Gedächtniskrücke Seine Verbrechen und Erfolge Magie Erinnerung Beschwörung Grimmseuche, atemverbogen Gelesen wie ein Alibi Zeichnet unser Denken Das die Dunkelheit wusch – Wir haben immer stumm gesprochen Fahnengeschwärzt Dicht über den Masten Als wollten schadhaft wir Ausdruckslos herausaltern Als ein Unfall des Datums Im Ziehen von Handkarren?
Strenger Cento aus unveränderten jeweils vollständigen Gedichtzeilen (lediglich Interpunktion und Groß- und Kleinschreibung wurde harmonisiert) der Hefte 18-39 der Literaturzeitschrift Risse. (Heftnummer; AutorIn; Texttitel)
23; Daniela Boltres; Familien-Werte // 33; Uwe Kolbe: Vater und Sohn / 37; Arno Reis: Frauentrauben / 37; Jan Decker: Edith und der grosse Mann // 36; Tobias Reußwig: Knebelzyklen / 19; Kerstin Preiwuß: Schon hält er Umgang mit den Spinnen / 23; Daniela Boltres: Der Himmel brennt // 33; Uwe Kolbe: Vater und Sohn / 33; Uwe Kolbe: Vater und Sohn / 29; Ines Baumgartl: Freilandbeat // 33; Uwe Kolbe: Vater und Sohn / 33 Friederike A. Haerter; Damals / 19; Renata Schumann: Schlesien am Meer // 38; Kai Pohl: Zum Abschied … / 39; Friederike Haerter: Wir waren die Letzten / 33; Uwe Kolbe: Vater und Sohn // 33; Friederike A. Haerter: Damals / 38; Kai Pohl: Bis Amazonien brennt / 39; André Hatting: Gänge // 21; Silvio Witt: Berlinfahrt / 22; Sebastian Schönbeck: Unterwegsbahnhof / 30; Odile Endres: Buffalo // schlicht vorbei / 28; Georg Hoprich: Alles geht 37; Uwe Schloen: Notunterkunft / 35; Kurt Scharf; Stillstand // 33; Uwe Kolbe: Vater und Sohn / 30; Uwe Schloen: Tod eines Handelsreisenden / 33; Kai Pohl: Mariannenschnitte (18. Strophe) // 33 Kai Pohl: Mariannenschnitte (6 Strophe) / 33; Kai Pohl: Mariannenschnitte (7 Strophe) / 37; Friederike Haerter: Kastanie // 38; Rümkorf: Werft an die Motoren … / 26;Eberhard Schulze: Schneereicher Winter / 30; Marcus Rohloff: Dorfweg mit Waldrand // 38; Rümkorf: Werft an die Motoren … / 20 Anakreon: Anakreon; mein Lehrer;(Gleim) / 34; Kathrin Pöthke: Fehlbezeichnet // 28; Berthold Brecht: Böses gab es viel / 23; Daniela Boltres: Die Glocken läuten./ 21; Silvio Witt: Berlinfahrt // 38; Rümkorf: Werft an die Motoren … / 38; André Hatting: Verteidigung der Art / 25; Kerstin Preiwuß: Klein oder groß // 38; Rümkorf: Werft an die Motoren … / 37; Dorothee Arndt: Dass ein Singen bleibt / 33; Kai Pohl: Mariannenschnitte // 23; Anna Wolff: Zur Winterszeit / 38; André Hatting Verteidigung der Art / 37; Jan Decker: Edith und der grosse Mann // 38; André Hatting: Verteidigung der Art / 34; Titus Meyer: Novembertage / 22; Sebastian Schönbeck: Im Zug // 38; André Hatting: Verteidigung der Art / 32; Dorothe Arendt: Nachtzug / 28; Georg Hoprich: Schweigen // 38; André Hatting; Verteidigung der Art / 23; Marcus Roloff; Zu Hause hoch zwei / 35; Carlo Ihde: Hiddensee to go Weniger und Wörter und Zu Verwindender Verlust 22; Ronald Richardt: Wörter; 34 Kurt Scharf: Zu verwindender Verlust // 38; Irmgard Senf: Ins Taube Äußeres flieht … / 23; Ines Baumgartl: Brandung III / 32; Dorothee Arndt: Nachtzug / 32; Dorothee Arndt: Nachtzug // 38; André Hatting: Verteidigung der Art (3. Strophe) / 38; André Hatting: Verteidigung der Art (1. Strophe) / 30; Marcus Roloff: Licht an oder / 30; Peter Neumann: Simulation // 33; Roland Uhlen: Verrückte Meerfee du / 18; Hagen Pompe: Nachtatmung / 35; Bertolt Brecht: Lasst eure Träume fahren, dass man mit euch … / 33; Anja Kootz: Gedicht unterm Durchschnitt // 30; Odile Enders Buffalo II /38; André Hatting: Verteidigung der Art (5. Strophe) / 26; Stephan Deglow: Flapp Flapp Flapp / 21; Klavki: Lebendig // 34; Christiane Kiesow: Bilderbuchbigott / 22; Peter Thiers: Schokolade / 20; Marianne Beese: Paris, die Arten sich verloren zu gehen (I) / 31; Dorothea Reinecke: Dich finden // 21; Klavki: Zeitwehen / 18; Sebastian Schönbeck: Wer allein ist / 33; Kai Pohl: Marienschnitte / 33; Bertram Reinecke: Das Sapphische // 34; Titus Meyer: Wort heilt Trieblaut. Traut & Lieb weilt Hort. / 37; Friederike Haerter: Retour / 39; Poetencamp: Was folgt, fehlt / 30; Uwe Schloen: Tod eines Handelsreisenden Willst mich Angst, peur tu veux peur 18; Oskar Pastior: Das periodische System //39; Friederike Haerter: Wir brechen auf / 23; Anna Wolf: Zur Winterszeit / 22; Sebastian Schönbeck: Re1 Augenblick / 34; Kristiane Kiesow: Birderbuchbigott // 23; Carlo Ihde: Angst wohnt hier auch / 18; Hagen Pompe: Nachtatmung /21; Odile Endres: Blütentag / 20; Thomas Pätzold: Doch // 22; Lore Reimer: Alle Welt / 35; Tobias Reußwig, JohannaSailer, Maria Wolff: Insilares Insulin I / 26; Stephan Deglow: Flapp Flapp Flapp / 22; Bertram Reinecke: Nykur // 37; Jan Decker: Edith und der grosse Mann / 28; Kai Pohl: Fuck-You-Shiva / 29; Ines Baumgartl: Der Wald richtet sich ein im Stückwerk des Wohnens / 38; André Hatting: Verteidigung der Art (8. Strophe) // 39; Carola Weider: Waldesrauschen / 38 Kai Pohl, Bis Amazonien brennt / 37 Dietmar Spitzner, Herrendiener // 20 Christa Richter: Niemalsland / 33 Thomas Pätzold: Filmriss Farce / 34 Dorothea Reinecke, Schärfer gelebt / 21; Ann Haller: Momentaufnahme /22; Peter Thiers: Schokolade // 33; Bertram Reinecke: Gleitsichtwochen/ 33; Kai Pohl: Mariannenschnitte (5. Strophe) / 39; Friederike Haerter: Wir waren die letzten / 33; Bertram Reinecke: Was nicht fremd ist, findet befremdlich // 33; Thomas Pätzold: Filmriss Farce / 21 Silvio Witt: Berlinfahrt / 34; Titus Meyer: Wort heilt Trieblaut. Traut & Lieb weilt Hort. / 34; Titus Meyer, Novembertage // 33; Kai Pohl Mariannenschnitte (7. Strophe) / 22; Sebastian Schönbeck: Ferien / 39; Carola Weider: Waldrauschen / 28; Georg Hoprich: Schweigen // 37; Dietmar Spitzner: Herrendiener / 24; Rainer Harloff: Nihilismus / 29; Ines Baumgartl: Auf Landskron mit Joe / 29; Ines Baumgartl: Auf Landskron mit Joe (Anfang …) // 29; Ines Baumgartl: Auf Landskron mit Joe (Fortsetzung des Verses) / 21; Klavki: Atemgier / 37; Dietmar Spitzner: Saunatuch / 32; Kai Pohl: Ein Gedicht schreiben / 37; Dietmar Spitzner: Handtuchhalter // 39; Poetencamp, Was folgt, fehlt / 34; Anja Kapunkt: Windstärken 9
[1] Ein Beispiel für ein montiertes Sonett findet sich hier https://lyrikzeitung.com/2022/03/24/preisgetichte-2/
[2] Kathrin Pöthke: Treiben
[3] Siehe: Text unten!
[4] Christa Richter: Niemalsland / Titus Meyer: Novembertage / Judith Zander: Oder Tau / Ines Baumgartl: Brandung II
[5] Dieser Text entstand weit vor dem Ukrainekrieg. Seit Kriegsbeginn kann man ihn wieder anders lesen. Und nach dessen Ende sicher erneut.
Heute ist der 151. Geburtstag von Christian Morgenstern (der 166. von Sigmund Freud, Erich Frieds 101., Franz Mons 96., von den Todestagen seien genannt: Friedrich von Hausen 832, Johan Ludvig Runeberg 145, Maurice Maeterlinck 73, Helene Weigel 51). Heute ein Gedicht von Konstantin Ames, mit selbsterklärendem Titel.
29 Versionen vs. Eingeschüchtertsein Was uns umbringt, verhärtet uns nicht. Was beliebt ist, wirkt nicht verbaut. Das Meer zieht am Gesicht, Papier drückt drauf. Dass Buchstaben da sind, verschweigt die Tünche. Vampapyri, teils heiter, teils ganztags Kolonie. „Kolonie Erholung“ an der Kirche; warm war um. Warum seh ich hinter der XYZkirche wie ein Raucher aus? Statt Blumen Bastkörbchen aufgehängt, Aufschrift „Flower“ Sagt es durch die Hand von Manu L. Lunovis, auch der Sarg, wenn beleibt, sucht bleibende Insassen. Wringt Eure Kopfkörpertrassen aus, reinrotzige Gicht singt. Eure Sachen behandelt ihr allen Ernstes. Gehts noch flauer? Geht noch weniger Summ. Was uns nicht verhärtet. Was uns nicht verhärtet, baut auf uns. Allen Ernstes. Das Meer verschweigt die Hand. Tünche schnauft. Tünche, ganztags Kolonie, statt Blumen. Aufschrift. Sagt Buchstaben was uns verhärtet, uns teils verbaut. Was uns umringt, erbarmt wie eines Rauchers Warum. Was uns umringt: Bringt euren Sachen Summ. Blume Sucht Bleibende. Sucht. Bleibende. Bleibende Blume. Aufschrift verschweigt Tünche. (Allens Ginsbergernst) Stadtlumen durch die Wand, durch die Wand der Sarg. Hand verschweigt die Tünche, eure Trassen. Y? Kopfkörper wringt, wirkt teils seeig, sagt ihr, arg Drauf. Zkirche war um. Papi Warx: um [Kolon] Stadtblumen auf Straßenpapier statt Papierstraßen Gesicht Z. Z umringt. Zhand x-t aus. In Pipi ein Gebettet sein. Verhaut das Meer. Drückt Buchstaben Warm an euch. Hängt Rauch auf die Hand des Hais. Es gibt keine Tragik der Putzerfische : Uns vs. uns : Manus Handy summt. Was uns umringt, verheddert Körper, Austraßenowner. Stadt, Gespinststadthand Es gibt Tragetaschen am Raucherbuchstaben
Heute vor 110 Jahren wurde Heinrich Ernst Knolle geboren, der sich als Dichter Peter Jokostra nannte.
Peter Jokostra
(* 5. Mai 1912 in Dresden-Trachau; † 21. Januar 2007 in Berlin)
EIN GEDICHT ... Aber mir verschafft dieser alte Kohl keine organischen Sensationen mehr ... Ich liebe: John Dos Passos, den Feuerspritzenkomplex, den Gigelgagel und die gelben Querstreifen auf dem Fell des Okapis. Ich hasse: die Neunmalklugen, die Besserwisser, die Beckmesser, die kommen werden, um zu sagen: John Dos Passos ist ein Anarchist, der Feuerspritzenkomplex ist eine psychoanalytische Chiffre, den Gigelgagel gibt es nicht, das Okapi wurde 1901 entdeckt. Ich hasse: die Neunmalklugen, die Besserwisser, die Beckmesser, die kommen werden, um zu sagen: das - ist kein Gedicht. Denn ich liebe alles, was sie hassen.
Aus: Peter Jokostra, An der besonnten Mauer. Gedichte. Berlin: Neues Leben, 1958, S. 59
Grigór Narekazí
(Gregor von Narek, auch Grigor von Narek oder Grigor Narekatsi; armenisch Գրիգոր Նարեկացի; * 951; † 1003)
Schau auf das Bild des trüben Jammers, erbarmend, und auf die Verderbnis, die ich vor Dir ausbreite, Herr, tritt zu mir heran als Arzt, nicht als Richter, der zur Verfolgung den Aufruf erließ. Wahrlich, groß ist der bohrende Zweifel, das schmerzliche Schwanken, wenn der Leib der Gewalt der Sünde verfallen ist, wenn die Seele auf schändliche Bahnen geraten ist, wenn die Sinne dem Walten der Laster verhaftet sind, wenn die Masse mit tödlichen Leidenschaften vermengt ist, wenn das Herzensgefühl vom Dorn des Verstandes verletzt ist, wenn die Hoffnung auf Freundlichkeit gänzlich geschwunden ist, wenn Vernunft mich der Schar der Tiere zuzählt und Schimpf und Schande zu meinem Dasein gehört, wenn dem Äußern nach heil ich bin, doch wund im Innern und ewig mutlos beim strengen Vermerk der Vergehen, wenn mein früheres Tun mich fortwährend ängstigt und peinigt und die Reinheit des innigen Flehens für immer getrübt ist und erneut das Gewissen in heftigen Aufruhr versetzt ist, wenn die Hand an den Pflug ich lege und sehe zurück, wenn die Blicke nach vorne gehen und rückwärts die Füße, wenn ich, die Wahrheit kennend, mich ständig betrüge, mit Gedanken mich schlage, jedoch den Sieg nicht erringe, wenn der Kehle beim Aufstöhnen Feuer entfährt und am Gaumen der Speichel vertrocknet, wenn mich überall sonnenverhüllender Nebel umschließt, wenn für Hoffnungen sich der Raum auf immer einengt und unerträgliche Qual sich den Sinnen einprägt und der Jammer über Verlorenes sich bei mir einstellt und der Richtspruch über mein Denken im Buch vermerkt ist, wenn des Wohltäters Auge zornig herniederblickt, wenn das Licht aus dem All den irdenen Stoff in Brand steckt und der Allgegenwärtige auf den Niederen prallt und sein Donnerwort gegen mein aschiges Urteil wütet, der Gerechtigkeit Steinhagel mir den verdienten Tod bringt, wenn die mir geliehene Gabe ich achtlos verlor, das empfangene schätzbare Gut ich als Schund vergrub, wenn das Dunkel der Trägheit die Frucht allen Mühens verdeckt, wenn die gleichsam entzogenen Lichtzeichen ausbleiben werden und, da jede Antwort verwirkt ist, die Zunge schweigt, der abscheuliche Mund vor dem Endgericht verstummt, die erregten Gedanken plötzlich in Stücke zerfallen, bar aller Kraft, um das Nützliche zu erreichen, wenn beim Wägen aus törichtem Grund nicht das Gute erwogen, wenn das Böse mir jeglichen Ausweg verwehrt, wenn voll Asche der Ofen und kalt das Feuerloch ist, wenn im Buch mein Name getilgt ist und statt Segnung Verdammnis dort steht. Wenn einen Krieger ich sehe, hab ich den Tod vor Augen, ist es ein Abgesandter, erwarte ich Härte und Strenge, wenn es ein Schreiber ist, die Schuldeneintreibung, wenn es ein Geistlicher ist, den ernsten Verweis, wenn es ein Apostel ist, das Schütteln des Staubs von den Füßen, ist es ein freundlicher Mann, die mahnende Lehre, ist es ein herrischer Mann, die schmerzliche Kränkung, gilt mir die Probe durch Wasser, verderbe ich, gilt mir die Probe durch Gift, so sterbe ich, sehe ich Reichtum und Besitz, will ich dem Neid entfliehen, sehe ich eine erhobene Hand, dann beuge ich mich, sehe ich eine Schreckgestalt, schon erzittere ich, höre ich nur ein Knackgeräusch, schon erbebe ich, ladet zum Trunk man beim Festmahl mich ein, so schaudert mir, wenn ich vor Deine Größe hintrete, dann fürchte ich mich, und wenn das Verhör im Gange ist, dann schweige ich, und wenn die Prüfung zu Ende ist, bin ich verdammt. Nun kommen die leid- und verderbenbringenden Zweifel, sie folgen einander und häufen sich, sie lauem im tiefsten Innern des Herzens. Unsichtbare Pfeile verletzen es heillos und haften, sind niemals mehr auszureißen, durchbohren die Seele, füllen mit Eiter die stets wieder platzenden Wunden und künden des schrecklichen Todes Gefahren an. Der Eiterherd ist umschlossen, eisern, mein heimliches Wissen vergrößert die Angst, es schmerzt mich die nicht umsorgte Wunde beim Atmen, und aus der Beklemmung entsteigt mein Jammergeschrei, Tränen mischen sich in die Trauer der Seele.
Deutsch von Annemarie Bostroem. Aus: Die Berge beweinen die Nacht meines Leides. Klassische armenische Dichtung. Berlin: Rütten & Loening, 1983, S. 20-23. Ich habe dem Gedicht hier Anfang und Ende genommen.
Wikipedia sagt: „Gregor von Narek (auch Grigor von Narek oder Grigor Narekatsi; armenisch Գրիգոր Նարեկացի; * 951; † 1003) war ein armenischer Mönch, Mystiker und Schriftsteller aus dem Königreich Vaspurakan. Papst Franziskus erhob Gregor von Narek bei den Feiern zum Gedenken an den Völkermord an den Armeniern am 12. April 2015 zum 36. Kirchenlehrer der römisch-katholischen Kirche.“
Jack Spicer
(30. Januar 1925 Los Angeles – 17. August 1965 San Francisco)
15 falsche Lehrsätze wider Gott VI. Fallen. Das Wort fällt Als wär’ es ungesagt Morgen weiß ich nicht mehr Was ich heute Abend sagte (Um die reale Welt zu beschreiben. Selbst in einem Gedicht Vergisst man die reale Welt.) Wirre Köpfe verwirrter Leute. Wie die Bäume die Williams sah. Fallen Die Wörter fallen Wie Blätter von einem wuscheligen Baum Morgen weiß ich nicht mehr Ich (allein in der realen Welt mit ihren Wirrköpfen, die mir zunicken) Weiß Nicht mehr.
Deutsch von Stefan Ripplinger, aus: Jack Spicer, 15 falsche Lehrsätze wider Gott und andere serial poems. roughbooks 057, Berlin und Schupfart, April 2022, S. 9
Fifteen False Propositions Against God VI. Drop. The word drops As if it were not spoken I can’t remember tomorrow What I said tonight (To describe the real world. Even in a poem One forgets the real world.) Fuzzy heads of fuzzy people. Like the trees Williams saw. Drop The words drop Like leaves from a fuzzy tree I can’t remember tomorrow I (alone in the real world with their fuzzy heads nodding at me) Can’t Remember.
Ebd. S. 8
L&Poe Journal #02 Essay
Essay von Bertram Reinecke (Dritte Folge)
Verskollaboration organisieren – Einzelfälle
Arbeite ich mit Zeilen lebender DichterInnen[1], reagieren diese manchmal mit Freude, manchmal mit Neugier oft aber auch mit Verunsicherung. Sie fürchten mitunter, ich versuchte mit dem Einbezug ihrer Dichtung, die Beliebigkeit ihrer Lyrik zu erweisen. Es hilft ein Blick in die Werkstatt. Ich habe ja mit sehr vielfältigem Material gearbeitet, angefangen bei der Lutherbibel über barocke und romantische Quellen bis hin zu Dichtern der klassischen Modernen oder der Gegenwart. Überall war ich in der Lage, zu mehr oder minder flüssigen Ergebnissen zu kommen. Meine Arbeiten zeigten von diesem Standpunkt aus betrachtet also die Beliebigkeit jeglicher Dichtung: Was soll das dann noch bedeuten? (Und: U. D. Bauer wiese dann mit ihren Montagen, etwa dem Roman o. T., nach, dass zumindest die realistische Prosa ebenso beliebig sei?) Nein, es ist anders: Die Behauptung des Erweises von Beliebigkeit bewertet einerseits den in einer Sprachform mitgegebenen Gehalt nicht genau und unterschätzt andererseits die künstlerische Arbeit, die in den entstandenen einzelnen Details der neuen Texte steckt.
Um zu zeigen, wie unscharf der Vorwurf der Beliebigkeit oft arbeitet, werfen wir zunächst einen Blick auf Lichtensteins Text Dämmerung[2]:
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.
Beinahe ebenso plausibel ließe sich die erste Strophe so anordnen:
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Oder so:
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Nimmt man die restlichen Strophen hinzu, ergäben sich noch mehr Möglichkeiten, umso mehr, als der Reim die plausiblen Kombinationen hier künstlich einschränkt. Setzte allein die dichterische Phantasie Grenzen, könnte man auch zu solchen Paarungen kommen: „Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich, / Auf lange Krücken schief herabgebückt“. Usw.
Man könnte solche Vertauschbarkeit mit gutem Recht „Beliebigkeit“ nennen. Es zeigt sich aber noch etwas anderes: Wenn die beiden neuen ersten Strophen nur fast so plausibel sind wie das Original, liegt das vor allem an einer einzigen Zeile „Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.“ Diese fällt aus dem Zeilenstil, es wird ein Bild über die Versgrenze gezogen und nicht alles kommt als Vorglied gleich gut in Frage. Man könnte also sagen: Zeilenstil ist der Anfang der Beliebigkeit.
Wer jedoch wie ich aus vollständigen Zeilen montiert, wird dazu neigen, gezielt solche Stellen aufzusuchen, die solche unvollständigen Bilder liefern. Denn da darf er sich noch fragen, was ist so, als wäre die Schminke ausgegangen?
Oder, um vom konstruierten Modellfall zur Praxis überzugehen:[3] „Wo die Heuballen gedreht werden“ (Sebastian Schönbeck) – Wo geschieht das? Vielleicht: „ Trieben zwei Schwäne[4] / In den Lücken der Schrift [5]/ Wo die Heuballen gedreht werden / Wo Marianne den Faden kappt“[6]? Oder geschieht an diesem Ort doch etwas anderes? „In den Lücken der Schrift / Wo die Sonne badet träge Fliegen[7] / Hat die Zeit ihren Platz …“[8]
„Das baltische Weiß“ – Was ist das, was macht es, aber auch „Ich muss mich mäßigen“ (Peter Thiers): Warum? Während „Der Wind hat sich in einem Baum gefangen“ kaum Fragen hinterlässt. Die eigene poetische Bewegung findet wenig Angriffsfläche. Man könnte das Bild lediglich stehlen. Wer hier den Begriff „Beliebigkeit“ anwendet, kommt also zu widersprechenden Ergebnissen: Gerade die Zeilen, die im Originalkontext sich als die „beliebigsten“ erweisen, werden zu denen, die sich gegen eine rekontextualisierende Umarbeitung am meisten sperren.[9] Naturgemäß: Je länger eine Zeile ist, desto mehr stemmt sie sich gegen Kontextwechsel: Hätte Friederike Haerter weniger Zeilenbrüche, fände ich in der Quelle die Zeile: „vergeblich das baltische weiß“ oder auch „die hand vergeblich das baltische weiß“ vor, letzteres zwar eine Zeile, die in mir sofort das Gefühl auslöst, man müsste etwas damit machen, aber im Text leinenwurf im seetang konnte nur die Zeile in ihrer originalen Kürze Verwendung finden:
dort ein umschlingen
verfehlendes brandungsspritzen
unendlich sich verzweigendes
tentakelt durch die luft
das baltische weiß
an der außenhaut salz
über grauen schiffen
fliehen die vögel[10]
Mit anderen Worten: Das Schreiben in kurzen Zeilen wird man kaum als per se beliebiger bezeichnen, als das Schreiben in längeren?[11]
Der um seine originale Vorzeile verlängerte Haerter-Vers ergäbe zwar mit der folgenden Zeile von in leinenwurf einen vielleicht sogar deutlicheren Sinn, wäre aber schon schwächer: Ich bemühte mich in meinem Text, vor allem zu beschreiben und nicht zu deuten, das „verfehlendes“ ist deswegen schon teuer um des starken Bildes willen erkauft – ich bin froh, hier auf den zusätzlichen sehr topologischen Begriff „Vergeblichkeit“ verzichten zu können. Entwendbar wurde eine so glückliche Findung wie „verfehlendes Brandungsspritzen“ die ja auch schon ein rundes, vollständiges Bild liefert, für mich erst, insofern ich diese Zeile mit „unendlich sich verzweigendes“ in eine weitere recht ungeläufige poetische Aussage über Brandung wenden konnte . In der Textquelle von Odile Endres verzweigen sich neuronale Netze.
Ich komme hier nicht grundlos von Hölzchen auf Stöckchen, das ist schon ein Merkmal der Arbeit an solchen Montagen. Einerseits die überreiche Vielzahl der kombinatorischen Einfälle und Findungen, andererseits: Nicht nur inhaltlich müssen die Zeilen passen – das ist oft gar kein Problem, denn inhaltlich lässt sich, wie sich zeigte, ein Bruchstück aus einem entlegenen Kontext leicht zum Bestandteil eines sprachlichen Bildes oder einer absoluten Metapher umdeuten. Passgenauigkeit muss vor allem von der Grammatik her, und – was oft unterschätzt wird – auch von der Reihenfolge der syntaktischen Glieder her erreicht werden. Oft bleibt etwas offen, was mit einer dritten Zeile erst eingefangen werden kann, die wiederum bestimmte Kontexte erzwingt usw. Man arbeitet so stärker als bei anderen Gedichten an sich verzweigenden Versionen desselben Textes und weiter Überblick ist gefragt.
Und es ist beim Arbeiten auch genau diese Reihenfolge der Schwierigkeit bei der Beurteilung einer Zeile. Die inhaltliche Passgenauigkeit überblickt man oft sofort, die grammatische Kongruenz kann man zu sehen üben. Die Arbeit an der Syntax ist auch bei mir voller Fehlversuche, denn grammatisch und inhaltlich stimmige Zeilen üben oft bereits eine Suggestion aus, die ungenaue syntaktische Stimmigkeit oder gar Fragen der Sprachebene etc. leicht vertuscht. (Genau die Suggestion, durch die Christiane Bohnerts Brechtdeutung auf halber Strecke stecken blieb.)
Wie blockiert die Syntax einer Zeile nun Anschlüsse bzw. legt andere vice versa nahe? „komme von meinen Qualen ich frei“ (Anakreon): Hier präjudiziert das späte „ich“ den Kontext. Will man diese Zeile in einem Kontext weniger hohen Tones verbauen, müsste man entweder in der Vorzeile zu allem anderen auch ein „durch“ haben, oder eine „wenn-dann“-Relation im Folgenden aufbauen.
„Da sie aufsteigen bleib ich leeres“[12] Etwas, das aufsteigt und etwas, das leer bleibt, eigentlich sehr schön, sich poetisch darüber Gedanken zu machen. Dennoch war die Zeile nicht verwendbar. Entweder sie fordert einen sehr gehobenen Sprachfluss: „da“ statt „wenn“ oder „weil“ aber auch der Verzicht auf Artikel: Einige Dichter scheinen zu glauben, man gewönne Verdichtung, wenn man auf kleine „entbehrliche“ Wörter verzichtet. Es geschieht aber noch anderes. Das artikellose Substantiv rutscht von dem konkreten Einzelding hin zur Typisierung. Setzen wir etwas ein: „… bleib ich ein leeres / Gefäß …“, würde ein Ich in Bezug zu etwa einer Schüssel oder Vase setzen. „… bleib ich leeres / Gefäß …“ tendiert dazu, eher abstrakte Gefäßhaftigkeit in den Blick zu rücken, was das auch sein mag. Vor dem gehobenen „da“ wäre die Zeile noch durch Eingriff in die Interpunktion zu retten, indem man den zweiten Teil zum Fragesatz umdeutet: „… / da sie aufsteigen. Bleib ich leeres“ „Du sagst: Sie sind leicht / da sie aufsteigen. Bleib ich leeres / Gefäß wie sie …?“ Das Pathos des fehlenden Artikels wird man nicht los. Im Original von Marcus Roloff klingt die Zeile so:
schimmern die fluggeräusche der singschwäne
(schwäne) (gesang) und jetzt
da sie aufsteigen bleib ich leeres
spektrum …
Ebenso bei der Zeile „durch Angstträume; ich vertraue“[13] : Man könnte ja das Semikolon weglassen, es ist ja ein interessanter Gedanke, dass man entweder durch Angstträume hindurchgegangen, dennoch vertraut, oder gar, dass man wegen der Angstträume vertraut. Verwendbar würde die Zeile aber erst in einem Kontext, in dem man durch Parallelismen das eigentlich zu späte Verb motiviert („Durch den Weg kommt das Ziel / durch das Träumen erlern ich das Gehen / durch Angstträume ich vertraue …“), oder indem man von vornherein ein sehr inversionsreiches Umfeld baute, das die Umstellung rechtfertigt. Dies bliebe in einem nicht in klassischer Metrik gebundenen Umfeld wohl unmotiviert artifiziell.
[1] Dem jeweiligen Korpus entnehme ich, wenn ich auf diese strenge Weise arbeite, jeweils ganze Zeilen und sortiere sie neu zu anderen unveränderten Zeilen dieser Quelle. Dabei wurden lediglich die Orthografie und Zeichensetzung den Gepflogenheiten des jeweils entstehenden Textes angepasst, sonst aber keine Eingriffe vorgenommen. Weitere Spielregeln: Einem einzelnen Gedicht dürfen allenfalls wenige Zeilen entnommen werden, soweit sie im neu entstehenden Text in verändertem Kontext auftauchen. (Jede Zeile ist nun umgeben von anderen Zeilen als in der Vorlage.)
Aufgrund des Umstandes, dass die Leute misstrauisch nachfragen, insofern man den Montagecharakter den Texten manchmal wenig anmerkt: In den Wortbestand einer Zeile wurde an KEINER Stelle eingegriffen. (Insbesondere gibt es auch KEINE Anpassungen der Wörter wegen Genus, Kasus, Deklinantion, Präpositionen usw.)
[2] Einerseits ist es didaktisch heikel, einen vertrauten Text als Exempel zu nutzen. Die Vertrautheit mit dem Text sperrt sich besonders gegen das hier angewandte Demonstrationsverfahren der Umbauprobe. Andererseits dürfte die Relektüre eines bereits bekannten Textes unter verändertem Fokus aber auch am deutlichsten meinen eigenen Blickwinkel herausarbeiten.
[3] Ich argumentiere hier über meine Werkstatt anhand einer Folge von eigenen Arbeiten, für die ich einen Quellkorpus von 4500 Verszeilen sichtete. Entnommen den Nummern 18-39 der Zeitschrift Risse, näher spreche ich über die Texte „leinenwurf im seetang“ und „Familienwerte“. Hier ohne nähere Quellenangaben zitierte Zeilen fand ich in diesem Korpus vor. Ich lege diese Arbeit zu Grunde, weil sie als eine Art Nagelprobe meiner Arbeitsweise verstanden werden kann. Einerseits ist das Korpus für meine Verhältnisse vergleichsweise klein, überdies besonders heterogen: Neben Dichtungen der jeweiligen Gegenwart der letzten 2 Jahrzehnte von verschiedenster Stilhöhe (Alltagsgedichte finden sich ebenso, wie strenge, hohe Verse oder Palindrome) sind in diesem Korpus auch alte Texte überliefert (im Rahmen von Rubriken wie Wiedergelesen oder in Rezensionen.) Der Text Familienwerte findet sich am Ende der letzten Folge des Essays als vollständiges Einzelbeispiel mit Register.
[4] Dorothee Arndt: Nachzug
[5] Klavki: Zeitwehen
[6] Kai Pohl: Marienschnitte
[7] Georg Hoprich: Spätfrühling
[8] Hagen Pompe: Zeitschläge
[9]Es steht unserem Belieben vielleicht so viel anheim, dass man keinen Text dem Vorwurf der Beliebigkeit ganz entziehen kann.
[10] Carola Weider: Waldrauschen / Tobias Reußwig, Johanna Sailer, Maria Wolf: Insuläres Insulin / Odile Endres: Buffalo / Friederike Haerter: Besichtigung // Friederike Haerter: Retour / 23; Ines Baumgartl: Brandung III / Dorothea Reinecke: Flaute / Kai Pohl: Zum Abschied …
[11] Freilich neigen einige AnfängerInnen dazu, einzelne Worte isoliert zu setzen, um die Strahlkraft oder Bedeutsamkeit einer einzelnen Fügung zu erhöhen.
[12]Marcus Roloff: Licht an oder
[13] Marianne Beese: Paris, die Arten sich verloren zu gehen
Wird fortgesetzt.
Die Romantiker waren nicht romantisch. Novalis studierte an der Bergakademie in Freiberg, er wurde Salinenassessor in Weißenfels und war an der Erschließung der Braunkohle in der Gegend von Profen und an der geognostischen Vermessung der Gegend zwischen Zeitz, Köstritz, Gera, Ronneburg und Meuselwitz beteiligt. Zur Feier seines 250. Geburtstages heute das Bergwerkslied aus dem Roman „Heinrich von Ofterdingen“.
Novalis
(* 2. Mai 1772 auf Schloss Oberwiederstedt; † 25. März 1801 in Weißenfels)
Der ist der Herr der Erde, Wer ihre Tiefen mißt, Und jeglicher Beschwerde In ihrem Schooß vergißt. Wer ihrer Felsenglieder Geheimen Bau versteht, Und unverdrossen nieder Zu ihrer Werkstatt geht. Er ist mit ihr verbündet, Und inniglich vertraut, Und wird von ihr entzündet, Als wär' sie seine Braut. Er sieht ihr alle Tage Mit neuer Liebe zu, Und scheut nicht Fleiß und Plage, Sie läßt ihm keine Ruh. Die mächtigen Geschichten Der längst verfloßnen Zeit, Ist sie ihm zu berichten Mit Freundlichkeit bereit. Der Vorwelt heilge Lüfte Umwehn sein Angesicht, Und in die Nacht der Klüfte Strahlt ihm ein ewges Licht. Er trifft auf allen Wegen Ein wohlbekanntes Land, Und gern kommt sie entgegen Den Werken seiner Hand. Ihm folgen die Gewässer Hülfreich den Berg hinauf; Und alle Felsenschlösser, Tun ihre Schätz' ihm auf. Er fährt des Goldes Ströme In seines Königs Haus, Und schmückt die Diademe Mit edlen Steinen aus. Zwar reicht er treu dem König Den glückbegabten Arm, Doch fragt er nach ihm wenig Und bleibt mit Freuden arm. Sie mögen sich erwürgen Am Fuß um Gut und Geld, Er bleibt auf den Gebirgen Der frohe Herr der Welt.
Uwe Greßmann
(* 1. Mai 1933 in Berlin; † 30. Oktober 1969 in Berlin)
Ständchen In den Kurven spielen Straßenbahnen Geige. Ach, so mancher denkt da Seiner Freundin oder Träumt von kommenden Dingen. Aber die meisten klagen Und nennen es ohrenbetäubenden Lärm, Oder gehen achtlos daran vorüber. Ganz einfach, weil sie wie so oft Die Feier im Alltag nicht sehen. Der wer die Seitenstraße langgeht, kann ja, Sucht er die Eintrittskarte In der Manteltasche, auch Das Konzert der Fahrzeuge da schon hören, Falls er keine Zeit mehr hat, Die musische Stätte direkt aufzusuchen.
Aus: Uwe Greßmann, Lebenskünstler. Gedichte. Faust. Lebenszeugnisse. Erinnerungen an Greßmann. Leipzig: Reclam, 1982, S. 59
Brief von Ingeborg Weber an Neues Deutschland
VK* Ingeborg Weber
Cainsdorf
Wehrweg 13
16.2. 63
Liebes Neues Deutschland!**
Ich möchte Dir eine kleine Einschätzung über das Gedicht von Uwe Greßmann „Ständchen“ erschienen in der Beilage „Die gebildete Nation“*** vom 2.2.63 geben.
Es gehören schon sehr starke Nerven dazu, das Gekreische der Straßenbahn an den Kurven als Geigenklänge zu bezeichnen. Ich halte mir bei solchem Krach die Ohren zu, denke an die armen Menschen, die an diesen Ecken wohnen und diesem Krach täglich des öfteren ausgesetzt sind, und an die Kinder, die in ihrem Schlaf geweckt werden, und verwünsche das Gekreische. Träumen kann man dabei auch nicht. Ich weiß nicht, was sich der Schriftsteller für Vorstellungen gemacht hat, aber bestimmt nicht solche, die einen Arbeiter bewegen. Wenn das Gekreische der Straßenbahnen Geigenmusik ist, dann frage ich mich, was ist dann die Musik von Johann Strauß, um nur einen Komponisten zu nennen.
Mir ist noch sehr gut die Sendung „Konferenzpause“ im Fernsehen in Erinnerung. Heinz Quermann brachte dort einen sehr schönen Vergleich über ein Gedicht „Der Wurm“. Dieses Ständchen liegt fast auf der gleichen Ebene.
Ich habe mit mehreren schreibenden Arbeitern und anderen Kumpeln unseres Werkes darüber gesprochen, und sie finden dieses Gedicht auch nicht nach ihrem Geschmack. Die Feier im Alltag liegt nicht im Gekreisch der Straßenbahnen in den Kurven, da gibt es viel schönere Dinge.
Mit sozialistischem Gruß!
VK Ingeborg Weber VEB Steinkohlenwerk Martin Hoop Zwickau
Aus: Ebd. S. 171f
*) Volkskorrespondentin
**) Damals zentrale Tageszeitung (Zentralorgan) des Zentralkomitees der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands)
***) Damals Kulturbeilage des Zentralorgans
Nachbemerkung: Anderes Thema, aber: glaube keiner, dass solche Briefe nicht auch im Zentralorgan des deutschen Bildungsbürgertums erschienen sind. Fragen Sie Thomas Kling!
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