Recht auf Verspätung

Kenah Cusanit 

(geboren 1979 in Blankenburg (Harz))

1979

etabliere ein Recht auf Verspätung durch Zuspätkommen.
du hast ein Recht, zu spät zu kommen. dieses Recht ist
angestammt. du stammst ab und du stammst an. du hast
das Recht, 37 Jahre später zu spät auf eine Hochzeit zu
kommen. ist ja nicht deine eigene. du hast das Recht, zu spät
ins Standesamt zu kommen. die Berliner Beamtin wird eine
österreichische Schauspielerin zitieren. du hast das Recht
den Kopf zu schütteln. die ostwestfälische Verwandtschaft
hat das Recht, Photos zu machen. du könntest mal nach
Ostwestfalen fahren und zu spät in Ostwestfalen ankommen.

Aus: Jahrbuch der Lyrik 2017. Hrsg. Christoph Buchwald und Ulrike Almut Sandig. Frankfurt/Main: Schöffling, 2017, S. 70

Contemplate the notion of purposely arriving late to East Westphalia

Briefverkehr

Michael Spyra

Der Briefverkehr

Sie schreibt ihn an, und er fängt an zu lesen,
was sie ihm schreibt und ist kurz abgelenkt,
von dem, was sie ihm schreibt und wie sie denkt.
Das gab es so. Das war einmal gewesen.

Das wäre noch, schreibt sie ihm unverhohlen.
Er lässt die Arbeit liegen, widmet sich
dem Schreiben, antwortet geflissentlich
mit Buchstaben und anderen Symbolen.

Sie schreiben, wie sie es am liebsten täten.
Der Rest des Tages schrumpft auf diesen Kern.
Der Rest der Welt liegt unerreichbar fern.
Dann prahlen sie mit ihren Qualitäten.

Sie kriegen kalte Hände, werden fiebrig,
nervös und fahrig, zeigen sich robust,
doch finden kein Ventil für ihre Lust.
Sie sind besinnungslos erregt und gierig.

Sie sind berauscht von sich und ihrer Sprache,
von ihrem Sex, der durch die Worte strahlt.
Dann haben sie genug, genug geprahlt
aus der ansonsten grauen Alltagsbrache.

Aus: Michael Spyra, Die Berichte des Voyeurs. 100 Liebesgedichte. Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2021, S. 96

alles Mögliche widerspricht sich

Martín Gambarotta 

(* 1968 in Buenos Aires)

Ich sage dass ich sa 
ge dass ich sa
ge dass man an

zwei Orten gleich
zeitig sein kann
aber nicht an zwei
Orte gleichzeitig
zurückkehren

alles Mögliche ist nicht
an seinem Platz
alles Mögliche
widerspricht sich
Digo que di 
go que di
go que se puede

estar en dos lugares
al mismo tiempo
pero no volver
a dos lugares
al mismo tiempo

cada cosa no ocupa
su lugar
cada cosa en estado
de contradicción.

Aus: Martín Gambarotta: Pseudo. Aus dem argentinischen Spanisch von Timo Berger. Berlin: Brueterich Press, 2017, S. 137

Gedichte von Martín Gambarotta auf Lyrikline

Jehuda Amichai (1924 – 2000)

Jehuda Amichai (Geboren am 3. Mai 1924, heute vor 100 Jahren, in Würzburg als Ludwig Pfeuffer. Er entkam, änderte 1946 seinen Namen in יהודה עמיחי, Amichai = hebr. „Mein Volk lebt“, und wurde ein hebräischer Dichter. Gestorben am 22. September 2000 in Jerusalem)

Schade, wir waren so eine gute Erfindung

Man amputierte
deine Schenkel von meinen Hüften.
Was mich angeht,
so waren das alles Chirurgen. Alle.

Sie nahmen uns auseinander,
jeden vom anderen.
Was mich angeht,
so waren das alles Mechaniker. Alle.

Schade. Wir waren so eine gute,
liebenswerte Erfindung. Ein Flugzeug aus Mann und Frau,
Flügel und alles:
Wir hoben sogar ein bisschen ab von der Erde
und flogen ein wenig.

Aus dem Hebräischen von Hans D. Amadé Esperer, aus: Jehuda Amichai, Gedichte. Würzburg: Könighausen & Neumann, 2018, S. 26. Das Gedicht ist aus dem Band Jetzt im Aufruhr. Gedichte 1963-1968. Jerusalem: Schocken, 1969

( עכשיו ברעש, ירושלים: שוקן, 1969 )

A Pity, We Were Such a Good Invention

They amputated
Your thighs off my hips.
As far as I'm concerned
They are all surgeons. All of them.

They dismantled us
Each from the other.
As far as I'm concerned
They are all engineers. All of them.

A pity. We were such a good
And loving invention.
An aeroplane made from a man and wife.
Wings and everything.
We hovered a little above the earth.

We even flew a little.

Englisch von Assia Gutmann, aus: The Poetry of Yehuda Amichai. Edited by Robert Alter. New York: Farrar, Strauss and Giroux, 2017, S. 104

Lesezeichen aus der Buchhandlung Tolaat Sfarim (Bücherwurm) in Tel Aviv

Dantes Socken

Miron Białoszewski 

(* 30. Juni 1922 in Warschau; † 17. Juni 1983 ebenda)

ich öffne die Tür, sie quietscht 
ein Flüstern: „dieser Schrank ist der Eingang zur Hölle"
da seh ich: zwischen den Bügeln
das rote Kleid und die schwarzen Socken
von Dante

Aus dem Polnischen von Dagmara Kraus, aus: Mütze #19, S. 981

otwieram jej drzwi, skrzypią 
i szept: „ta szafa to wejście do piekła"
patrzę: między wieszakami
czerwona suknia i czarne skarpetki
Dantego

Ebd. S. 980

Ihr Himmel aber sagt: Warum?

Heute vor 80 Jahren wurde der jiddische Dichter Jizchak Katzenelson kurz nach der Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Heute ein Auszug, die ersten 3 Strophen aus dem 9. Gesang seines „Großen Gesanges vom ausgerotteten jüdischen Volk“.

Neunter Gesang
DEN HIMMELN


1
So fing das ganze Elend an. Ihr Himmel aber sagt: Warum?
Für was das alles? und für wen? Gott, wer zum Teufel hat daran
'ne Freude, daß man uns beschämt? Womit hab'n wir verdient
Daß wir erniedrigt werden, hier auf dieser großen Erd
Taubstumm ist unser Erdenball geworden, er hat beide Augen ja
Feig zugedrückt. Ihr aber schaut es euch brutal gemütlich an
Das blutge Schauspiel aus der Himmelsloge von da oben, doch
Es hat euch offenbar das Innerste nach Außen nie verkehrt

2
Nicht mal den Wolkenschleier nahm sich euer Himmelsblau
Das billige. Gesuhlt hat sich die falsche Sonne in dem Rot
Stumpfgrausam wie ein Henker hat der Sonnenball
Im Blutrausch sich herumgekugelt um die Erde rum
Frau Luna, sündig wie 'ne alte Hure auf dem Strich
So ging sie Nacht für Nacht auf Tour, so tief verroht
Die Sterne lachten dreckig so wie eh und je auf uns herab
Sie blinzelten mit blödem Mauseblick und blieben stumm

3
Haut ab! euch Himmel schau ich nicht mehr an, für mich
Seid ihr gestorben, falsch und herzlos wie ihr seid
Ihr Himmel seid so abgestumpft, so elend niedrig da
In eurer kalten Höhe, satt hab ich euch, gründlich satt
Und hatte mal an euch geglaubt, euch anvertraut
Mein Lächeln, meine Tränen, all mein Herzeleid
Ihr seid nicht besser als die Erde, die hier unten sich
In einen großen Haufen Dreck verwandelt hat

Deutsch von Wolf Biermann, aus: Jizchak Katzenelson, Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk. Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk. Wolf Biermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994, S. 97

Ebd. S. 96
ט. צו די הימלען

אַזוי האָט זיך עס אָנגעהויבן, באַלד
אין אָנהויב ... הימלען, זאָגט פאַרוואָס? אָ, זאָגט פאַרווען?
פאַרוואָס אָ, קומט עס אונדז אַזוי
פאַרשעמט צו ווערן אויף דער גרויסער ערד?
די ערד טויב־שטום, האָט ווי פאַרמאַכט די אויגן...
איר הימלען אָבער, איר האָט דאָך געזען,
איר האָט זיך צוגעקוקט פון אין דער הויך,
פון אויבן, און ניט איבער זיך געקערט!

ניט פאַרוואָלקנט האָט זיך אייער ביליקע די בלוי
און האָט ווי שטענדיק פאַלש געשעמערירט,
די זון אין רויטן ווי אַ תלין גרויזאַם האָט
אין שטענדיקן געקוילערט זיך אין קרייז,
די לבנה, ווי אַן אַלטע הור, אָ זינדיקע,
איז אין די נעכט אַרויס אויף איר שפּאַציר,
און שטערן האָבן צוגעוואונקען שמוציק,
געפינקלט מיט די אויגעלעך ווי מייז.

אַוועקט! איך וויל אויף אייך ניט קוקן,
איך וויל ניט זען אייך, ניט וויסן פון אייך מער!
- אָ הימלען פאַלשע, אָ, גענאַרערישע,
נידעריקע הימלען אין דער הויך, אַך, ווי מיר פאַרדריסט
איך האָב אַמאָל געגלויבט אייך, פאַרטרויט מיין פרייד,
מיין אומעט אייך, מיין שמייכל און מיין טרער,
איר זענט ניט בעסער פון דער מיאוסער דער ערד,
דער גרויסער הויפן מיסט!

Doch Araber sah ich nicht!!

Er begann als freizügiger Liebesdichter und wurde berühmt. Später wandte er sich der politischen Lyrik zu und kritisierte „die Rückständigkeit und politische Unfähigkeit der Araber“ (Weidner). Er starb in London. Fundamentalisten verhinderten Gebete für ihn in einer Londoner Moschee. 4 Abschnitte aus dem Gedicht „Wann verkünden sie den Tod der Araber?“.

Nizar Qabbani 

(* 21. März 1923 in Damaskus; † 30. April 1998 in London; arabisch نزار قباني, DMG Nizār Qabbānī

Wann verkünden sie den Tod der Araber?

3
Ich versuche, eine Stadt aus Liebe zu malen,
Die von aller Herrschergewalt frei ist,
In der nicht die Weiblichkeit geschlachtet
Und der Körper unterdrückt wird!!

13
Seit fünfzig Jahren beobachte ich den Zustand der Araber,
Und was tun sie? Sie donnern, doch sie regnen nicht,
Sie ziehen in Kriege und kommen nicht wieder,
Sie kauen die Häute der Wortkunst wie Mastix, ohne sie
verdauen zu können,
Sie erhalten jeden Morgen Kulturnachrichten,
Aber sie verstehen es nicht, die Buchstaben zu
entwirren... sie lesen nicht.
Ich sehe sie vor mir... sie sitzen auf einem Meer aus Öl,
Aber sie preisen nicht den, der das Öl unter ihnen
hervorbrechen ließ,
Sie danken nicht.
Sie bunkern Milliarden in ihren Bäuchen,
Doch immer noch betteln sie!!

15
Seit ich begonnen habe, Gedichte zu schreiben,
versuche ich,
Die Entfernung zwischen mir
Und meinen arabischen Vorvätern zu ermessen.
Ich sah Heere, wo es keine Heere gab,
Ich sah Eroberungen, wo es gar keine gab,
Ich verfolgte alle Kriege auf dem Fernsehschirm
Und sah alle Gefallenen auf dem Fernsehschirm.
Selbst ein Sieg Gottes käme zu uns
Auf dem Fernsehschirm!!

17
Nach fünfzig Jahren versuche ich aufzuzeichnen,
Was ich gesehen habe.
Ich habe Völker gesehen, die glauben, daß die Geheim-
polizei gottgewollt ist
Wie die Migräne... wie der Schnupfen... und wie die
Krätze.
Ich sah das Arabertum ausgestellt
Auf einer Versteigerung von Antiquitäten,
Doch Araber sah ich nicht!!

Aus dem Arabischen von Stefan Weidner, aus: Die Farbe der Ferne. Moderne arabische Dichtung. Hrsg. u. übers. von Stefan Weidner. München: Beck, 2000, S. 48-51

ich. soll. ruhiger. werden.

Lütfiye Güzel

(* 1972 in Duisburg) 

Drei Gedichte
landschaften

rückwärts
spaziergehen
die möglichkeiten

schon schaukeln
mit zäunen
um die reue
herum
april regen

das heimweh
ist abgenutzt.

Aus: lütfiye güzel: ich. soll. ruhiger. werden. Duisburg/Berlin: go-güzel-publishing, 2023, S. 18, 25, 28

Karl Kraus zum Republikgeburtstag

Karl Kraus 

(* 28. April 1874, heute vor 150 Jahren, in Gitschin, Österreich-Ungarn, heute Jičín, Tschechien; † 12. Juni 1936 in Wien) 

ZUM GEBURTSTAG DER REPUBLIK

Die Republik soll ich zum Geburtstag feiern?
Daß wir sie haben, ihr beteuern?
Sie ist jetzt im Alter von acht Jahren.
Ich kannte Kinder, die begabter waren.
Es bleibt wohl die beste von ihren Gaben:
daß wir keine Monarchie mehr haben.

Aus: Karl Kraus, Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1989 (Schriften, Band 9), S. 570

Fremd

Michel Friedman 

(* 25. Februar 1956 in Paris) 

Ich bin auf einem Friedhof geboren.

Schmerz,
der keinen Anfang kennt,
der kein Ende kennt.
Manchmal leise,
manchmal laut.
Manchmal versteckt er sich.
Launisch ist er,
hungrig ist er,
hinterhältig.
Meine Mutter,
mein Vater,
meine Großmutter:
Über-Lebende.
Trauernde.
Traurige.
Lebenstraurige.

Ich war ihr Lächeln.
Lächelnde Traurigkeit.
Wie bringe ich euch zum Lächeln?
Wie bringe ich euch zum Lachen?
Wie bringe ich euch Glück?
Zum Leben?
Gescheitert.
In der Regel:
gescheitert.
Ein Kind sollte das nicht sollen,
sollte das nicht müssen,
sollte das nicht wollen.
Sollte von seinen Eltern
zum Glück getragen werden.
Ging nicht,
Pech gehabt.
Wie so viele,
deren Elternwelt gerissen,
zerrissen,
gestört,
verstört,
zerstört ist.
Verfolgte,
Geflüchtete,
Arme,
Kranke,
die ihre Kinder vergessen,
die ihre Kinder zum Überleben brauchen,
die vergessen,
dass Kinder noch nicht wissen können,
dass die Traurigkeit eines Lebens
eine Ewigkeit andauern kann.

Aus: Michel Friedman, Fremd. Berlin, München: Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, 2022 (4. Aufl.), S. 9f

Dies ist das letzte Licht der Welt

Ferdinand Hardekopf 

(* 15. Dezember 1876 in Varel; † 26. März 1954 in Zürich)

SPÄT

Der Mittag ist so karg erhellt.
Ein schwarzer See sinkt in sein Grab.
Dies ist das letzte Licht der Welt,
Das bleichste Glimmen, das es gab.

Aus Sümpfen schwankt Gestrüpp und Baum.
Die Birken-Nerven ästeln weh.
Die Zeit erblasst, es krankt der Raum.
Tot steht das Schilf im toten See.

Die Luft strömt grau ins Mündungs-All.
Der Rabe schreit. Der Wald schläft ein.
Mich trennt ein rascher Tränenfall
Vom Ende und der Flammenpein.

Aus: Ferdinand Hardekopf, Privatgedichte. München: Kurt Wolff, 1921 (Bücherei „Der jüngste Tag“ 85), S. 32

Wir machen es neu

Kae Tempest

(Geboren 1985 in London)

Morgen

Ich presse mein Ohr gegens Telefon, zu hören, wie deine Lippen
sich teilen, wieder teilen. Deine Haut ist der kommende Tag,
deine Augen die Glut der letzten Nacht. Du magst es, wenn
ich deinen Mund gegen die Wand drücke. Morgens
strahlt schwindliges Sonnenlicht durch deine Locken.
Deine Wangen, rot vom Stöhnen, und die Dusche
prasselt runter, sagt, Leben ist handeln im Heute.
Es ist alles schon mal getan. Wir machen es neu

Deutsch von Rike Scheffler, aus: Kae Tempest: Divisible by Itself and One. Teilbar durch sich selbst und eins. Gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2023, S., 103

Morning

I press my ear against the phone to hear your lips
part and re-part. Your skin is the coming day,
your eyes last night's embers. You like it when
I stop your mouth against the wall. Morning
blasts of giddy sunlight through your curling hair.
Your cheeks flushed with moaning and the shower
slamming down, saying life's a chance to do.
It's all been done before. We make it new

Ebd. S. 102

Die zeit drängt

Heute vor 10 Jahren starb der polnische Dichter Tadeusz Różewicz.

(* 9. Oktober 1921 in Radomsko; † 24. April 2014 in Wrocław)

in memoriam Konstanty Puzyna

Zeit für mich
die zeit drängt

was soll ich mitnehmen
ans andere ufer
nichts

so ist das schon
alles
mutter

ja söhnchen
das ist alles

da kommt also nichts mehr

nein da kommt nichts mehr

das wär also das ganze leben gewesen

ja das ganze leben

1989

Deutsch von Henryk Bereska, aus: Poet’s Corner 16. Tadeusz Różewicz. Ausgewählt und übertragen von Henryk Bereska. Berlin: Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße, 1993, S. 17

Pamięci Konstantego Puzyny

Czas na mnie
czas nagli

co ze sobą zabrać
na tamten brzeg
nic

więc to już
wszystko
mamo

tak synku
to już wszystko

a więc to tylko tyle

tylko tyle

więc to jest całe życie

tak całe życie

1989

Ebd. S. 16

Jerome Rothenberg (1931-2024)

Das englische Wort happening hat die Form des Gerundiums, die es im Englischen und zum Beispiel im (vermeintlich primitiven) haitianischen Kreolisch gibt, aber nicht im Französischen oder Deutschen. Etwas geschieht eben während ich das Wort ausspreche. Ich singe gerade. Je suis en train de chanter. I sing – mwen chante. I’m singing – m ap chante. (Kreolisch chante wird wie französisch chanter ausgesprochen). – Happening ist auch eine moderne Kunstform, glauben wir Westler. Aber das Navajowort für Zeremoniell heißt wörtlich übersetzt soviel wie „etwas geschieht gerade“. Der amerikanische Dichter Jerome Rothenberg sammelte die Rituale und Events der Religionen und Völker. Die so entstandenen „Texte“ sind nur Verschriftlichungen von Ereignissen, die aufgeführt oder vielleicht besser ausgeführt werden. Der Ethnopoet Jerome Rothenberg ist vorgestern im Alter von 92 Jahren gestorben. Hier zwei Seiten aus dem Band „Rituale & Events“, der 2019 bei hochroth Berlin erschien (übersetzt von Norbert Lange).

BAUMGEIST-EVENTS

dann sollen jubeln alle Bäume des Waldes vor SEINEM Antlitz

Einer steigt zu dieser Seite hinauf.

Einer steigt auf jener Seite herab.

Einer fährt zwischen die beiden.

Zwei krönen sich mit einem Dritten.

Drei fahren in einen.

Einer bringt verschiedene Farben hervor.

Sechs von ihnen steigen auf der einen Seite hinauf & sechs auf der anderen.

Sechs fahren in zwölf.

Zwölf setzen sich in Bewegung um zweiundzwanzig zu ergeben.

Sechs sind enthalten in zehn.

Zehn sind gebunden in einem.

(Hebräisch)

DIE RUNDE MACHEN

  1. Ein langer Pfahl wird in der Mitte eines Hauses aufgestellt, dessen oberes Ende aus dem Rauchloch ragt. An ihm hängen zwei Doppelquasten & ein Schwimmfloß aus dem Fell eines Seehunds, an dessen Flossen ein Fuchspelz & ein Eisenkessel festgemacht worden sind. Ein viereckiger Rahmen aus Paddeln, geschmückt mit ein paar Holzbildern von bemannten Booten & Walen, hängt auf halber Höhe des Pfahls, so dass der Pfahl zusammen mit dem Rahmen gedreht werden kann. Ein paar Walrossschädel bilden den Mittelpunkt der Handlung.
  2. Das Rad wird gedreht, so schnell wie möglich & dem Lauf der Sonne folgend, von Menschen beiderlei Geschlechts, während einige die Trommel schlagen. Jeder singt eine Melodie, die er sich ausgesucht hat. Zuletzt hören diejenigen, die das Rad gedreht haben, damit auf & die Männer, die noch immer in dieselbe Richtung laufen, schnappen sich die Frauen überall im Haus. Jeder Mann darf in dieser Nacht mit der Frau schlafen, die er gefangen hat.

(Eskimo, Asien)

Aus: Jerome Rothenberg: Rituale & Events. Übertragen von Norbert Lange. hochroth Berlin 2019, S. 14f

300. Geburtstag

Ganz kleiner Beitrag zum 300. Geburtstag des großen Philosophen. Dieses kleine Gedicht des großen Geistes gehörte mal zum Hausschatz deutscher Anthologisten. Es ist aus den Anthologien weitgehend verschwunden.

Immanuel Kant 

(* 22. April 1724 in Königsberg (Preußen); † 12. Februar 1804 ebenda)

Glaube und Tat

Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis;
Was uns zu tun gebührt, des nur sind wir gewiß.
Dem kann kein Mißgeschick, kein Tod die Hoffnung rauben,
Der glaubt, um recht zu tun, recht tut, um froh zu glauben.

Aus: Der ewige Brunnen. Ein Volksbuch deutscher Dichtung. Gesammelt und herausgegeben von Ludwig Reiners. München: C.H. Beck, 1955, S. 879

Ich habe meine KI-Assistentin gebeten, die Essenz dieses Gedichts zu illustrieren. Sie hat das Gedicht ins Englische übersetzt, daraus eine Zusammenfassung gezogen und diese illustriert.

Faith and Deed

What comes after life is veiled in deep darkness;
What we are duty-bound to do, that alone we know.
No misfortune, no death can steal away the hope,
Of one who believes in doing right, does right to believe joyfully.

(Based on the summary: Philosophical and contemplative illustration
reflecting the theme of faith, deed, and hope.)