Begraben die tote Sprache

Ulrich Koch

VOR DEM KRIEG HATTE DIESES GEDICHT ZWEI EINWOHNER

Vor dem Krieg hatte dieses Gedicht zwei Einwohner.
Jetzt sind es drei.
Der Rest ist in die Wälder geflohen,
schläft in der Hocke und ernährt sich von den Parasiten
in den Kothaufen der Fluchttiere.
Wir duschen uns täglich im spärlichen Sonnenlicht,
das wässrig durch die zugewachsenen Kronen fällt.
Mit ausgeschlagenen Zähnen, Streichhölzern und Spinnfäden 
stellen wir steinzeitliche Äxte her, 
mit denen wir auf die Jagd nach langsamen Tieren gehen werden, 
sobald wir paarweise unter einem Laubblatt schlafen können,
und mit dem Gesicht nach unten begraben wir die Toten,
ihr Lächeln erinnert uns zu sehr an Kettenspuren.
Langsam trocknen die Blutspritzer in unseren Gesichtern.
Dein Haar sieht aus wie ein Fleischwolf.
Und erst die Schwarzmeerflotte Deiner Fingernägel.
Aber endlich treibe ich mein Promotionsvorhaben voran:
Warum nur hat bislang niemand vorher 
über die Kirchenfensterornamentik 
von Spinnennetzen geschrieben, ohne auf ihre bildliche Ähnlichkeit 
mit vergeblichen Fertilisierungstechniken 
in klaren Winternächten zurückzugreifen? 
Jetzt, spüren wir, ist unsere Zeit gekommen,
und wenn sie vorbei ist,
kehren wir ins verlassene Gedicht zurück, 
begraben die tote Sprache 
und führen einen Feiertag ein, 
unserem nackten Überleben zum Gedenken:
Eine Frau und ein Mann werden zu Freiwilligen gewählt, 
die Jüngste und der Älteste, sie 
trägt eine Ledermanschette an der Hand, 
weil sie den ganzen Tag mit der Etikettiermaschine 
Preisschilder auf Obst und Gemüse klebt. 
Er hat seine glücklichsten Tage
im Hospiz verbracht.
Mit Tassen aus hauchdünnem Porzellan 
schlagen sie einen hypnotischen Takt,
zu dem ein gemischter Chor aus einem Erdloch heraus 
für die Vögel singt,
damit sie wiederfinden ins Gedicht.

(Dieses Gedicht fand ich in einem sozialen Netzwerk und habe es mir vom Autor auserbeten)

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